Ein Jahr später
Als ich genau vor einem Jahr diese Landstraßen entlang gefahren war, hatte ich mir vorgestellt, wie grauenvoll der kommende Sommer werden würde.
Und dann war es ganz anders gekommen.
Nun, ein Jahr später, war ich es, der vorne am Steuer saß und die Landstraße entlangfuhr, welche mich an mein heiß ersehntes Ziel bringen würde. Ich freute mich so sehr auf die kommenden Wochen.
Es war so unglaublich, was man alles in einem Jahr erleben konnte. Ich hatte die Schule gewechselt, neue Freunde gefunden, meinen Führerschein bestanden.
Wie ich es schon damals geahnt hatte, hatten sich meine Eltern getrennt, aber wahrscheinlich war es das Beste, denn nun schienen sie sich besser denn je zu verstehen. Erstaunlich, wie verzwickt manche Schicksale waren. Dafür hatte ich auch schon den tieferen Sinn gefunden.
Denn der tiefere Sinn von Trennungen war, dass man darüber nachdenken konnte, wie sehr man etwas liebte oder eben nicht liebte. Trennungen ermöglichten einem, klare Gedanken und dann eine Entscheidung zu fassen.
Und diese zwölf Monate, in denen ich meine zwei besten Freunde nicht gesehen hatte, brachten mich dazu, über jede einzelne Sekunde des letzten Sommers nachzudenken. Und je länger man über bestimmte Situationen nachdachte, fragte man sich, warum man so reagiert hatte. Man fing an zu bereuen.
Aber als ich diesen magischen Sommer Revue passieren ließ, konnte ich fast nichts bereuen. Ich bereute, dass ich nicht für Zara da gewesen war und mich mit meinen Freunden gestritten hatte, aber ansonsten bereute ich es nicht.
Es waren noch immer die besten Erinnerungen meines Lebens, auch wenn Zara darin vorkam. Wahrscheinlich waren sie erst wegen ihr so perfekt.
„Freust du dich auf den Sommer?" Moms Stimme durchbrach meine Gedanken und lächelnd nickte ich. Ich hatte mich schon das ganze letzte Jahr auf diesen Moment gefreut.
„Und du bist dir wirklich sicher? Also dass du damit wieder konfrontiert werden willst?" Nun klang sie zögerlich, sie hatte Angst etwas Falsches zu sagen. Damals hatte ich lange Zeit über die Geschehnisse des Sommers geschwiegen, bis ich es dann, ein paar Wochen später, meinen Eltern erzählt hatte. Sie wollten mich zu einem Therapeuten schicken, doch ich wehrte mich dagegen. Immerhin wollte ich nicht über Zara und mich sprechen, nicht über ihre Vergangenheit oder über unsere Geheimnisse. Es waren immer noch meine Erinnerungen, die es auch bleiben sollten.
„Ich bin mir sicher, Mom. Du weißt, wie lange ich mich darauf freue, Amy und Dean wiederzusehen. Und mit Zara werde ich jeden einzelnen Tag konfrontiert..."
Mom nickte nur und dann blieb es den Rest der Fahrt still. Als ich schließlich auf die altbekannte Auffahrt fuhr, wurde ich hibbelig vor Vorfreude. Als ich den Wagen parkte und ausstieg, öffnete sich fast gleichzeitig die Haustür und Amy rannte auf mich zu.
„Max!", schrie sie und fiel mir mit so viel Schwung um den Hals, dass ich beinahe nach hinten umkippte. Lachend erwiderte ich ihre Umarmung und sog ihren Duft in mir ein. Wie sehr sie mir doch gefehlt hatte. „Ich hab dich vermisst, Max. Und Dean dich auch", flüsterte sie mir zu und mit einem Lächeln flüsterte ich zurück: „Und ich habe euch vermisst, Amy."
Als wir uns dann irgendwann voneinander gelöst hatten, stellte ich sie meiner Mom vor und die beiden unterhielten sich noch so lange, bis Delores und Dean kamen. Mit seinem breitesten Lächeln kam Dean auf mich zu und wir schlugen uns zuerst ab, bis wir uns dann auch lachend kurz umarmen. Alle drei hatten sich so gut wie gar nicht verändert, außer dass Dean noch mal gewachsen war und Amys Haare um einiges länger geworden waren.
Schließlich verabschiedete Mom sich von mir und meine beiden besten Freunde trugen meinen Koffer in mein altes Zimmer, während ich noch von Delores aufgehalten wurde. „Es war eine lange Zeit, findest du nicht, Max Schätzchen?"
Ich nickte und ließ meinen Blick über das Anwesen schweifen. Es war noch alles genauso wie früher. Der kleine Turm ragte in die Luft und Blumen blühten in den Beeten, obwohl die Sonne schon wieder vom Himmel auf uns herunter brannte. Auch die Wiese und den Wald konnte ich erkennen.
Oh Gott, wie ich es vermisst hatte.
In diesem einen Jahr war mir aufgefallen, dass wir nie zusammen das Anwesen erkundet hatten. Warum genau, konnte ich mir nicht erklären.
„Ja, es war eine lange Zeit. Ich bin so froh, endlich wieder hier sein zu dürfen."
Delores lächelte mich leicht an und wendete sich dann nach Norden. „Es war eine lange Zeit ohne Zara und es wird auch noch eine lange Zeit bleiben..." Mit diesen Worten verschwand sie in die Eingangshalle und ließ mich draußen zurück. Aber es wunderte mich nicht, denn Delores war Delores, wie Zara nun mal Zara gewesen war. Beide waren auf ihre eigene Art einzigartig und besonders für Delores musste Zaras Tod schlimm sein.
