Dilemma
Mit einem Herzen aus Glas stand Emma nach einem ereignislosen Tag auf der Arbeit vor der Haustür der Bürgermeistervilla. Es war nicht das erste Mal, dass sie auf der penibel sauber gehaltenen Fußmatte des übergroßen Hauses wartete und auf Reginas Schritte horchte. Doch dieses Mal klingelte sie nicht. Ebenso wenig klopfte sie.
Emma stand einfach nur da und starrte die schneeweiße Tür mit der goldenen 108 darauf an. Wie würde es wohl sein, dieser Frau gleich wieder gegenüber zu stehen? Sie würden sich nicht lange sehen. Das hier war kein Date. Heute morgen hatte Emma auf ihrer Windschutzscheibe einen Zettel mit der Nachricht gefunden, dass Henry sie gerne besser kennenlernen wollte, da sie ja seine Mom datete. Das hatte der Kleine gut geplant, so viel hatte sie durchschaut. Und doch war sie hergekommen, denn er hatte die Wahrheit verdient, nicht ihr feiges Versteckspiel.
Aber innerlich zitterte sie. Sie wollte so weit weg von dieser Stadt sein wie nur irgend möglich. Mit ihrer Familie zusammen, aber nicht hier. Ihr Leben lang hatte sie ihre Emotionen unterdrückt, nur Wut hatte sie willkommen geheißen. Bis Neal Cassidy gekommen war. Der hatte sie schwanger sitzengelassen. Das hatte sie Jahre gedauert zu verkraften. Zehn Jahre, um genau zu sein. Und dann war ihr dieser riskante Auftrag zugeteilt worden, der ihr ein zweites Mal die Liebe geschenkt hatte. Allerdings nur auf Leihe, das hatte sie von Beginn an gewusst. Zuerst war es kalte Kalkulation gewesen, ein Verhältnis mit Regina einzugehen, aber es hatte keine Stunde in ihrer Anwesenheit gebraucht, dass sie mehr für diese Frau empfand. Emma hatte Regina näher an sich herangelassen als sie es beabsichtigt hatte – sehr viel näher. Gefährlich nahe. Jetzt war sie auf emotionaler Ebene hochgradig verletzlich.
Aber hatte sie denn überhaupt noch Gefühle für Regina? Nach dem, was sie durch die Fallakte herausgefunden hatte? Nach den Bildern der Opfer, die sie zwischen Psychoanalysen und Gerichtsmitschriften gefunden hatte? Emma wusste es nicht. Sie würde es gleich erfahren.
Dennoch konnte sie sich nicht überwinden zu klingeln. Stattdessen hob sie die Hand, um – wenn auch kraftlos – zu klopfen, da wurde die Tür auch schon aufgerissen.
„Em-ma!"
Die Blonde fühlte sich, als würde der Boden unter ihr nachgeben, als sie in Reginas dunkle Augen sah. „Hi", war alles, was sie zustande brachte. Sie verfluchte sich für den Knoten in ihrem Magen, für ihr heftig pumpendes Herz, für die Wärme, die ihren ganzen Körper durchflutete.
„Komm rein, Henry erwartet dich schon ganz ungeduldig", meinte Regina und legte ihr eine Hand auf die Schulter, als sie sie ins Haus ließ. Von der Stelle, die sie berührt hatte, ging ein elektrisierendes Gefühl aus. Regina half Emma aus ihrer Lederjacke und hängte diese in der Diele auf.
Im Wohnzimmer saß Henry vor Fernseher. Irgendwo hatte Regina offensichtlich Videospielausstattung aufgetrieben, denn der Junge beschäftigte sich mit einem leicht brutal aussehenden Rennspiel. Als sie den Raum betrat, pausierte er das Spiel und sah auf. „Hallo, Emma." In seinem Blick lag eine einzige Frage: Bin ich dein Sohn?
Sie nickte leicht. Belohnt wurde sie mit einem unglaublichen Strahlen, das sich auf seinem Gesicht breitmachte. Er sprang auf und umarmte sie voller Freude. Etwas unbeholfen tätschelte sie ihm den Rücken.
Regina sah sie fragend an, woraufhin Emma scheinbar ahnungslos die Achseln zuckte. Das reichte der Brünetten. „So, ich bin dann gleich weg", verkündete Regina. „In maximal dreieinhalb Stunden bin ich zurück und mache euch ein spätes Abendessen."
„Wo gehst du eigentlich hin?", wollte Emma ehrlich interessiert wissen, während sie sich von Henry zum Sofa führen und sich einen Controller in die Hände drücken ließ.
Verschämt sah Regina in die Flammen des unstet flackernden Kaminfeuers. „Ich bin in Behandlung bei Dr. Hopper."
Das überraschte Emma, gelinde gesagt. Nie hätte sie erwartet, dass die polizeiintern meistgesuchte Serienkillerin der USA von sich aus einen Psychiater aufsuchte. Irgendwo freute sie sich mehr darüber als sie sollte. Das war doch ein gutes Zeichen, oder? Wenn Regina sich Mühe gab- Nein, das war Unsinn. Nur weil sie sich bessern wollte, würde sie nicht der Todesstrafe entkommen. Emma hasste ihren Job von einer auf die andere Sekunde mehr.
„Jetzt doch eine feste Therapie?", hakte Henry nach. Als seine Mom nickte, riss er triumphierend den Arm hoch und erinnerte dabei leicht an Superman.
Emma beschloss, nicht nachzufragen, aus welchen Gründen ihre Freundin in psychologische Behandlung ging. Sie wollte ihr Schicksal nicht zu sehr testen. „Sehe dich später", sagte sie und gab Regina einen kleinen Abschiedskuss über die Sofalehne hinweg. Das Entsetzen und die Angst waren verschwunden. Jetzt war da nur noch Regina.
„Dann zeig mir mal, wie dieses Spiel hier geht", sagte Emma zu Henry, sobald seine Mom in die Diele zurückgekehrt war um sich ihren schwarzen Mantel anzuziehen. Sie vernahm einen Reißverschluss, ein Klappern, wie von einem Schlüsselbund, dann die Haustür.
„Mom? Emma?"
Verwirrt sah sie ihren Sohn an. Es fühlte sich seltsam an, Mom genannt zu werden. Vor allem von Henry, da diese Anrede eigentlich für Regina reserviert war. „Emma ist okay", meinte sie, als sie sein nachdenkliches Gesichtchen sah. Offensichtlich fand er auch, dass Mom nicht wirklich zu ihr passen mochte.
Henry nickte erfreut. Die nächste halbe Stunde spielten sie gegeneinander das Rennspiel mit einigen Bots.
Das hier wäre die Gelegenheit, das wusste sie. Wenn sie noch vollkommen loyal der Polizei gegenüber wäre, müsste sie jetzt David anrufen, damit er die nächste Polizeistelle informierte. Dann würden Henry und Emma abgeholt werden und Regina nie wieder sehen. Das kam nicht infrage.
Und so tat sie einfach so, als gäbe es keine Außenwelt. Sie unterhielt sich mit ihrem Sohn, fragte ihn nach seiner Kindheit, der Schule und nicht zuletzt nach der Zeit, in der er bei seiner Tante hatte wohnen müssen. Sie kam zur Einsicht, dass Henrys Leben nicht automatisch schrecklich gewesen war, nur weil Regina ihn adoptiert hatte. Natürlich hatte es ein paar miese Zeiträume gegeben, aber alles in allem hatte sich Regina anscheinend aufopfernd um ihn gekümmert.
Doch während Emma Henry zuhörte und gleichzeitig ihr Auto durch ein paar Serpentinen manövrierte, hallte in ihren Gedanken die ganze Zeit ein Geräusch wider, das sie nicht wirklich zuordnen konnte. Es hatte sie alarmiert. Warum, vermochte sie nicht zu sagen. Just als sie ihr virtuelles Auto in vollstem Karacho gegen die Leitplanke fuhr, traf sie die Erkenntnis. Sie hatte einen Reißverschluss gehört. Reginas Mantel hatte keinen Reißverschluss. Emmas Lederjacke aber schon. Jegliches Gefühl verließ ihre Finger. Der Controller fiel ihr aus den Händen. Panisch sprang Emma auf und rannte zu ihrer Jacke im Flur. Ihre Befürchtung erwies sich als korrekt.
Regina hatte ihren Schlüsselbund gestohlen.
„Henry", sagte sie mit schneidender Stimme, um das Schluchzen zu kaschieren, das sich seinen Weg ihre Kehle hinauf bahnte. „Ich hab jetzt keine Zeit, das zu erklären, aber will Regina immer noch Mary Margaret umbringen?"
Ein Klappern aus dem Wohnzimmer. Er hatte seinen Controller anscheinend auch fallengelassen. Schneller als sie es ihm zugetraut hätte stand er neben ihr und sah sie verstört an.
„Sie hat meinen Wohnungsschlüssel mitgehen lassen", erklärte Emma knapp und zeigte ihm die leere Jackentasche. „Gibt es noch irgendeinen anderen Grund, aus dem sie bei Mary vorbeischauen könnte?"
Er schüttelte den Kopf. „Ich verstehe das nicht..." Die Enttäuschung war ihm ins Gesicht geschrieben. Es tat ihr leid für ihn, er hatte so viele Hoffnungen in seine Mutter gesetzt.
Emma hatte dieses Dilemma nicht kommen sehen. Sie konnte jetzt entweder mit ihrem Sohn flüchten und sich in Sicherheit wissen, denn offensichtlich war Regina, was ihre Genesung anging, nicht so weit, wie sie sie beide hatte glauben lassen. Oder Emma sprintete jetzt zu ihrer Mutter nach Hause und rettete diese. Wenn es nicht schon zu spät war. Regina war vor über einer halben Stunde losgefahren. Es konnte wer weiß was passiert sein. Und wenn Emma dann auftauchte, sah es kritisch für sie aus. Denn wie sollte sie erklären, dass sie so misstrauisch gewesen war? Und was, wenn Regina Stalker-Tendenzen hatte und ihr Zimmer betrat? Auf ihrem Nachttisch lag immer noch die Fallakte!
„Henry, was soll ich nur tun?", fragte sie ihn. Aber im Endeffekt wusste sie, dass nur sie selbst diese Entscheidung fällen konnte.
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