Kapitel 2
Endlich einmal, schreibe ich hier auch weiter :D
Eigentlich gibt es auch nicht mehr viel zu sagen, außer viel Spaß beim Lesen (hoffentlich) und hoffentlich stört es niemanden zu sehr, dass ich in diesem Kapitel noch in der Gegenwart bleibe ;)
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Ruckartig wandte ich mich um und sah in ein Paar blauer, verwundert dreinblickender Augen, die mich ansahen, als hätte ich vollkommen den Verstand verloren. Für einen Moment glaubte ich doch tatsächlich einen Geist zu sehen, so unwirklich erschien mir das.
"Entschuldigen Sie... ist alles in Ordnung?" Überrumpelt und ungläubig sah ich in das Gesicht, das nun ehrlich besorgt wirkte. Der Mann, der Gott weiß woher gekommen war, stand direkt vor mir und betrachtete mich mit einem Blick, den ich nicht einschätzen konnte. Doch mir blieb auch keine Zeit mir darüber Gedanken zu machen. Dieser Mann, wer auch immer er sein mochte, besaß tatsächlich die Dreistigkeit mich zu Tode zu erschrecken und dann eine so lächerliche Frage wie "Alles in Ordnung?" zu stellen? War das sein Ernst?
"Ja, zumindest war es das bis jetzt", antwortete ich scharf.
"Habe ich Sie etwa erschreckt?"
Ein wenig fassungslos starrte ich ihn an. Hatte ich mich gerade verhört? "Erschreckt? Das ist wohl leicht untertrieben!" Meine Stimme triefte vor Sarkasmus.
Das unverschämte, verlegene Lächeln das daraufhin in seinem Gesicht erschien, machte mich nur noch wütender. "Das tut mir leid."
"Können Sie mir vielleicht einmal erklären, was das hätte werden sollen!? Machen Sie das immer so bei Fremden?" Schon jetzt erschien mir diese Unterhaltung so vollkommen lächerlich, ich hätte darüber lachen können, wäre ich nicht so verärgert gewesen.
Nun langsam schien ihm die Situation doch merkbar peinlich zu werden. "Äh...nein, natürlich nicht...", stotterte er, "Ich habe Sie hier schon eine Weile stehen sehen...so nahe an den Klippen und ich dachte...na ja ich habe mir Sorgen gemacht äh...Ich habe vorhin gerufen, aber Sie haben es wohl nicht gehört..." Seine Selbstsicherheit schien nun langsam, da er sich bewusst wurde einen Fehler gemacht zu haben, zu schwinden. Verlegen fuhr er sich durch sein unordentliches, braunes Haar.
Erst nach und nach begann ich zu begreifen, was er mir damit sagen wollte, oder ich glaubte das zumindest, und es ließ mich meinen Zorn beinahe sofort vergessen. Ein wenig ungläubig sah ich mein Gegenüber an, fand in seinem Blick jedoch nur Bestätigung für meine Vermutung. "Sie dachten doch nicht etwa, ich würde wirklich...?" Springen!?
Aber es war nicht einmal nötig den Satz noch zu beenden, er verstand sofort. "Um ehrlich zu sein...doch", meinte er zögerlich, den Blick irgendwohin gerichtet nur nicht auf meine Augen. Ganz offensichtlich war er dieser Meinung immer noch, wollte es mir aber nicht so offen zeigen. "Sie wären nicht die Erste."
Das verlieh seinem merkwürdigen Verhalten plötzlich eine gar nicht mehr so aufdringliche und verrückte Wirkung, es sorgte eher dafür, dass mir selbst die Situation jetzt unangenehm war. Wie hätte ich auch wissen können, dass es so ausgesehen hatte, als ich an den Klippen stand?
Na toll... Jetzt war ich die, der diese Sache deutlich peinlich war. Vor allem weil ich nicht wusste, wie ich dieses Missverständnis auch nur einigermaßen glaubwürdig aufklären könnte ohne alles noch schlimmer zu machen als es ohnehin schon war. So etwas wie Hilfe in meiner "schwierigen Situation" konnte ich nun wirklich nicht gebrauchen. "Nein, nein, ich wollte nicht...", brachte ich nur hervor, sah aber schon an dem kurzen Aufflackern von Mitleid in seinen blau-grünen Augen, dass er mir nicht glaubte. "Ich wollte nicht springen, aber wenn Sie mich nochmal so erschrecken, können Sie da ja vielleicht nahhelfen", meinte ich schließlich nüchtern, bereute es aber schon im nächsten Moment.
Sein geknickter Gesichtsausdruck verschaffte mir sofort Gewissensbisse, ich war wohl wirklich ungerecht. Immerhin hatte er mir nur helfen wollen, wenn auch auf eine eher unglückliche Art. "Tut mir leid, das war nicht so gemeint", setzte ich also schnell nach.
Der Fremde schüttelte den Kopf. "Wofür entschuldigen Sie sich? Es war immerhin mein Fehler." Er rang sich ein schwaches Lächeln ab. "Ich hab mich ja noch gar nicht vorgestellt", wechselte er dann schnell das Thema, das jetzt nur noch unangenehmer werden hätte können. "Mein Name ist Noah Stanton."
Erst jetzt hatte ich die Gelegenheit mein Gegenüber richtig zu mustern. Rein äußerlich hätte ich Noah auf vielleicht Anfang dreißig geschätzt. Seine ganze Haltung strahlte Ruhe und Gelassenheit aus und das hellbraune Haar, das ihm in unbändigen Locken etwas in sein eher kantiges Gesicht fiel, verlieh ihm einen Hauch von jugendlichem Charme. Ebenso in starkem Kontrast zu den scharfen Gesichtszügen standen seine blau-grünen Augen, in denen stetig ein undefinierbarerer Glanz lag. Er vereinte in seinem Äußeren so viele Gegensätze, dass es mir schwer fiel davon auf seinen Charakter zu schließen.
Nur kurz zögerte ich ehe ich die Hand, die er mir entgegenstreckte ergriff. Stanton... Wo hatte ich diesen Namen schon einmal gehört? Vermutlich nichts Wichtiges. "Amina Mayfair", erwiderte ich knapp.
Kurz herrschte Schweigen.
"Ich habe Sie hier noch nie gesehen." Es war mehr eine Frage, als eine Feststellung.
"Ich bin nicht sonderlich oft hier", antwortete ich schlicht.
Beinahe automatisch setzten wir uns in Bewegung, gingen weiter die Klippen entlang in Richtung des weißen Anwesens in der Ferne. "Was treibt Sie denn hierher? Es ist nicht gerade schön hier bei diesem Wetter", ich hatte das Gefühl etwas sagen zu müssen, egal was, also wählte ich das Nächstliegende.
Ihm entkam ein leises Lachen. "Ein kleiner Spaziergang durch den Sturm kann manchmal nicht schaden. Sie sind ja auch hier." Noah sah mich überrascht an, so als wäre er erschrocken über seine eigenen Worte. Anscheinend hielt er immer noch an diesem Missverständnis von vorhin fest und konnte nun selbst nicht glauben, was er gerade gesagt hatte. "So war das nicht gemeint." Das Entsetzen über sich selbst in seinem Blick weckte sofort mein Mitleid, auch wenn ich mich dagegen wehren wollte.
Ich lächelte beruhigend. "Sie haben nichts falsches gesagt. Ich habe nur das Haus bewundert und dabei die Zeit vergessen."
"Sie meinen Wiloughby Hall?" Er schien geradezu erstaunt. Der Grund dafür war mir allerdings nicht ganz klar.
Kurz zögerte ich mit meiner Antwort. "Ja. Ein wunderschönes Haus, meinen Sie nicht?"
Die stille Faszination, die dieses Anwesen auf mich ausübte, schien ihm nicht entgangen zu sein, denn er sah mich erst etwas fragend an, ehe er in schallendes Gelächter ausbrach. "Dieser baufällige alte Schuppen gefällt Ihnen?" Wie umwerfend sein Lachen auch war, es versetzte mir einen kleinen Stich. Die Art wie er sich darüber amüsierte, verletzte mich. Auch wenn ich es mir nicht eingestehen wollte, ich war enttäuscht. Mit seiner merkwürdigen undurchschaubaren Art war Noah mir auf unerklärliche Weise sympathisch gewesen und -warum auch immer- ich hatte mir erhofft er würde mich verstehen.
Jetzt zu sehen wie er sich über meine Begeisterung lustig machte, erfüllte mich mit bitterer Enttäuschung. Doch wieso eigentlich? Was hatte ich denn erwartet? Dass dieser Mann mich verstand? Mach dich nicht lächerlich, Amina. Du kennst ihn nicht.
Nein, er war ein völlig Fremder. Wusste der Teufel wieso ich der festen Überzeugung gewesen war, gerade er würde wissen wovon ich sprach. Hatte ich wirklich in diesen wenigen Minuten schon begonnen mir ein so genaues und dennoch so lächerlich verklärtes Bild von ihm zu machen?
"Ja, genau dieser baufällige, alte Schuppen gefällt mir", entgegne ich so voller Sarkasmus, dass sein Lachen sofort erstarb. "Verzeihung...habe ich etwas falsches gesagt?" Wie konnte ein Mensch nur so wenig Feingefühl und Empathie besitzen?
Das Bild des charmanten, etwas unbeholfenen und doch netten und selbstsicheren Mannes verschwand nun vollends. Stattdessen erschien mir ein vollkommen anderes, das wohl gegensätzlicher nicht hätte sein können. Ich sah vor mir einen egozentrischen Mann, der weder ein Gespür für die Gefühle anderer hatte, noch für so banale Dinge wie das Aussehen dieses Hauses. Im Grunde ging er nüchtern durchs Leben, mit einer gewissen Gleichgültigkeit gegenüber seiner Umgebung. Über andere, die nicht diese Ignoranz besaßen, konnte er höchstens Lachen. Und all das tat er mit unglaublich viel Selbstbewusstsein... Vielleicht sogar Arroganz. Alles was in den letzten Minuten passiert war, erschien mir in einem anderen Licht.
Oder urteilte ich zu vorschnell? War ich ungerecht? Ich verstand ihn nicht, und noch weniger meine eigenen wirren Gedanken.
Ich seufzte innerlich. "Nein, Sie haben nichts Falsches gesagt", meinte ich schließlich.
Nun betrachtete er mich eindringlich mit seinen grünen Augen. "Ich habe Sie beleidigt", stellte er fast schon nüchtern fest.
"Ich sollte gehen", entgegnete ich mit einer Bestimmtheit, die mich überraschte. Ohne ein weiteres Wort wandte ich mich ab und ging den Weg zurück, auf dem ich gekommen war. Zwar glaubte ich, noch seine Stimme hinter mir zu hören, doch der Wind trug sie fort von mir, hinaus übers Meer.
"Amina, was tust du denn da schon wieder?" Die Stimme klang sanft, liebevoll und doch war der Tadel daraus kaum zu überhören. Dennoch reagierte ich nicht darauf. Wie gefesselt starrte ich aus dem Fenster, hinaus auf die Stadt, über der schon bald die Sonne untergehen würde.
"Amina?" Erneut keine Antwort meinerseits. Ich konnte seine Gedanken geradezu hören, selbst wenn er sie nicht aussprach. "Dieses Mädchen mit seinem Dickkopf... jedes Mal dasselbe." Doch ich wusste, so sehr ich auch manchmal seine Nerven mit meinen Eigenheiten strapazierte, er war nie wirklich wütend auf mich.
Ohne seine Anwesenheit bewusst wahrzunehmen sah ich weiterhin aus dem Fenster, ließ diesen mittlerweile so gut bekannten Anblick von Paris auf mich wirken.
"Du müsstest doch schon längst fertig sein. Wir kommen zu spät!" Nun klang er schon deutlich nervöser.
"Zu spät...?", fragte ich geistesabwesend, ohne in anzusehen. Ich verstand die Bedeutung seiner Worte nicht, wiederholte sie lediglich automatisch ohne ihren Sinn zu erfassen.
Ihm entkam ein leises Seufzen. "Zu deinem Konzert", entgegnete er vorwurfsvoll. "Hast du das schon vergessen?"
Es war jedes Mal dasselbe, vor jedem einzelnen Konzert. Während ich immer noch gedankenverloren aus dem Fenster sah, wurde Daniel von Minute zu Minute nervöser. Hin und wieder ließ er sich sogar dazu hinreißen in unserer kleinen Wohnung auf und ab zu laufen. Mittlerweile war es zu einem kleinen Ritual geworden, etwas, das wir taten, weil es eben von Anfang an schon so gewesen war, denn eigentlich wussten wir beide: Er war nicht wirklich wütend auf mich und ich würde nicht zu spät kommen. So wie es eben immer war. Und doch spielten wir dieses Spiel jedes Mal, einfach weil es schon Teil unseres Alltags geworden war.
Als wir vor ein paar Jahren zusammengezogen waren, war es noch anders gewesen. Die kleine Wohnung in Paris hatte sich vor jedem meiner Auftritte in ein Schlachtfeld verwandelt, denn meine unnachgiebige Gelassenheit, die stets dazu führte, dass ich mich erst kurz vor dem Konzert dazu abringen konnte mich umzuziehen und zu schminken, trieb ihn regelmäßig zur Weißglut. Es war nur einer der vielen Gründe gewesen, warum wir uns ständig in die Haare bekamen. Genau deshalb schien diese Beziehung auf unerklärliche Weise zu funktionieren: Weil wir so grundverschieden waren. Bald gewöhnte sich Daniel an meine merkwürdigen Angewohnheiten und ich mich an seine, aber dennoch blieben manche dieser Rituale bestehen.
Irgendwann erhob ich mich von meinem Platz am Fenster und wandte mich ihm richtig zu. Wie jedes Mal stand er mit gerunzelter Stirn da, die Arme vor der Brust verschränkt und musterte mich kopfschüttelnd mit seinen blauen Augen. "Willst du das jedes Mal so machen?"
"Was?" Ich legte den Kopf etwas schräg, als würde ich nicht verstehen, was er meinte.
Daniel zog eine Augenbraue hoch. "Als wüsstest du das nicht. Du wartest immer bis zur letzten Minute, irgendwann kommst du wirklich mal zu spät."
Lachend kam ich auf ihn zu, legte die Arme um ihn. "Ach was. Du weißt, das wird nie passieren." Mit einem Finger strich ich ihm sanft über die gerunzelte Stirn. "Du bekommst noch Falten, wenn du mich immer so ansiehst", sagte ich schmunzelnd und entlockte ihm damit ein Lachen. "Irgendwann treibst du mich noch in den Wahnsinn, Amina."
"Hm... ja, das war auch mein Plan", meinte ich grinsend. Er lachte leise.
Es war wie immer. Ich brauchte das, um mich für ein Konzert bereit zu fühlen, um überhaupt nur einen Schritt auf die Bühne setzten zu können. Die Ruhe, das komplette Vergessen, was mir bevorstand. Auch wenn ich es ihm niemals gesagt hätte, wäre Daniel nicht da gewesen, hätte ich es vermutlich nur zu jedem dritten Konzert rechtzeitig geschafft. Doch vermutlich musste ich ihm das gar nicht sagen.
An einem ähnlichen Abend, nur zwei Monate später, erfuhr ich aber, dass es nie wieder so sein würde, dass es niemanden mehr gab, der mich aus meinen Träumereien aufrütteln würde. Obwohl ich mir das in diesem Moment am meisten wünschte... aufgeweckt zu werden aus diesem Traum, der zu einem Alptraum geworden war. Doch es tat niemand.
Normalerweise kehrte ich um einiges ruhiger und klarer von meinen Spaziergängen zurück, doch heute war genau das Gegenteil der Fall. Ich fühlte mich aufgewühlt, unsicher und verwirrt - alles, was ich bis vor wenigen Wochen nie gewesen war. Aber mein Leben war nun einmal nicht mehr wie früher. Ich wusste nicht, warum diese Erinnerungen gerade jetzt so lebendig zurückgekehrt waren, warum die Vergangenheit mich ausgerechnet jetzt damit eingeholt und mich in mein altes Leben zurückgebracht hatte. Doch mit einem Mal schien mir keine Zeit mehr seit diesem gewöhnlichen Abend in der Wohnung in Paris vergangen.
Das schmerzhafteste an diesen Erinnerungen, war jedes Mal wieder das Aufwachen in der Realität, die so vollkommen anders war, als ich es mir erhofft hatte. Es war so verlockend sich in der Vergangenheit zu verlieren, sie noch einmal zu erleben, doch jedes Mal schien ich ein bisschen mehr von mir selbst dort zurückzulassen. Ich lebte im Damals, doch existierte im Jetzt. Ich fragte mich, wann ich aufwachen und feststellen würde, dass ich mich vollends verloren hatte.
"Mein Gott, Amina, warst du etwa da draußen?" Besorgt stürzte meine Mutter auf mich zu, was nur für weitere Verwirrung sorgte. "Du bist ja ganz nass!"
Was? Erst verstand ich nicht, bis mir klar wurde, dass es draußen bereits in Strömen regnete. Ich hatte es nicht einmal bemerkt.
*
Als ich am darauffolgenden Tag das Haus verließ, blieb von den Sturzbächen, die über die Küste gefegt hatten, nur noch ein schwacher Nieselregen. Eine sanfte Brise fuhr durch mein Haar und trug den intensiven Geruch des Meeres zu mir. In den letzten Jahren hatte ich den fast unaufhörlichen Regen hier beinahe vergessen, den der Herbst mit sich brachte, genauso wie die warmen Tage, an denen das Meer in der Sonne glitzerte.
Ich spazierte wieder die Klippen entlang und hielt an einer bestimmten Stelle inne. Wie am Tag zuvor blickte ich zu dem weißen Haus hinauf und für den Bruchteil einer Sekunde meinte ich wieder die kaum hörbare Stimme hinter mir zu vernehmen. Ja, ich erwartete fast schon, dass Noah Stanton hinter mir stehen würde, wenn ich mich umwandte. Natürlich tat er es nicht.
Kopfschüttelnd ging ich weiter, näherte mich Wiloughby Hall Schritt für Schritt.
Als ich sie bemerkte, hätte ich sie fast für einen Geist gehalten. So unwirklich erschien mir die schmale Gestalt, die mit unbeschreiblicher Eleganz an den Klippen entlang balancierte. Scheinbar unglaublich hell hob sie sich gegen die dunkle Umgebung ab. Das dünne weiße Kleid, wallte sanft um die schlanken, blassen Beine des Mädchens. Üppige blonde Locken wippten im Rhythmus ihres Ganges, wurden hin und wieder vom Wind erfasst. Ich blinzelte ein paar Mal um mir sicher zu sein, was ich da sah. Das konnte doch unmöglich sein.
Ich beschleunigte meinen Schritt und lief direkt auf sie zu, fühlte mich noch während ich es tat wie eine Verrückte. Doch ich konnte mir doch unmöglich einbilden dieses Mädchen zu sehen. Oder doch?
Erst als ich direkt vor ihr stand, war ich mir sicher, dass ich mich nicht täuschte. Sie schien mich kaum zu bemerken, während sie sich langsam an die Klippe setzte. Himmel, was tut sie denn da?
Jetzt konnte ich auch die leise Melodie hören, die sie vor sich hin summte. Was tat sie denn da? War sie verrückt? So nahe an den Abgrund der Klippen hätte nicht einmal ich mich gewagt. Dabei schien sie wie in einem Traum gefangen.
Unfähig etwas zu sagen, konnte ich sie lediglich fassungslos anstarren und der leisen Melodie lauschen, die sich mit dem Säuseln des Windes vermischte.
"Wollen Sie etwa zum Haus?" Der Klang der Stimme ließ mich erschrocken zurückweichen. Genauso wie das Mädchen selbst war er hell, klar, fast unwirklich. Sie sah mich immer noch nicht an, hatte ihren Blick direkt aufs Meer gerichtet.
Ich brauchte einen Moment um mich zu fassen. Am liebsten hätte ich ihr eine Predigt gehalten, wie dumm und gefährlich es war, was sie hier tat, dass sie sich in ihrem dünnen Kleid bei dieser Kälte den Tod holen würde, dass sie jederzeit von den Klippen stürzen könnte, wenn sie so unvorsichtig war. Doch nichts davon kam über meine Lippen. Ein fast ersticktes "Ja" war das einzige, was ich zustande brachte.
"Ich hab Sie hier noch nie gesehen", die Worte klangen beinahe vorwurfsvoll und erinnerten mich kurzzeitig an Noah. So etwas ähnliches hatte er doch auch gesagt, oder? "Was wollen Sie hier?"
Darauf wusste ich keine Antwort, zumindest keine, die ich ihr hätte geben können. "Ich wohne hier", antwortete ich schließlich.
Ich deutete ihr Schweigen als Zeichen, dass sie mir nicht glaubte. Was auch immer mich dazu bewegte -vermutlich wurde ich wirklich langsam verrückt- ich setzte mich neben sie an den Rand der Klippen. "Ich war länger nicht hier", erklärte ich. Irgendwie wollte ich zu diesem merkwürdigen Mädchen durchdringen, wie auch immer das möglich war.
Sie schien einen unglaublich kurzen Moment überrascht, selbst wenn sie mich immer noch nicht ansah. Doch diesmal schien ihr Schweigen Zustimmung zu bedeuten... vielleicht auch Gleichgültigkeit. Kurz musterte ich ihr Profil. Ihr Gesicht wirkte jung, hübsch. Ich erkannte eine gerade, kleine Nase, einen zarten Mund, rosige Wangen und große Augen, umrahmt von langen, dunklen Wimpern. Ihr Körper schien genau in dieses Bild zu passen: zierlich und schmal, was von dem Kleid noch betont wurde. Sie ließ ihre Füße langsam über dem Abgrund pendeln.
"Ist dir nicht kalt?", fragte ich vorsichtig. Ich wusste nicht, wie ich mit ihr reden sollte. Wie mit einem Kind? Doch das schien sie nicht zu sein. Nein, ihr Aussehen hatte viel mehr etwas Alterloses. Die zarte Grazie eines jungen Mädchens und doch der verschlossene Ausdruck einer alten Frau. Sie hätte alles sein können zwischen zwölf und dreißig.
"Nein", antwortete sie ruhig.
"Was machst du hier?"
"Sieht man das denn nicht? Ich mache das gerne. Hier an den Klippen sitzen, meine ich."
"Wohnst du hier irgendwo in der Nähe?", fragte ich behutsam. Ich durfte nichts falsch machen und sie verschrecken. Im Grunde wusste ich ja nichts von ihr. Weder wer sie war, noch was sie hier draußen tat. Noch dazu so bekleidet.
Sie machte eine lockere, elegante Geste mit der Hand, doch die Richtung, in die sie zeigte, verwirrte mich ein wenig. Ihre schmalen Finger deuteten exakt auf das weiße Haus an den Klippen. Vielleicht meinte sie ja ein anderes Gebäude ganz in der Nähe? Doch außer Wiloughby Hall war hier nichts außer Klippen und einer weiten freien Fläche. "Wiloughby Hall?", fragte ich also verwirrt.
Das Mädchen nickte. "Ja."
"Aber dort wohnst du doch nicht alleine, oder?" So langsam beschlich mich das Gefühl, dass sie wirklich verrückt sein könnte.
"Nein", wieder nur eine knappe Antwort.
"Solltest du denn nicht dort sein?"
Sie zuckte mit den schmalen Schultern, selbst das wirkte an ihr unglaublich anmutig. "Ich liebe das Haus, aber manchmal kann ich es nicht ausstehen. Es ist so als würde ich dort drinnen ersticken. Dann komme ich immer hierher... auch wenn ich das eigentlich nicht darf." Nur für den Bruchteil einer Sekunde senkte sie schuldbewusst den Blick. Jetzt wusste ich auch, was ich an ihr so erschreckend gefunden hatte. Sie erinnerte mich, an mich selbst. Als ich noch ein Kind gewesen war und so oft einfach von zuhause weggelaufen war, nur um hier an den Klippen entlangzulaufen.
"Weiß denn niemand, dass du hier bist? Es könnte sich jemand Sorgen machen..."
Wieder zuckte sie mit den Schultern, sagte allerdings nichts dazu. Ich musste mir wohl eine andere Strategie überlegen, denn so kam ich keinen Schritt weiter. "Ich heiße übrigens Amina. Amina Mayfair. Und du bist...?"
"Juliette." Nun sah sie mir das aller erste Mal ins Gesicht und ich hielt kurz den Atem an. So war diese merkwürdige Ausstrahlung, die sie verströmte, sogar noch um einiges stärker. Die Intensität ihrer blauen Augen überraschte mich, da sie so vollkommen ihrer zarten Erscheinung widersprach. "Kommen Sie öfter hier raus zu den Klippen?"
Ich nickte. "Ja, fast jeden Tag." Kurz blitzte Interesse in ihren Augen auf.
"Juliette!" Die Stimme durchschnitt das leise Rauschen des Meeres und ich wandte mich erschrocken um. Niemals hätte ich mit dem Mann gerechnet, der jetzt auf uns zu kam. Noah Stanton. "Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du das nicht machen sollst? Komm sofort hierher." Ich hätte niemals gedacht, dass so viel Vorwurf und Spannung in seiner Stimme liegen könnten. Den gelassenen Mann, den ich hier an den Klippen getroffen hatte, erkannte ich darin kaum wieder.
Langsam und immer noch vollkommen ruhig erhob sich Juliette und kam ihm ein paar Schritte entgegen. Er musterte sie streng und schüttelte dann den Kopf. "Wie siehst du überhaupt aus? Es ist eiskalt!" Ohne zu Zögern zog er seine Jacke aus und legte sie um ihre Schultern.
"Mir ist aber nicht kalt", entgegnete sie schlicht.
Noah ging gar nicht erst darauf ein. "Du gehst jetzt sofort zurück zum Haus. Kann man dich denn nicht mal eine Minute aus den Augen lassen, ohne dass du etwas Dummes anstellst?"
"Aber...", das erste Mal zeigte sich schwaches Widerstreben in ihrem sonst so gleichgültigen Auftreten.
Er ließ keine Widerrede zu. "Ich sagte sofort."
Damit wandte sie sich schweigend ab und ging, die viel zu große Jacke um die Schultern, immer noch so anmutig wie zuvor den Weg zurück, auf dem sie gekommen war. Ich sah sie in der Ferne kleiner und kleiner werden.
Kopfschüttelnd blickte Noah ihr nach. Seine Gesichtszüge schienen mir plötzlich unglaublich hart, verschlossen. Noch so etwas, was ich an ihm nicht für möglich gehalten hatte und eine wiederholte Erinnerung daran, dass ich diesen Mann bisher kein bisschen durchschaute. "Was mache ich bloß mit diesem Mädchen...", murmelte er leise, und erst jetzt wurde mir bewusst, dass er mich bisher nicht wahrgenommen hatte.
Er war wohl so auf Juliette konzentriert gewesen, dass ich ihm nicht einmal aufgefallen war. Natürlich hätte ich mich bemerkbar machen können, doch schien es mir irgendwie falsch jetzt seine Gedanken zu stören. Es wäre wie ein Einbruch in einen privaten Moment, der mich absolut nichts anging. Ich fühlte mich zunehmend unbehaglich und erwog, ob ich einfach leise gehen sollte. Noch bevor ich mich entschieden hatte, fühlte ich einen intensiven Blick auf mir ruhen. "Sie?"
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