Memoria
Mit einem stumpfen Seufzer schloss Singlenote ein weiteres Buch. Wieder nichts... Erschöpft schob sie es zur Seite und legte ihren schweren Kopf auf ihren Hufen ab. Wieder ein Seufzer. Ob dieser allerdings dem Frust, oder ihrer Müdigkeit zugrunde lag, war ihr gleich. Was auch immer genau letzte Nacht passiert war, verstand sie nicht, aber sie übte sich ihrer Geduld, auf die richtigen Antworten zu warten und bis dahin wollte sie sich nützlich machen. Alles passierte so plötzlich. Wie aus dem nichts hatten sich die Wege der beiden Stuten erneut gekreuzt, sodass es fast schon erzwungen wirkte. Ich wusste damals, dass du es nicht schaffst. Niemand könnte das. Nur warum habe ich dann trotzdem niemanden etwas gesagt? Selbst Zweifel schwirrten durch ihre Gedanken und durchzogen ihre Konzentration, welch sie mühevoll die Nacht über bewahrt hatte. Und sie hatte Angst. Angst vor ihrer eigenen Entscheidung. Erschaudernd sah sie zu einem nahegelegenen Bücherstapel, auf dem ihre Schwester schlief, das Kissen, welches Singlenote ihr unter den Kopf gelegt hatte, verrutscht und bereits heruntergefallen. Sie wusste, dass es eine schreckliche Idee war, sie nach dem gestrigen Geschehen bei sich zu behalten, jedoch...sie konnte sie auch nicht einfach auf der kalten Straße liegen lassen und weglaufen. Einmal habe ich Dich zurückgelassen, ein zweites Mal bringe ich nicht übers Herz.
Erneut nahm sie das Kissen auf und legte es vorsichtig unter ihren Kopf, bevor sie sich wieder dem Buch zuwandte. „Flüche der Verbannten", ein Buch, dass sie eher selten gebrauchte. In ihm war selbst Wissen verzeichnet, welches von weit hinter den Grenzen des ewigen Königreichs reichte. Es war eines der vielen Bücher, welche die Stute die Nacht über durchblättert hatte. Die Müdigkeit stach ihr in den Augen. Kopfschmerzen breiteten sich aus. Als Singlenote ihren Kaffeebecher aufnahm, war dieser wie ausgetrocknet, leer. „Ach komm schon..." Wage gezielt warf sie ihn in Richtung Mülleimer, entmutigt, als sie ihn abprallen und auf dem Boden allen hörte.
Ein verängstigtes Quieken zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Sie sah zu ihrer Schwester. Stumpfe Bewegungen, gepaart mit Geräuschen, durchbrachen ihre feste Schlafparalyse, wie bei einem aufregenden Traum. Singlenote beobachtete kurz belustigt, wie sie schwach und wirr mit den Hinterhufen strampelte und dadurch fast vom Bücherstapel rollte, bis die lilane Stute ihren Schlaf mit einem stummen Zauberspruch beruhigte. „Ich bin bei dir", hauchte sie sanft, auch wenn sie nicht wusste, ob sie sie überhaupt hören konnte, „Diesmal musst du da nicht allein durch."
Mit einer Decke bewaffnet legte sie sich neben sie und schloss die Augen, worauf sie trotz der hellen Strahlen der ersten Morgensonne einschlief.
Headphones öffnete benebelt die Augen. Ihr Kopf schmerzte und sie sah doppelt, regte ihre steifen, verkaterten Glieder und tat ihr bestes, dabei nicht vor Schmerz aufzustöhnen. Ihr gesamter Körper fühlte sich so an, als hätte sie einen mehrtägigen Dauerlauf ohne Pause hinter direkt sich. Einige Minuten verstrichen, biss sie erneut eine Bewegung wagte, diesmal etwas gezielter. Gerade lag sie im Versuch, ihre Beine unter sich zu ziehen und sich von der Seite auf den Bauch zu drehen, auch wenn sie sich nicht wirklich sicher war, ob sie es schaffte sich hochzuhieven. Augen zu und durch. Das Ziehen in ihren Beinen ignorierend, rollte sie unbeholfen auf ihren Bauch, wobei sie zusammenzuckte, als einer ihrer Flügel einen unbekannten Huf hinter ihr streifte. Verschrecken wirbelte ihr Kopf herum, was ihr Hals ihr mit einem weiteren schmerzhaften Zug dankte, den sie allerdings schnell hinter sich hatte. Zu ihrer Überraschung lag vor ihr ein ruhiges, stilles Gesicht, wie eine altbekannte Memoria, die sich nahtartig durch ihr Leben fädelte und immer wieder hervorstach. Ein mattes Fleckenveilchen zwischen goldenen Ranken, wie Gräser im frühsten Abendlich, einzig gebrochen von einem beinahe noch frischen Streif rot, uns acht von einem weißen Pflaster bedeckt, das nicht ganz über die Wunde reichte.
Verwunderung kam auf.
Headphones hatte ihre Schwester steht's in guter Erinnerung, sowie auch in schlechter, sodass nicht einmal sie selbst sich um ihre Bindung sicher war. Angst regte sich in ihr, um Verletzung, Verrat, oder schlimmeres, wobei auch Geborgenheit und Dankbarkeit sie umwarben. Schließlich hatte sie ihr aus der Klemme geholfen, augenscheinlich nun nicht nur ein einziges Mal. Wusstest Du, was du damit riskiert hast? Headphones war sich ebenfalls über sich selbst unsicher. Ihre letzten Klären Bilder umhüllte dunkler Nebel in einem beinahe schwarzen Leuchten, was danach kam nur noch Schatten, doch die mattgoldene Stute konnte sich ausmalen, was ihren Hüfen zugrunde lag. Sie schluckte und begann leise, kaum hörbar ihre altvertraute Melodie zu summen, nur zur Sicherheit, falls sie wieder ihren Verstand verlieren würde. Darauf biss sie die Lippen zusammen und bäumte sich sachte auf, in Achtung, aufdass sie Singlenote nicht weckte. Ihr Gleichgewicht wankte. Noch immer waren ihre Beine, wie eingeschlafen, teils taub und kribbelten, bis sie aufwachten und der Muskelkater sie zum Zittern brachte. Wieder würde ihr unwohl, weshalb sie es anfangs nicht wagte, sich weiter zu bewegen. Sobald sich dies besserte, taumelte sie voran, auf der Suche nach einem Badezimmer. Wahrscheinlich ist Singlenote nicht sehr darüber erfreut, dass ich in ihrem...ihrer...Wohngelegenheit?- herumschlendere, aber wenn mein Magen wie mein Kopf Polka tanzen will, wird sie es mir noch danken, wenn ich bis dahin eine Toilette auffinden konnte.
Tapsig schritt sie weiter voran und erkundete den unbekannten Ort.
Singlenote fiel erschrocken aus ihrem Traum. Kein Geräusch zog sie heraus und auch kein Alptraum Schlich sich in ihren Kopf. Einzig die Realisierung, dass sie träumte, gepaart mit der Ungewissheit über wie lange sie bereits schlief, zerrten an ihr, bis sie die Augen wieder aufschlug. Der plötzliche Wachriss verdeckte auch ihre Verwunderung über den Lehren Platz neben ihr. Benommen setzte sie auf und gähnte ausgiebig. „Morgen", erklang eine vertraute Stimme hinter ihr. Die lilane Stute wirbelte herum und sah hinab zu vertrautem Gold, noch immer matt und glanzlos, wie es stets ihren Gesichtsausdruck unterstrich. Aus offensichtlichen Gründen saß sie noch immer steif da, teils auch leicht verkrampft, als würden einige ihrer eingeschlafenen Gliedmaßen nicht mehr aufwachen wollen. Eine familiäre Wärme durchströmte sie und Singlenote fühlte, wie ihre Mundwinkel sich noch leicht ermüded nach oben verzogen. „Guten Morgen. Geht es dir etwas besser?" Ihr Lächeln verzog, als sie statt einer freudigen Antwort nur unheimliches Schweigen und einen leblosen Blick zurückbekam und ein verletztes Gefühl überkam sie. Erneut setzte sie an. „S-stimmt etwas...nicht?" Wieder herrschte nur Stille.
„Warum?", hauchte die kleine Stute nach einer Weile. Nun war Singlenote Verdutzt. „Warum was?" Als wäre die Antwort offensichtlich, riss Headphones die Augen auf und trat einen Schritt vor. „Warum...warum hast du mir geholfen?", sie deutete auf das Pflaster auf ihren Nüstern, „Ich kann mir doch denken was passiert ist! Nach all dem Chaos hinter uns ist es ein Wunder, dass sie- ich- wir Dir nicht schon mehr geschadet haben und dann nimmst du die Gefahr in Kauf, dass es wieder passiert, hier, bei dir, während du sogar ungeschützt schläfst!" Ihr Atem wurde ungewöhnlich schnell schwer und sie musste sich erst einmal hinsetzen, um zu verschnaufen, bis ihre Schwester ihr einen Huf auflegte.
„Headphones, hör zu", setzte sie sanft an, „Ich kann mich sehr gut an das erinnern, was passiert ist, was ich gesehen habe, was du mir erzählt hast...einfach alles. Ich glaube Dir, dass dieses Ding gefährlich ist, dass es schaden kann, aber mehr als das glaube ich an dich. Ich habe schon einmal nicht an dich geglaubt", dabei musste sie selbst kurz aufatmen, „damals habe ich wirklich geglaubt, dass du es nicht mehr von dort wegschaffen würdest und...bin gegangen... Damals war ich davon überzeugt, dass du zu schwach bist, um so etwas durchzustehen und sieh dich jetzt an. Ich lag falsch darin, dich zu unterschätzen und...wir wissen beide, das ich Dinge getan und gesagt habe, die nicht richtig waren. Wir waren ja beide kaum mehr als Fohlen. Jetzt sind wir hier, sind wir erwachsen und haben uns verändert. Ich habe so vieles dazugelernt, was ich früher falsch gemacht habe, habe daraus gelernt. Glaubst du nicht, dass ich direkt zur nächsten Stadtwache gerannt wäre, wenn ich dir nicht vertraut hätte, dass du es kontrollieren kannst-" „Aber ich kann es nicht mehr kontrollieren!", schnitt sie sie ab, „ich konnte es nie kontrollieren... Ich wäre erfroren, wäre nicht die Truppe zufälligerweise vorbeigekommen, hätte die Prinzessin mich nicht in ihre Dienste genommen, wäre ich früher oder später auch verendet und was diesen Schatten angeht... Es war nur ein Zauber, der mich beschützt hat... Nichts davon habe ich geschafft und nichts davon hätte ich ohne Hilfe überkommen können." Verzweiflung zeichnete sich in ihren Augen ab, auch wenn Ihr leerer Blick es kaum verriet. Kurz gewandt schloss Singlenote sie beruhigend in ihre Arme. „Und das musst du auch nicht alleine schaffen. Niemand schafft alles auf sich selbst gestellt und jeder braucht irgendwann mal Hilfe, manche halt nur mehr, oder weniger, als andere", sie ließ von ihr ab, um ihr ins Gesicht sehen zu können, „Ich weiß nicht wie, aber ich kann dir helfen. Wir können uns helfen, wenn wir endlich aufhören uns auseinanderzuleben, wenn wir es zumindest versuchen." Hoffnung schimmerte in ihrem Blick. Sie waren sich beide noch unsicher miteinander, nach tausenden an Gut und Schlecht zwischen ihnen, doch sie beide waren bereit, es zu versuchen. Sie waren verschieden und doch einst Seite an Seite freudig miteinander aufgewachsen. Konnte all das wirklich verloren sein? Nein. Das glaubte keiner der beiden im Geringsten. „Headphones, ich weiß, dass wir beide etwas unverzeihliches getan haben. Ich verstehe es", ein trübseliges kichern entglitt ihr," Ich...verstehe, wenn du mir noch immer nicht verzeihen kannst, dass ich dich damals zurückgelassen habe. Wenn Du aber bereit bist, zu versuchen, dennoch mit mir weiterzugehen, dann verspreche ich Dir, es besser zu machen. Und als erstes werden wir versuchen, dich von diesem Geist zu trennen.
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