Entscheidung
Ich lag auf dem Boden inmitten der Zerstörung.
In mein Bett konnte ich mich nicht hinlegen, da sich dort mein Koffer und meine wenigen, vor der Zerstörung geretteten Habseligkeiten befanden. Eigentlich sollte ich anfangen zu packen, doch dies tat ich nicht. Stattdessen lag ich auf dem weichen Teppich und das kaputte Stuhlbein pikste in meine Rippen. Aber das machte mir nichts aus. Warum auch? Immerhin tobte in mir ein kreischender Tornado, der alles mit sich riss, wofür es sich zu leben lohnte.
Ob sich Zara wohl auch so gefühlt hatte?
Schnell schüttelte ich den Kopf.
Nein! Zara hat sich nicht umgebracht! So etwas konnte sie doch nicht uns antun.
Mir nicht antun.
Warum sonst hatte sie sich für den nächsten Morgen mit mir verabredet?
Warum sonst hatte sie mir gesagt, dass sie mich liebt?
Warum sonst hätte sie so gestrahlt?
Warum sonst hätte sie mir ein Versprechen gegeben, das sie sonst nicht hätte halten können?
Es musste ein Unfall gewesen sein. Immerhin war sie durch ihre Vergangenheit so aufgewühlt.
Ich schluckte als ich daran dachte. Eine kleine Zara, welche sich aus dem Auto beugte, eine Mutter, welche sich zu ihr umdrehte, ein Auto, welches von der Straße abkam und sich überschlug. Ein Meer aus Glasscherben und Blut. Das Zischen und Dampfen des demolierten Autos. Und inmitten dieser furchtbaren Zerstörung eine weinende Zara, neben ihrer Mutter und ihrem Vater. Beide gestorben in einer tödlichen Umarmung mit dem Stahl des Autos.
Genauso, wie ich momentan in dieser Zerstörung lag, mein Blick starr auf die Decke gerichtet und meine rechte Hand fest um den Stein der Wünsche geschlungen.
Aber trotzdem gingen mir Amys Worte nicht aus dem Kopf.
Sie hatten keinerlei Ahnung von Zaras Vergangenheit. Einzig und allein wussten sie, dass Zara gestorben war und es vielleicht ihre eigene Entscheidung gewesen war.
Erst jetzt wurde mir bewusst, wie verzweifelt die beiden sein mussten.
Die ganze Zeit über war ich inmitten von Trauer, Selbstmitleid und Hass versunken, ohne dass ich gemerkt hatte, dass es den beiden noch schlimmer als mir ergehen musste. Immerhin hatten sie Zara länger gekannt als ich und wussten noch immer nicht, was damals auf dem Dach passiert war. Geschweige denn von dem Unfall.
Erst konnte ich Amy die letzten Tage nicht verstehen, aber wenn ich jetzt auf die letzten Begegnungen mit Amy zurückblickte, fühlte ich mich wie ein bescheuerter Vollidiot.
Denn Amy war wohl die stärkste Person von uns allem.
Sie hatte mich vor der Zerstörungswut gerettet, wollte meine blutende Hand versorgen, hat mich für die Beerdigung fertig gemacht und war mir gefolgt, um für mich da zu sein. Und dies alles hatte sie gemacht, ohne selbst zusammen zu brechen.
Warum erkannte ich erst jetzt, wie stark, aber gleichzeitig im Inneren gebrochen sie war?
Warum hatte ich nur an mich gedacht?
Warum war ich so egoistisch und dachte nicht daran, dass Amy und Dean unter dieser Unwissenheit litten, genauso wie ich gelitten hatte, bevor ich Zaras Vergangenheit erfahren hatte?
Konnte ich jemals mit gutem Gewissen den beiden in die Augen schauen und sehen, wie sie ihr ganzes Leben unter dieser Unwissenheit leiden würden, im Wissen, das ich ihren Schmerz erträglicher machen könnte?
Dass ich sie davon überzeugen könnte, dass sie keinen Selbstmord begangen hatte?
Aber wenn ich es tat, würden sie sich von mir abwenden, mich für Zaras Tod verantwortlich machen, mich mit ihren enttäuschten und mit Hass erfüllten Blicken töten, bevor sie sich für immer von mir abwenden würden. Und das würde ich nicht überleben, ich wusste es. Ich konnte nicht nach Zara noch Amy und Dean verlieren... Was würde dann noch von mir bleiben?
Würde ich genau der gleiche Junge sein: Max, der Junge aus Florida, der keine Freunde hatte und mit der Essensausteilerin in der Mensa über ihre Katzen sprach? Wäre mein Leben wie früher, so als hätte ich damals, als der Sommer hier in Alabama begann, auf ‚Stopp' gedrückt und würde morgen, wenn ich abgeholt werden würde, wieder auf ‚Play' drücken?
Ich wollte es nicht und konnte auch nicht mein armseliges, früheres Leben leben. Zara hatte mir so viel über das Leben und deren tieferen Sinne gelernt, dass ich niemals wieder zurück in mein altes Leben schlüpfen könnte.
Ich würde alles mit anderen Augen sehen.
Das Lachen der Menschen.
Den Wald und die ganze Natur.
Das Wasser, welches wir tranken und das Essen, welches wir aßen.
Die Blicke die man heimlich oder doch so offensichtlich mit einander tauschte.
Der Verlauf der Sonne, welcher unser Leben widerspiegelte.
Das Balancieren und das Risiko des Fallens.
Und vor allem würde ich in allem den Zauber sehen. Die Magie, die in allem innewohnte, glaubte man nur fest genug daran. Wäre es der Weihnachtsmann, der Osterhase oder die Steine der Wünsche.
Oder die Magie der Freundschaft. Das Gefühl, welches man dabei hatte, wenn man an diese Freundschaft dachte.
Aber wenn ich nun an meine Freundschaft mit Amy und Dean dachte, sah ich sie gebrochen vor mir. Gebrochen, durch mein Schweigen.
Mein Schweigen, welches so viel Last von ihren Schultern nehmen könnte.
Ich war kein guter Freund.
Vielleicht hatte ich deswegen nie Freunde gehabt, weil ich nicht für Freundschaften geeignet war? Ich war für sie zu egoistisch, zu sehr auf mich konzentriert, hatte zu viel Angst vor Streitereien. Und deswegen sollte ich keine Freunde haben.
Aber wenn es schon so war, dann wollte ich Amy und Dean zumindest ein bisschen helfen, bevor ich sie nie wiedersehen würde. Ich würde zumindest die Freundschaft der Beiden zu Zara retten, bevor unsere ganz zusammenbrach.
Dann würde ich gehen, nach Hause. Nach Florida. Mehrere Stunden von Alabama entfernt.
Zwar war ich kein guter Freund, aber zumindest könnte ich Amy und Dean etwas von ihrer Fürsorglichkeit und Freude, die sie mir immer entgegen gebracht hatten, zurückgeben.
Langsam richtete ich mich auf, schob das Stuhlbein weg und zog mich am Bettpfosten hoch. Mit kleinen Schritten ging ich auf meine Zimmertür zu und atmete einmal tief ein, bevor ich sie herunter drückte und beinahe in Amy reinlief, die wohl gerade an meine Tür anklopfen wollte.
„Oh, du bist da, Max!" Unsicher fuhr sie sich durch ihre Haare, während sie mich prüfend ansah: „Du verschanzt dich nun seit zwei Tagen in deinem Zimmer. Dean und ich machen uns wirklich Sorgen..." Ich konnte nichts erwidern, zu sehr war ich von ihrer Freundlichkeit überrollt. Aber sie ließ mir auch keinerlei Gelegenheit etwas zu erwidern, denn sie sprach weiter und ließ mein schlechtes Gewissen somit unbewusst immer weiter wachsen. „Es tut mir leid, was ich letztens in meinem Zimmer gesagt hatte. Ich weiß selbst nicht, was in mich gefahren ist, oh Gott, ich war so bescheuert!"
Sie zog mich in eine verzweifelte Umarmung und schlang Hände um meinen Hals. Ihr Kopf vergrub sie in mein T-Shirt und ihre braunen Haare kitzelten mich. Völlig überrumpelt umarmte ich sie zurück und auf einmal ging es mir ein bisschen besser. Meine Schultern entspannten sich und ich versuchte dieses Gefühl für einen kurzen Moment zu genießen, obwohl ich ganz genau wusste, dass ich es eigentlich nicht verdient hatte.
Wie viel solch eine Umarmung einer Freundin ausmachte.
„Bitte sag doch was, Max. Bitte, ich ertrag diese Anspannung nicht mehr."
Hilflos strich ich über ihre Haare und mir wurde wieder einmal bewusst, wie stark sie doch war. Wie tapfer sie sich geschlagen hatte, aber dennoch an diesem Schmerz gebrochen war. Aber um uns zu helfen, hatte sie es sich nicht anmerken lassen, wobei sie genauso einen Trost gebraucht hätte.
Ich musste es wieder gut machen. Zumindest teilweise, auch wenn ich Amy und Dean damit für immer verlieren könnte. Aber solch einen Freund wie mich hatten die Beiden sowieso nicht verdient. Deswegen flüsterte ich mit brüchiger Stimme in ihre Haare: „Bitte hol Dean. Ich... Ich muss euch etwas sagen. Ich habe einen Fehler begangen und verdiene eine Freundschaft nicht. Ich habe euch und auch Zara nicht verdient, habe es niemals. Bitte hol' Dean, ihr habt es beide verdient die Wahrheit zu erfahren..."
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