Kapitel 1
Ihre Haut war Porzellan. Das war das erste, was mir an ihr auffiel. Ebenmäßiges, weißes Porzellan ohne auch nur den Hauch einer Unebenheit. Sie wirkte fast schon zerbrechlich. Solange sie den Mund hielt, jedenfalls. Das zweite, was mir auffiel, war ihre absolut schlechte Laune.
„Du verfickter Dreckskerl! Wozu hast du verdammt nochmal diese zwei Guckdinger da in deinem Gesicht, wenn du sie nicht verwendest? Kannst du mir mal erklären, was das bitte sein sollte? Wieso lebst du deinen Night-Rider-Fetisch nicht auf irgendeinem verlassenen Parkplatz aus, zum Teufel! So ein Auto ist keine verkackte Bowlingkugel, die kleine rotznäsige Kinder mit voller Wucht gegen die Abgrenzung der Bowlingbahn schmettern können! So eine Scheiße!" Sie deutete aggressiv auf Pony, meinen blauen Renault Twingo, welcher verkehrtherum auf der Fahrbahn stand und die Begegnung mit der Leitplanke zumindest rein äußerlich nicht gut verkraftet hatte. „Du hast mich fast umgebracht! Und was zum Henker guckst du überhaupt so doof?"
Ich stand da und guckte doof. Sie redete unheimlich schnell. Die Worte schossen nur so aus ihrem Mund, wie die Salven eines Maschinengewehrs. Es gelang mir kaum, ihr zu folgen, geschweige denn, ihre Aussagen komplett zu begreifen. Wie konnte man nur innerhalb so weniger Sätze so viel fluchen? Ich war beeindruckt.
„Night-Rider-Fetisch?", brachte ich also fassungslos hervor.
„Dieser Weltrettungstyp mit dem sprechenden Auto, das ihn aus allen aussichtslosen Situationen befreit? Nie gehört? Naja, kein Wunder. Wer so eine Omakutsche fährt, hat von coolen Autos wahrscheinlich eh keinen blassen Schimmer!" Ihr schien plötzlich wieder aufzufallen, warum wir eigentlich hier bei gefühlt dreistelligen Temperaturen irgendwo im Nirgendwo auf der Landstraße herumstanden und uns von der unerbittlichen Nachmittagssonne braten ließen, denn sie schüttelte unwirsch den Kopf.
„Jedenfalls ist das echt absolut unter jeder Sau gewesen, was hast du dir nur dabei gedacht? Arschloch!"
Das dritte, was mir an ihr auffiel, war ihre Ungeduld. Denn anstatt meine Antwort abzuwarten, stapfte sie kurzerhand zu Pony und riss seine Seitentür auf.
„Dafür musst du mich jetzt nach Hause bringen. Hat die Karre wenigstens 'ne Klimaanlage?"
Ich war noch immer völlig perplex und musste kurz blinzeln, um mich davon zu überzeugen, dass das hier gerade wirklich passierte, und ich nicht einfach nur beim Zusammenstoß mit der Leitplanke einen auf den Schädel bekommen hatte. Aber sie war immer noch da, auf meinem Beifahrersitz, hatte ihre übergroße Sonnenbrille abgenommen und richtete sich die Frisur, während sie sich in meinem Außenspiegel begutachtete. Ihre hellen Haare waren zu vielen kleinen Zöpfen geflochten, die ihr gemeinsam mit der Porzellanhaut ein fast puppenhaftes Aussehen gaben. Eine Wutpuppe, oder so. Gab es so etwas überhaupt? Die Puppen meiner Sandkastenfreundinnen hatten alle immer ein ewiges Lächeln auf dem Gesicht gehabt, so als ob niemand sie je vom Positiven abbringen könnte.
Ich ging vor Pony in die Hocke und strich besorgt über die zerknautschte Karosserie. Das Nummernschild war komplett verbeult und der rechte Scheinwerfer zersplittert. Irgendwie erinnerte mich Pony in diesem Moment an einen dieser überzüchteten Hunde, die immer so aussehen, als ob ihnen jemand die Nase in den Schädel gedrückt hätte.
Dann öffnete ich die Motorhaube und warf einen Blick in Ponys Vorbau. Ich war nicht ganz sicher, wieso ich das tat, denn genau genommen hatte ich genauso wenig Ahnung von Autos wie von Frauen. Aber irgendwie hatte ich das Bedürfnis, wenigstens so zu wirken, als wüsste ich, worauf ich achten musste, wenn ich sicherstellen wollte, dass Pony fuhr. Ich atmete kurz durch und begutachtete meine zitternden Hände. Mein Herz pumpte noch immer mindestens doppelt so schnell als normalerweise und ich merkte, wie sich mein Adrenalinspiegel wieder senkte. Man fährt ja nicht jeden Tag Porzellanpuppen über den Haufen, die einem vors Auto springen. Schließlich schloss ich die Klappe ganz behutsam wieder und stieg auf der Fahrerseite ins Auto.
„Und?", fragte sie und setzte sich die Sonnenbrille wieder auf die Nase. „Fährt die Kiste noch?"
Was war eigentlich so schwer daran, Pony einfach „Auto" zu nennen?
„Ich denke, ja", antwortete ich zögerlich. Bitte, Pony. Er musste einfach anspringen. Wir waren irgendwo hinter dem Arsch der Welt und ich hatte eine Fremde in meinem Auto, die der Meinung war, ich hätte sie umbringen wollen. Ich war wirklich nicht gläubig, aber in diesem Moment schickte ich ein verzweifeltes Stoßgebet zum Himmel.
Und auf Pony war Verlass. Direkt beim ersten Anlauf sprang der Motor an und das vertraute, beruhigende Brummen versetzte das Innenleben des Autos in leichte Vibration. Ich schaltete die Klimaanlage ein, um wenigstens der stickigen Luft im Auto beizukommen.
„Na, immerhin", meinte sie, als ich auf offener Straße wendete und Pony wieder auf die Fahrbahn Richtung Stadt brachte. Sie hatte ihre Füße mit den rotlackierten Nägeln auf der Armatur abgelegt und die Arme vor der Brust verschränkt. „Schneller als zu Fuß."
Ohne darauf einzugehen, wieso sie hier, mitten in diesem Nichts, auf der Landstraße gelandet war, fing sie direkt wieder an, in ihrem Sprinttempo zu reden.
„Diese bekloppte Sonne macht mich sowieso total wahnsinnig. Kaum ist man draußen, stirbt man förmlich den Hitzetod. Und ständig muss man sich mit Sonnencreme einschmieren, das klebt ja wohl auch mal total widerlich." Sie hielt kurz inne und musterte mich abschätzig. „Auch wenn du jetzt nicht so aussiehst, als ob du damit ein Problem hättest." Wow. Was für ein Sherlock sie doch war. „Naja", fuhr sie unbeirrt fort, „an diesen ganzen Kackveränderungen hat eh nur der fucking Klimawandel Schuld. Irgendwann schmilzt noch die Erde im Ganzen, wie so ein blödes überzuckertes Softeis in der Waffel. Aber dann ist es eh egal. Wen jucken schon Menschen? Deshalb fahre ich zum Beispiel einfach gar kein Auto, das ist ja auch megaschädlich für die Umwelt und so", meinte sie und zündete sich eine Zigarette an.
„Hier drin wird nicht geraucht." Zum ersten Mal an diesem Tag klang meine Stimme so, wie ich sie gerne hätte, selbstbewusst, bestimmt und unbeirrbar. Das schien sogar ihr aufzufallen, denn sie gab einen langgezogenen O-Ton von sich, der eine Mischung aus Spott und Affektiertheit ausdrückte.
„Wenn ich jetzt das Fenster aufmache, wird die Klimaanlage aber zwecklos", argumentierte sie maulend. Noch immer war der Himmel so einfarbig wie eine Leinwand. Eine unbemalte Leinwand. Eine unbemalte Leinwand in blau. Hellblau.
„Dann musst du die Zigarette eben ausmachen", erwiderte ich ruhig und konnte ihr Augenrollen förmlich hören, aber das war mir egal. Pony würde sicher nicht nach kaltem Qualm stinken müssen.
Und tatsächlich drückte sie die Zigarette im Aschenbecher aus und verschränkte die Arme wieder vor der Brust. Ich war mir nicht sicher, ob ich sie wissen lassen wollte, dass das das erste und vermutlich auch letzte Mal gewesen ist, bei dem Ponys Aschenbecher sinngemäß und nicht nur als Aufbewahrungsort für die Einkaufswagencoins verwendet wurde.
„Wo musst du eigentlich hin?", fragte ich, ohne die Fahrbahn aus den Augen zu lassen. Wir näherten uns der Stadtgrenze.
„Dahin, wo du hinmusst, Darling", säuselte sie ironisch und lachte dann. Noch nie hatte ich jemanden so schmutzig und gemein lachen gehört wie sie, das wurde mir in diesem Moment klar.
„Jetzt mal im Ernst. Glaubst du wirklich, ich würde dir einfach so meine Adresse geben? Du hast schon einmal versucht mich zu killen, wer weiß was du vorhast!" In ihrer Theatralik gestikulierte sie wild und hätte mir mehrmals beinahe Eine runtergehauen. Sonderlich geräumig war Pony nicht.
Aber normalerweise war ich ja auch allein mit ihm. Also, in ihm. Ohje, klang das zu komisch? Sie kannte mich ja nicht. Ich seufzte.
Doch anstatt eine der Fragen zu stellen, die sich mir aufdrängten, schwieg ich einfach. Irgendwie verunsicherte mich dieses Wesen neben mir. Ich konnte sie schwer einordnen. Eigentlich gar nicht.
Also steuerte ich Pony durch den dichten Feierabendverkehr und versuchte die gerümpften Blicke der Fußgänger zu ignorieren, die sein Aussehen offensichtlich als nicht mehr straßenfähig einordneten. Wenn die wüssten.
Es ist seltsam, einen Menschen aus Porzellan neben sich sitzen zu haben, von dem man nicht viel mehr weiß, als dass er über ein ausgebautes Repertoire an Schimpfwörtern verfügte. Ich war mir unsicher darüber, wo ich hinfahren sollte. Also steuerte ich einfach Richtung Stadtzentrum und lenkte Pony auf den öffentlichen Brunnen am Marktplatz. Was kam als nächstes? Irgendwie wusste ich nicht, was sie von mir erwartete. Sollte ich irgendetwas tun? Aber sie war doch diejenige, die sich in mein Auto gesetzt hatte, oder nicht? Ich hielt abwartend das Lenkrad fest und sah sie von der Seite an.
„Hier wohnst du also", stellte sie fest und pfiff gekonnt durch die Schneidezähne. Ihre Aussage war so neutral, dass ich beim besten Willen nicht sagen konnte, ob sie sich damit über mich lustig gemacht hatte oder tatsächlich davon ausging, dass ich zu meinem Wohnort gefahren war. Aber zu meiner Überraschung öffnete sie einfach die Tür und machte Anstalten, auszusteigen.
Ich wollte schon erleichtert aufatmen, da drehte sie sich noch einmal zu mir um und drückte mir einen kleinen Zettel in die Hand: „Entschuldigung ist übrigens angenommen."
Damit verließ sie mein Auto und stolzierte wie selbstverständlich davon. Da, erst in diesem Moment, endlich, schaffte es die Frage über meine Lippen, welche schon die ganze Zeit quasi omnipräsent gewesen war.
„Wie heißt du eigentlich?", schrie ich ihr durch die offene Tür hinterher.
Als Antwort bekam ich noch einmal ihr schmutziges Lachen zu hören. Sie drehte sich um und zeigte mir den Mittelfinger, bevor sie im Gewirr der Fußgänger verschwand.
Auf der linken Seite des Autos lief genau in diesem Moment eine ältere Frau vorbei, die mich mit einem Blick bedachte, aus dem die Vorurteile nur so tropften. Wer weiß, wie das aussah. Ein Porzellanmädchen, dass aus dem Auto eines Typen wie mir floh, damit war ja alles klar. Ich senkte den Blick.
Ihre Schrift war verschmiert und krakelig auf der Rückseite des Kassenbons.
Kleeblatt, 20 Uhr. Du zahlst, Gruß Milia.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro