Erkenntnisse
Es war gerade mal vier Uhr nachmittags, doch Emma fühlte sich nichtsdestotrotz wie gerädert. David saß neben ihr auf dem Bürgersteig. Er wirkte nicht so, als hätte er noch all seine Sinne beisammen. In den fünf Minuten, die seit dem Anruf bei Mary Margaret vergangen waren, war seine Stimmung von einem Hoch ins nächste Tief gesunken. Eben noch war er froh über das bisher Erreichte gewesen, jetzt war er kurz vor einem Zusammenbruch, weil er zur Erkenntnis gekommen war, dass seine Tochter zum Zeitpunkt ihrer Entführung viel jünger als Lilith gewesen war und die Chancen, sie zu finden, entsprechend niedriger lagen.
„Mary Margaret ist bestimmt gleich da", beruhigte Emma den betrunkenen Sheriff, der mit glasigem Blick auf die Straße starrte, so als hoffe er, dort würde sich ein Loch auftun und ihn verschlingen.
„Sie hat sich bestimmt schon Hoffnungen gemacht", murmelte David undeutlich. „Wir hätten sie nicht anrufen sollen."
Ein wenig hilflos zuckte Emma die Achseln. Was sollte sie dazu sagen? Er hatte recht, allerdings sollte ein solcher Fortschritt Mary Margaret nicht verheimlicht werden. Fieberhaft überlegte die Blonde, was sie Ermutigendes sagen konnte, da sah sie endlich das kleine Auto ihrer Vermieterin um die Ecke biegen.
Mary Margaret hielt direkt neben ihnen. Sie stieg aus, dankte Emma schnell und bugsierte ihren Exmann gemeinsam mit der Agentin auf den Rücksitz.
„Sorry", formte Emma tonlos mit dem Mund, was von Mary Margaret einfach abgewinkt wurde.
„Gehen Sie ruhig, wir kommen schon zurecht", sagte die ältere Frau mit einem wackligen Lächeln. Ihre Augenränder waren ein wenig gerötet, so als habe sie geweint. Man konnte es ihr nicht verdenken. Bevor Emma sich aber auf den Weg machen konnte, hielt Mary Margaret sie noch auf. Sie hatte eine Bitte: „Versuchen Sie bitte, Ms Drake alles so genau wie irgend möglich schildern zu lassen." Flehend sah die Frau sie an.
„Ich tue mein Bestes", sagte Emma mit einem aufmunternden Nicken.
Als sie zehn Minuten später zurück auf dem Revier war, händigte sie Maleficent Stift und Papier aus und forderte sie auf, die damaligen Geschehnisse bis auf die winzigste Kleinigkeit zu dokumentieren. Ihren Anweisungen wurde ohne Murren gefolgt. Ms Drake war erstaunlich folgsam, seit sie die Aussicht darauf hatte, ihre Tochter wiederzusehen.
Emma hätte wirklich gerne darüber nachgedacht, wie sich das Wiedersehen mit Lily gestalten würde, aber ihre Gedanken drifteten immer wieder zu einer anderen Person. Regina. In ihr machte sich eine plötzliche Sehnsucht nach ebendieser breit. Es war, als hätte sie auf einmal nicht mehr genug Luft zum Atmen. Sie musste sofort zu Regina! Doch ihr Job zwang sie hierzubleiben. Dass sie nach dem Verhör einfach mit David abgehauen war, war schon unverantwortlich gewesen, aber sie hatten ihre Gründe gehabt. Jetzt zu gehen, während Maleficent einen Bleistift frei zugänglich hatte, wäre schlicht fahrlässig. Auch wenn ein Bleistift eine eher zweifelhafte Waffe darstellte und es mehr als unwahrscheinlich war, dass die Kidnapperin ausgerechnet jetzt einen Selbstmordversuch unternahm.
In Emma rangen Verantwortungsbewusstsein und ihr Verlangen nach Regina miteinander, da fiel ihr Blick auf das altmodische Wählscheiben-Telefon, das auf Davids chaotischem Schreibtisch stand. In der obersten Schreibtischschublade fand sie ein Telefonbuch, das sie sofort nach der Nummer der Bürgermeisterin durchforstete. Sie wurde schnell fündig und gab die Nummer ein. Eine Weile piepte es nur und sie befürchtete schon, Regina würde aus Vorsicht gar nicht mehr abheben.
„Ja? Emma, bist du das?", fragte Regina nahezu ängstlich. Ein Anruf von der Polizei war vermutlich ziemlich erschreckend, wenn man auf der Flucht war.
Emmas Herz machte einen Hüpfer, als sie die Stimme der anderen hörte. „Ja, ich bin's", sagte sie, das wohl breiteste Grinsen auf dem Gesicht, das je seinen Platz dort gefunden hatte. Sie kam sich lächerlich vor, schenkte dem aber keine Beachtung.
„Du hast den Job bekommen", stellte Regina freudig fest. Eine Sekunde lang war Emma verwirrt, dann wurde ihr bewusst, dass sie sich auf die Vorstellungsgespräch-Lüge bezog.
Ein wenig unwohl fühlte sie sich schon dabei, weiter zu schwindeln, aber es war nötig, und das wusste sie. „Ja, genau", sagte Emma mit aufgesetzter Begeisterung, die sich in ihren eigenen Ohren falsch anhörte.
Doch Regina schien nichts aufzufallen. „Das ist großartig. Gibt es irgendeinen... Anlass?", erkundigte sie sich.
Errötend wickelte Emma eine blonde Haarsträhne um ihren Finger, ließ sie los und sah zu, wie sie sich lockte. „Ich... ich habe mich nur gefragt, ob... äh..." Sie geriet ins Stottern. Was zur Hölle war der Grund gewesen, aus dem sie angerufen hatte? Sie konnte sich beim besten Willen nicht mehr erinnern. Alles, was sie wusste, war, dass sie unbedingt Reginas Stimme hatte hören wollen.
Als sie stumm blieb, drang ein amüsiertes Prusten an ihr Ohr. „Naja, ich habe mich gefragt, ob du morgen mit mir zu Mittag essen willst. Magst du Tacos?"
Überrumpelt schüttelte Emma den Kopf, verstand die Frage, nickte. „'Tschuldige. Ich liebe Tacos! Und natürlich will ich mit dir zu Mittag essen!" Das war ein wenig zu heftig gewesen, weshalb sie in verschämtem Schweigen versank. Sie führte sich auf wie ein verliebter Teenager.
Im selben Moment durfte sie sich der gewichtigen Frage stellen: War sie in Regina verliebt? Die Antwort lautete klar und deutlich Ja, und das machte ihr Angst. Schließlich wusste sie kaum etwas über Regina, außer dass sie eine Serienmörderin war, die in Storybrooke geboren und aufgewachsen war und lange in Boston gelebt hatte. Nichts, was eine besonders gute Basis für eine Beziehung darstellte. Mal ganz abgesehen davon, dass es eigentlich Emmas Job war, für Reginas Verhaftung zu sorgen. Das erste Mal drang der Umfang der Situation, in die sie sich da hineinmanövriert hatte, zu Emma durch. Förmlich erschlagen von der Masse an Erkenntnissen, stand die Kautionsagentin bloß da und umklammerte den Telefonhörer mit beiden Händen.
„Wann ist deine Mittagspause?", erkundigte sich Regina. Emmas seltsames Verhalten kommentierte sie glücklicherweise nicht.
Eilig warf die Blonde einen Blick auf die Zeiten, die auf einem Blatt an der Wand notiert waren. „Um halb eins", antwortete sie, darauf bedacht, nicht erneut ins Stottern zu verfallen.
„Ich werde unten an der Straße auf dich warten", versprach Regina. „Wir sehen uns." Damit legte sie auf.
Emma hatte gar nicht bemerkt, wie ihr Herz mit jeder Sekunde, die sie mit Regina gesprochen hatte, schneller geschlagen hatte. Jetzt stand sie mitten im Sheriffbüro und fühlte sich einer Herzattacke nahe.
„Lustig." Beim Klang von Maleficents Stimme zuckte Emma zusammen. Die ältere Frau war immer noch nicht fertig mit dem Schreiben ihres Geständnisses. Gerade fixierte sie jedoch die Agentin mit ihrem Blick. „Ich habe kaum etwas verstanden, aber hätte schwören können, dass das am Telefon niemand anderes als Regina Mills war." Maleficent musterte Emma von Kopf bis Fuß. „Aber noch viel lustiger finde ich, wie Sie auf sie reagieren. Das dürfte den Sheriff interessieren."
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