Sie hatte die sieben Jahre mit Zara verbracht. Tag ein Tag aus...
Als ich schließlich die Eingangshalle betrat, fiel mein Blick als erstes auf das Elfenportrait, auf das Zara mich an meinen ersten Tag vor einem Jahr aufmerksam gemacht hatte. Damals sollte ich nicht so laut sein, damit ich die Elfen nicht wecken würde.
Und auch nun lief ich so leise ich konnte die Treppen nach oben. Auch wenn mich jeden Schritt eine weitere Erinnerung überflutete. Ich ließ meine Finger über das Geländer streichen, auf welchem wir vor einem Jahr balanciert waren. Damals hatte sie mir den großen Unterschied zwischen den tieferen Sinnen erklärt und als ich daran dachte, musste ich lächeln.
Und dann stand ich auf einmal vor ihrer Tür.
Die einzige weiße Tür im ganzen Haus.
Übersät mit kleinen Zetteln mit Sprüchen oder Wörtern, welche Zara ausmachten.
Zara ist wie alles und nichts.
Mit einem traurigen Lächeln fuhr ich über den Zettel, der sich schon langsam von dem Holz löste. Dann wandte ich mich ab und lief in mein Zimmer, das mir immer noch so vertraut vorkam, als wäre ich erst gestern hier abgereist.
Amy und Dean saßen auf meinem Bett. Sie hatten auf mich gewartet und ich wusste auch warum.
„Wollen wir anfangen? Wir haben nicht mehr so viel Zeit, bis es dunkel wird."
Ich nickte auf Amys Frage und meinte schnell: „Ich ziehe mich nur schnell um. In fünf Minuten unten in der Eingangshalle?"
Sie waren einverstanden und verließen mein Zimmer.
Fünf Minuten später machten wir uns auf dem Weg über die Wiese in den Wald. Glücklich atmete ich die schwüle Luft ein und dann wieder aus. Und als meine Gedanken zu unserem Vorhaben, welches wir schon seit Wochen geplant haben, schweiften, warf ich einen Blick nach oben. Auch wenn ich nicht wusste, ob Zara überhaupt noch im Norden ihres Lebens stand, oder vielleicht schon im Osten ihres neuen Lebens angekommen war, wusste ich, dass sie genau das gleiche getan hätte.
„Wer als letztes bei der Grotte ist, muss nach den Steinen tauchen!", schrie auf einmal Amy und rannte los. Ich fühlte mich wie an meinem ersten Ausflug zurück versetzt, mit dem einzigen Unterschied, dass ich nun wusste, wovon die Rede war. Lachend rannte ich den beiden hinterher in der Hoffnung, sie noch einzuholen. Doch ich sollte wohl für immer eine Niete in Sport bleiben, da ich schon wieder der letzte war.
„Es ist genauso wie vor einem Jahr", meinte plötzlich Dean und Amy nickte daraufhin traurig. Gedankenverloren blickten wir auf den See herunter. Das Licht brach auf der Wasseroberfläche und brachte es somit zum Leuchten. Es war wie immer magisch und versetzte mir gleichzeitig einen Kloß, als ich daran dachte, dass ich zuletzt mit Zara hier war.
Auf einmal spürte ich Hände auf meinen Rücken und im nächsten Moment umhüllte mich auch schon das klare Wasser. Man könnte meinen, dass ich aus der Vergangenheit gelernt hatte, aber anscheinend war dies nicht der Fall.
„Hey!", prustete ich, als ich endlich mit meinem Kopf wieder die Wasseroberfläche durchbrach. Als Antwort bekam ich nur Gelächter, dann sprangen sie Hand in Hand neben mir ins Wasser und grinsend schüttelte ich den Kopf. Als auch sie endlich wieder aufgetaucht waren und aufgehört hatten, sich gegenseitig unter Wasser zu ziehen, schwammen wir zum Eingang der Grotte.
Wie von selbst fand ich den Weg durch das Loch und schließlich auf den kleinen Felsvorsprung, auf welchem wir damals immer gelegen hatten. Wir schalteten die Taschenlampen an, die immer noch hier versteckt waren und legten uns dann dicht an dicht auf den Felsvorsprung.
„Findet ihr es nicht auch komisch, dass wir hier ohne Zara liegen?", fragte auf einmal Amy.
„Ja", antwortete ich nur und betrachtete die Steine der Wünsche, welche in dem Schein der Taschenlampe funkelten. Es war die Seele des Jungens, welche hier verstreut lag.
„Hier haben wir uns das Versprechen gegeben, dass wir immer für uns da sind, wisst ihr noch?"
Natürlich wussten wir es noch, niemals würde ich diesen Tag vergessen, so wie ich keinen anderen Tag des Sommers vergessen.
„Wollen wir die Steine holen?", fragte ich schließlich. Die anderen stimmten zu und schließlich sprang ich als erstes wieder ins Wasser und tauchte nach den Steinen. Anders als damals hatte ich nicht das Gefühl zu ertrinken.
Nein, es war das Gegenteil. Mit jedem Schwimmzug fühlte ich mich stärker und glücklicher. Und als ich schließlich einen Stein erfasste und mich vom Grottengrund abstieß, fühlte ich mich wie ein Vogel, der blitzschnell nach oben flog.
Ich fühlte mich frei.
Ob Zara dafür auch einen tieferen Sinn gehabt hatte?
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro