Zwei
"Hör mal, Aiden, das entspricht überhaupt nicht unseren Abmachungen!", keifte mir eine hohe Mädchenstimme ins Ohr.
"Em", stöhnte ein Junge. "Jetzt mach mal halblang. Wir haben auch nichts gesagt, als du deinen Typen, Benno...? Benni...?, zu uns nach Hause eingeladen hast, ohne zu fragen."
Das Mädchen, Em, wie ich vermutete, schnappte nach Luft. "Das war", giftete sie. "etwas völlig anderes."
"Ich sehe das genauso wie Aiden, chill mal, ja?", schaltete sich ein Dritter ein.
Ich starrte unterdessen einfach stumm aus dem Fenster und versuchte, meine Flucht zu realisieren. Wir hatten mit einem verdächtig hohen Tempo die kleine Straße vor der Weinfabrik hinter uns gelassen und befanden uns jetzt mitten im Zentrum der Stadt. Mit glasigen Augen nahm ich das Geschehen, das sich mir draußen bot, in mich auf.
Obwohl es mindestens drei Uhr nachts sein musste, war noch extrem viel los. Die schrillen Farben der Stadt spiegelten sich in den riesigen Scheiben der Hochhäuser wieder, die sich dem sternenklaren Himmel entgegen streckten und mit ihm verschmolzen. Motorräder knatterten an uns vorbei, etliche Taxifahrer hupten ununterbrochen, um ihre Gäste noch rechtzeitig zum Flughafen zu bringen, und riesige Werbeleinwände warfen ihre flackernden Schatten über die Straßen.
Rotes Ampellicht flutete den PKW, welches jäh zu grün wechselte und unser Fahrer startete den Wagen erneut.
Meinen Kopf hatte ich müde an die Autoscheibe gelehnt, der Motor vibrierte leicht durch meinen Schädel. Vielleicht waren es aber auch meine wummernden Kopfschmerzen.
Worauf hatte ich mich bei dieser Wette eigentlich eingelassen?
Es war so verdammt knapp gewesen.
Wenn der Polizist mich erwischt hätte, hätte er mich nach Hause gebracht um mit meinen Eltern zu reden. Meinen Eltern. Bei dem Gedanken an sie zuckte mein Augenlid verräterisch und meine Lippen verzogen sich zu einem verächtlichen, gequälten Ausdruck.
Ich wäre sicher ins Heim gesteckt worden, oder in eine Pflegefamilie. Mir wurde schlecht bei dem Gedanken, ich kniff den Mund noch etwas mehr zusammen und öffnete das Autofenster unauffällig ein Stück. Der kühle Wind zischte durch den Spalt und fuhr mir leicht durchs Gesicht.
Augenblick schien es, als hätte jemand den Lautstärkeregler aufgedreht, das Qietschen der Reifen und das grollen der Motoren erfüllte den ganzen Wagen.
Die Drei, die sich mit mir in diesem Wagen befanden, verstummten endlich und beendeten ihren Streit, dem ich schon lange nicht mehr zugehört hatte. Ich merkte, dass ich angestarrt wurde und löste meinen Blick von dem Autofenster.
Das Mädchen auf dem Sitz neben mir musterte mich genau. Ich starrte zurück. Sie hatte braune, dichte Haare, die von blutroten und schwarzen Strähnen durchzogen waren. An ihrer Nase steckte ein Piercing. Sie war ziemlich hübsch, obwohl ich mich so sicher nie auf die Straße getraut hätte.
"Na, willst du nicht auch mal was sagen?", feuerte sie.
Ich schluckte. Wow, sie konnte mich ja wirklich gar nicht leiden.
"Danke.", brachte ich raus. Ihre Augenbrauen schossen nach oben.
"Ich hätte eine Kriminelle nicht mitgenommen, bedank dich bei dem da.", sie deutete auf den Sitz des Fahrers.
Bei dem Wort Kriminelle hätte ich beinahe laut durch die Nase geschnaubt.
Etwas verbotenes zutun stand bei ihr bestimmt jeden Tag auf ihrer To Do Liste. Also sollte sie mal nicht so tun. Doch ich hielt mich zurück und blickte zu dem Fahrer.
Ich konnte nicht viel von ihm erkennen, sein Gesicht war konzentriert auf die überfüllte Straße gerichtet. Sein dunkelblondes, kurzes Haar fiel ihm in die Stirn, seine Schultern waren breit. Das war auch schon alles, was ich erkennen konnte.
"Danke", widerholte ich schüchtern und er nickte nur.
"Warum warst du eigentlich dort?" Der andere stämmige Typ drehte sich auf seinem Beifahrersitz zu mir um. Das ging ziemlich einfach, denn er war, genauso wie die anderen, nicht angeschnallt. Seine Brauen hatte er nachdenklich zusammengezogen, seine Augen funkelten mich aus tiefliegenden Höhlen interessiert an.
Mir fiel auf, dass er beim Sprechen an seinem Ohr herumfummelte, indem ein großer Tunnelring steckte. Irgendwie schüchterte mich sein Äußeres ziemlich ein.
"Ähm... ich hatte eine Wette verloren. Auf einer Party.", stammelte ich, wurde rot und wandte meinen Blick erneut aus dem Fenster, ich wollte ihm einfach nicht ins Gesicht sehen.
Wir hatten die Stadt schon verlassen und fuhren auf einer unbeleuchteten Straße, allein die Scheinwerfer des alten, klapprigen, rostroten Wagens kämpften tapfer gegen die Dunkelheit.
Die Straße war von Kratern und Löchern gespickt, die Reifen des Autos rumpelten heftig über den kaputten Asphalt.
"Eine Party also... Wie alt bist du denn?"
Ich senkte den Blick. Ich wusste, dass ich nicht gerade alt aussah, deshalb würde wohl keine Lüge etwas nützen.
"Ich bin vierzehn."
"Vierzehn?", schrillte Em.
"Ähm... ja.", gab ich zu und spielte mit dem Reißverschluss meiner Jacke.
Der Typ mit den Tunneln im Ohr lachte. "Was macht den bitte eine Vierzehnjährige auf einer Party? Ich wette, es gab Alkohol."
Ich wünschte, einer der Löcher würde aufreißen und mein Sitz würde samt mir darin versinken.
"Ich... es...", nervös rutschte ich auf meinem Sitz hin und her. Das hätte ich nicht tun sollen, denn die Reifen holperten über das nächste Loch und mein Kopf wurde gegen die Scheibe geschleudert. Genervt hielt ich mir die schmerzende Schläfe.
Aiden schaltete sich ein. "Hör mal, Jeff, lass sie mal in Ruhe. Wir tun schließlich nichts anderes."
Jeff zog die Schultern hoch und hob abwehrend die Hände.
"Ja, ist gut. Sie sieht aber so unschuldig aus, nicht wie eine, die sich mit vierzehn schon auf Parties besauft. Bei dir glaubt man jedoch direkt, dass du mit sechzehn schon ohne Führerschein Auto fährst." Er grinste und schlug Aiden auf die Schulter.
Moment, was? Ich wurde gerade von einem sechzehnjährigen Teenager durch dunkle Straßen mit zwei Punkern manövriert? Ach du scheiße. Ich musste weg.
Das Mädchen Emma sah mich wieder abschätzig an. "Ich finde ein paar Fragen sind berechtigt. Ich meine... hast du keine Eltern?"
Der Schmerz durchzuckte mich augenblicklich, ich schloss gequält die Augen.
Meine Finger begannen haltlos zu zittern.
Vierzehn Jahre. Vierzehn Jahre, und ich hatte immer noch keine Kontrolle über meine Gefühle. Vierzehn Jahre, und das Wort presste mir immer noch die Luft aus der Lunge. Vierzehn Jahre, und ich vergoss trotzdem noch jeden Tag Tränen über das, was ich hätte bekommen können, aber nie gekriegt hatte.
Ich war drei, als ich zum ersten Mal darüber nachgedacht hatte.
Darüber nachgedacht, dass eine Mutter ihr Kind an der Hand hielt.
Dass ein Vater seinem Baby die Tränen wegküsste.
Dass ein Mädcheb von seinen Eltern lachend durch die Luft gewirbelt wurde.
Das war der Tag, an dem ich zum ersten Mal begriffen hatte, woher das stechende, schmerzende Gefühl in meiner Brust kam. Dieses leere Gefühl in meinem Magen. Es war der erste Tag, an dem ich gemerkt hatte, was Liebe war. Es war der Tag, an dem ich merkte, was mir mit drei Jahren schon so sehr gefehlt hatte, wonach sich mein Körper so verzerrte. Woher das Loch in meinem Herzen kam.
Ich war älter geworden, ich hatte gelernt, damit umzugehen, zumindest nach außen hin.
Ich hatte es geschafft, für mich selbst zu sorgen und nicht sofort zusammenzubrechen, wenn ein Kind seiner Mutter einen Kuss auf die Wange hauchte. Doch das Loch in meinem Herzen war geblieben.
Ich hasste meine Eltern nicht, das war nicht das Problem. Es war das Wissen, dass meine Eltern es taten.
Ohne es zu bemerken waren mir die Tränen über die Wange gerannt, ich schluchzte leise auf.
Emmas Kopf fuhr erschrocken zu mir herum.
"Emma!", zischte Aiden wütend und warf durch den Rückspiegel einen besorgten Blick zu, so viel konnte ich erkennen.
Zitternd atmete ich ein und nahm war, dass sich zu der Luft, die durch den Fensterschlitz drang, ein ländlicher Geruch beigemischt hatte. Er roch nach Heu, Gülle und hatte eine sommerliche, milde Note.
"Es ist ok... Tut mir leid, dass ich einfach so zusammenbreche. Aber ich möchte nicht darüber sprechen."
Alle nickten. Dann lag eine angespannte Stille in der Luft, nur unterbrochen durch das stetige Röcheln des Motors, das Zirpen der Grillen und dem leisen Pfeifen der hereinziehenden Luft.
Plötzlich erstarb der Motor, Aiden zog knarzend die Handbremse an und drehte sich herum.
Durch den Schatten konnte ich nur seine feinen Gesichtszüge erkennen.
"Ich denke, wir können jetzt sicher sein, dass der Polizist uns nicht mehr einholt. Wir können dich jetzt nach Hause bringen, äh...", meinte er und sprach das Ende eher als Frage aus, da niemand meinen Namen kannte.
Nach Hause. Mich überrollte eine Gänsehaut als ich merkte, wie leicht ihm dieser Begriff über die Lippen kam. Für mich stellte er meine schrecklichsten Alpträume da, meine salzigen Tränen, die mir jede Nacht über die Wange kullerten, der andauernde Schmerz in meinem tiefsten Inneren.
"Kayla.", presste ich knapp durch die Zähne.
Aiden wendete den Wagen und fuhr die ganze Strecke zurück. Wieder weg aus der Landschaft, zurück in die turbulente Innenstadt. Auf der Hälfte hatte ich plötzlich eine verrückte Idee.
Eigentlich war sie völlige Quatsch, doch ehe ich es verhindern konnte, platzte es aus mir heraus: "Bitte, könnt ihr mich mitnehmen?"
Stille. Etwas zu geschockt, als das ich vermuten könnte, dass ich tatsächlich ein Ja erhielt.
Völlig überrascht wurde ich von Emma. "Klar, wieso nicht? Wenn es nur für diese Nacht ist."
Die Jungs schienen auch überrumpelt von ihrer Reaktion, stimmten jedoch zu.
Und so fuhren wir den Weg von eben nochmal zurück. Völlig erschöpft sackte mein Kopf zur Seite und ich nickte ein.
Das leise Brummen des Motors und das ständige Schaukeln des Autos wirkten beruhigend auf mich.
Denn ich hatte keine Ahnung, dass sie heimlich, unscheinbar und trotzdem voller Bedeutung ein riesiges Abenteuer ankündigten.
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~2. Teil, 1572 Wörter~
A/N:
Irgendwie kommt mir das gerade ziemlich hingeklatscht vor, wirklich spannend war die Handlung zwar nicht, aber man muss der Story ihre Zeit geben, um dich zu entwickeln.
Wie fandet ihr es?
Rückmeldung?
Voraussetzungen waren es:
- den Weg zu beschreiben
- eine Verletzung einzubauen
- eine Beziehung zu einer anderen Person herzustellen
Schönen Tag noch! LG aleaaquarius24
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