Sechs
In meinem Inneren focht ich einen Kampf aus, einen Kampf, den ich ganz allein gegen mein zwiegespaltenes Ich kämpfte.
Die eine Seite von mir fand, dass ich die Chance ergreifen sollte.
Meine andere Seite war der Meinung, dass es Zeit war zu gehen.
War es so nicht viel schöner, so, wie es im Moment für mich war?
Machen zu können, was man wollte und jeden Tag ein neues Abenteuer zu erleben.
Das Leben herauszufordern zu zeigen, was es sonst noch auf Lager hatte.
Andererseits ...
Das Leben war kein Spiel.
Die letzte Zeit war unglaublich gewesen, in jeder Hinsicht.
Manchmal war ich an meine Grenzen gekommen, dafür habe ich jedoch so viel Spaß gehabt wie noch nie.
Aber das war der Punkt.
Ich habe es witzig gefunden, aufregend, verbotene Dinge zutun.
Tun und lassen zu können was man wollte, völlig unabhängig zu sein, ich habe das Gefühl geliebt.
Für mich war es Spaß gewesen, alles nur ein Spiel, eine kleine Ablenkung für zwischendurch.
Aber das war es nicht, so war das Leben nicht.
Ich konnte nicht immer vor meinen Problemen weglaufen und hoffen, sie würden mich nicht einholen!
Das wollte ich nicht.
Mit dieser Jugend, egal wie schön und verlockend, hatte ich keine Zukunft.
Ich hatte schließlich Pläne und auch wenn sie nicht so wahnsinnig waren, wie das, was ich gerade erlebte, waren sie doch ein Teil einer Zukunft, in der ich mich sehen konnte.
Hier, direkt neben Aiden, Jeff und Emma war die Sicht verschwommen.
Ich sammelte mich kurz, holte tief ich Luft und drehte mich auf die Seite, so dass ich die anderen angucken konnte.
"Hey Leute ... könnt ihr mir kurz zuhören?", sagte ich mit zittriger Stimme und unterbrach somit sofort das Geschnatter.
"Was gibt es denn?", wollte Aiden wissen und verschränkte seine Beine umständlich zum Schneidersitz.
Ich versuchte so gut es ging den Moment hinaus zu zögern, indem ich meine Entscheidung mitteilen musste.
Scheinbar interessiert musterte ich eine Ameise, die auf meine Hand gekrabbelt war und nun langsam meinen Arm empor lief.
In Wahrheit war ich aber einfach nur zu feige, um den anderen ins Gesicht zu sehen.
"Ich werde zurück nach Hause gehen.", ließ ich die Bombe in einem Atemzug platzen.
"Was?", rief Jeff. Ich konnte mir seinen entgeisterten Gesichtsausdruck nur zu gut vorstellen und sah förmlich vor mir, wie er anfing, gestresst an seinem Ohrloch zu zupfen.
"Ach komm schon, Jeff. War das nicht zu erwarten?", ertönte Emmas Stimme. Ich horchte auf. Seit unserem ersten Treffen war ich Emma mit Abstand am nächsten gekommen. ihr hatte ich die Details über meine Vergangenheit erzählt und nur sie wusste, warum ich mit ihnen mitgekommen war.
Was würde sie jetzt also von mir denken? Doch zu meiner Überraschung war keine Spur von Ärger oder Wut in ihrer Stimme zu hören.
Sie war sanft und etwas traurig.
"Ich- Ich bin einfach nicht so wie ihr.", stammelte ich hilflos und hob vorsichtig den Blick.
Emma sah mich mit einem wissenden Blick an, wohingegen Jeff mich entgeistert anstarrte und Aiden nur desinteressiert an seinem Ärmel rumzupfte.
Jeff schnaubte. "Ich hatte echt damit gerechnet, dass wir mit dir noch eine irre Zeit haben würden.
Dass wir es allen zeigen würden.
Zu viert, nicht zu dritt."
"Es tut mir leid.", flüsterte ich leise. "Aber ich kann das hier einfach nicht. Ich möchte nach Hause."
Wie ein Kleinkind hörte ich mich in meinen Ohren an, doch das ignorierte ich, denn das, was ich gesagt hatte, stimmte irgendwie.
Auf eine abstrakte Art und Weise hatte ich mein Zuhause vermisst.
Meine Eltern vermisst.
Eine unangenehme Stille entstand, da keiner so recht wusste, was er zu den neusten Entwicklungen so sagen sollte.
Es war die Zeit gekommen, sich zu verabschieden.
"Blöd ist nur", brach Emma die Stille, "dass ich dann doch wieder das einzige Mädchen bin."
"Ach komm schon, du hast ja noch Jeff!", sagte Aiden zuckersüß und stieg anschließend in Emmas Gelächter ein.
"Haha.", meinte der Betroffene nur trocken.
Und irgendwie schien plötzlich in mir ein Damm zu brechen.
Die Mischung von nicht genügend Schlaf, der Abschied und das bevorstehende Wiedersehen mit meinen so verhassten Eltern, war einfach zu viel für mich.
Tränen bahnten sich den Weg und rollten mir über das Gesicht.
"Oh, Kay, bitte nicht weinen!", rief Emma und täschelte mir unbeholfen die Schulter.
Ich schniefte ein "Entschuldigung" und wischte mir die Tränen von den Wangen.
Alls ich mich wieder beruhigt hatte, wollten wir los.
Die drei hatten beschlossen, dass sie mich noch nach Hause begleiten würden und sprangen einer nach dem anderen einfach so von der Ladeklappe.
Als hätte sie das schon hundert Mal gemacht.
Hatten sie vermutlich auch, wurde mir in dem Moment klar.
Vorsichtig und mit klopfendem Herzen ließ ich die Beine über den Rand der Ladefläche baumeln und als ich mich irgendwann dazu überwinden konnte, sprang ich schließlich auch.
Elegant wäre nicht das richtige Wort für meine Landung gewesen, für einen Moment konnte ich mein Gleichgewicht zwar halten, doch dann viel ich lachend hintenüber und plumste wie ein nasser Sack zu Boden.
Während dem Weg unterhielten wir uns viel.
Ab und zu schweiften meine Gedanken zwar wieder zu der bevorstehenden Begegnung mit meinen Eltern, und das löste ein flaues Gefühl in meinem Magen aus, ich verdrängte es jedoch wieder und versuchte, meine letzten Stunden mit den drei Jugendlichen zu genießen.
Es hatte schon begonnen zu dämmern und ein heller Streifen breitete sich am Horizont aus.
Da wir nicht die ganze Strecke wieder laufen wollten, kämpften wir uns einen Weg durch die wild wuchernden Streucher, die den Schotterweg säumten, um eine Abkürzung über einen Akker zu nehmen.
"Mensch, jetzt werden meine Sneakers ganz dreckig!", meinte ich bedauernd, da ich immer, wenn ich den Fuß absetzte, meine Sohle mehrere Zentimeter einsackte und der Grund ein schmatzendes Geräusch von sich gab.
"Maul nicht rum, Kayla!", rief Jeff nur amüsiert, der wie ein Storch über das Feld starkste, wohingegen Emma leichtfüßig wie eine Meise tänzelte.
Ich seufzte und beschloss, nichts mehr zu sagen, da wir diesen Weg schließlich nur wegen mir gehen mussten.
****
Wir waren jetzt schon ziemlich lange gelaufen, unsere Gespräche waren verstummt und ich starrte nur noch träge auf meine Füße, die sich mit jedem Schritt schwerer vom Boden heben ließen.
Ein kleiner Lichtblick war, dass wir uns jetzt nicht mehr irgendwo in der Pampa befanden, sondern gerade den kleinen Vorort unserer Stadt passierten.
Die Stimmung war hier zwar immer noch sehr ländlich, doch aus dem Schotterweg war eine asphaltierte Straße geworden und kleine Häuser mit Balkonen, die meist mit Blumenkästen geschmückt waren, säumten die Straße.
Zu der milden Sommerluft mischte sich ein Duft, den ich als frischgebackene Brötchen identifizieren konnte und mein Magen fing augenblicklich an, laut zu knurren.
"Na, da sieh mal einer an, wo wir hier gelandet sind." Aiden pfiff.
Ich brauchte mich nicht lange umsehen, um zu wissen, was er meinte.
Gegenüber auf der anderen Straßenseite prankte ein hohes Gebäude, indessen großen Glasfenstern sich der rosarote Himmel widerspiegelte.
Das Haus hatte eine eindrucksvolle und vorallem sehr, sehr teure Ausstrahlung, die jedem Passanten klar machte, dass hier nur Leute mit sehr viel Geld etwas zu suchen hatten.
Eigentlich, denn ich war schon einmal dort gewesen. Nur eben illegal.
Goldene, verschnörkelte Buchstaben zierten die hohen Scheiben.
"Weinkellerei Eichenberg", flüsterte ich.
"Wow, es kommt mir wie eine Ewigkeit vor, die seit dem Tag vergangen ist.", staunte Em und ich nickte bekräftigend.
Hier hatte das ganze Abenteuer gestartet.
Schließlich rissen wir uns von dem Anbluck los und folgten der Allee, die von hohen, gesunden Eichen gebildet wurde, bis der etwas ruhigere Ort schließlich mit der lauten, belebten Stadt verschmolz.
Schon bald wurde mir klar, dass wir uns unserem Ziel immer mehr näherten.
Oder besser gesagt meinem, denn die anderen drei würden weiterziehen, während meine Reise dort endete.
Wir waren in meinem Viertel angelangt und das machte mich verrückt.
Kurz war ich versucht, meinen Beschluss wieder über Bord zu werfen. Wollte ich nicht doch mit den anderen mitgehen?
Doch dann hatte ich mich wieder im Griff und wollte einfach nicht mehr nachdenken, bevor ich doch noch umschwenken würde.
"Okay ...", sagte ich und verlangsamte mein Tempo.
"Wenn ich dort hinten um die Ecke biege, bin ich in meiner Straße angelangt."
Ich schluckte. Das war es dann.
Emma legte eine Hand auf meine Schulter.
"Wenn du es dir anders überlegest, du hast unsere Nummer.
Aber ich kenne dich jetzt gut genug um zu sagen, dass deine Entscheidung sicher nicht unüberlegt war."
Sie lächelte mich ehrlich an.
"Es war schön mit dir, Kayla."
"Mach's gut, Alter.", meinte Jeff, nickte mir freundschaftlich zu und stieß mit seiner Faust gegen meine.
Aiden schlug ebenfalls ein.
"Ich werde euch vermissen. Macht's gut!", rief ich und wandte mich nach vorne.
Na schön, Kayla, du schaffst das.
Das redete ich mir zumindest ein.
Ich ignorierte, dass meine Knie zitterten, als ich mich um ein selbstbewusstes Auftreten bemühte und in die kleine Einbahnstraße abbog.
Wie aus Reflex huschten meine Augen zu dem Haus, indem ich lebte und mir wurde übel.
Ich versuchte mich abzulenken, indem ich mich scheinbar interessiert umsah, so als wäre ich noch nie hier gewesen.
Natürlich erinnerte ich mich aber noch an jedes Detail.
An dem hohen Bordstein vom Bürgersteig, auf dem ich gerade lief, hatte ich mir als Kind mal fast einen Zahn ausgeschlagen.
Und in diesem Reihenhaus zu meiner linken Seite, hatte mal eine Frau gelebt, die für mich immer eine Tüte Karamellbonbons an der Einfahrt versteckt gehabt hatte.
Ich versank ein wenig in den Erinnerungen, die mich einholten, als ich auch schon da war.
Eingeschüchtert blieb ich stehen.
Mir blieb fast die Luft weg, bei dem Anblick dieses Hauses.
Fairer Weise musste man sagen, dass nicht alles an dem Gebäude hässlich war.
Gut, der Vorgarten machte einen nicht ganz gepflegten Eindruck, aber dafür vermittelten die weißen Spitzengardinen in den kleinen Fenstern eine halbwegs freundliche Stimmung.
Nein, unbedingt hässlich war es wirklich nicht.
Hässlich waren nur die Erinnerungen, die für mich daran klebten.
Ich nahm mir noch einen Moment Zeit, um mich zu wappnen. Um meinen Kopf zu klären und mir ins Gedächtnis zu rufen, warum ich hier war.
Dann ging ich auf die Tür zu.
Ich drückte die Klingel.
Eine kleine Geste, die für mich so viel mehr zu bedeuten vermochte.
Und doch, als ich deutlicher werdende Schritte hinter der Tür vernahm, beschlich ein kleines Lächeln meine Lippen.
Einfach, weil ich nicht mehr hier war, weil ich musste.
Sondern weil ich wollte.
Und weil ich in diesem Moment wusste, genau die richtige Entscheidung getroffen zu haben.
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