9. Der ungebetene Gast | Janis
Ich traue meinen Augen kaum.
Als ich Morten endlich entdecke, draußen beim Pool, wo einige Gleichaltrige in Grüppchen um das dampfende Becken herumstehen und sich unterhalten, sitzt er im Schneidersitz auf einer der Holzliegen und ist mit niemand anderem als Gerald Wendiger in eine angeregte Debatte vertieft. Der kränklich aussehende Junge hört offensichtlich erheitert zu, wie Morten seinen Monolog fortführt: „Und überhaupt, wer hat denn durch immense finanzielle Unterstützung erst dafür gesorgt, dass die Taliban an solche Macht gewannen? Wer hat Afghanistan im Kalten Krieg mit Waffen versorgt und nach der Auflösung der Sowjetunion ohne funktionierende Regierung sich selbst überlassen?"
„Aber wenn sie es nicht getan hätten, hätte die Rote Armee vielleicht ganz Afghanistan eingenommen und der Kalte Krieg würde selbst heute noch andauern."
„Als ob das nicht auch der Fall wäre", entgegnet Morten verächtlich.
„Hey", geselle ich mich hinzu und lasse mich neben Morten auf die Liege sinken. „Worum geht's?"
„Ob der Anschlag vom 11ten September den Einsatz in Afghanistan wirklich gerechtfertigt hat", klärt Gerald mich hilfsbereit auf und reicht mir kurz eine knochige Hand. „Ich glaube, ich hatte bisher noch nicht die Gelegenheit mich dem Grund des Zerwürfnisses meiner Freunde korrekt vorzustellen... Ich bin Gerald."
„Janis. Von welchem Zerwürfnis sprichst du?"
„Noel kann dich nicht ausstehen und verübelt es Valentin zutiefst, dass dieser ernsthaft in Betracht zu ziehen scheint dich mehr für unsere Zwecke einzuspannen. Aber nimm es nicht persönlich, Noel kann eigentlich niemanden so richtig leiden, außer sich selbst natürlich, der kleine Narzisst."
Ich blinzle ihn an und weiß nicht, was ich darauf erwidern soll. Er lächelt breit, wodurch seine Haut sich enger spannt und seine großen Augen fast aus den Höhlen zu floppen drohen.
„Entspann dich, ich fungiere bei solchen Uneinigkeiten immer als neutrale Schweiz. Denn ehrlich gesagt geht es mir komplett am Arsch vorbei, ob du nun am Tisch der Coolen sitzen darfst oder nicht. Ich hoffe nur, dass das kein Greta-Noel-Wiederholungsspezial wird Morten... Denn dann wird es bald sehr ungemütlich werden."
Mit diesen Worten rutscht er von der gegenüberliegenden Liege. Er ist größer als ich bisher angenommen habe und irgendwie schief. „Bleib anständig, Morten Glas", ruft er noch mahnend und schlürft dann mit hochgezogenen Schultern am Beckenrand entlang, seine offenen Schnürsenkel hinter sich herziehend.
„Was für ein komischer Kauz", kann ich mir nicht verkneifen zu bemerken.
„Er ist wahrscheinlich der klügste Kopf an dieser Schule", behauptet Morten, „und ohne ihn und seinem wissenschaftlichen Input, hätte Valentin nicht einmal die Hälfte der Schandtaten durchziehen können, die uns das Leben zuweilen zur Hölle gemacht haben..."
Unsere Augen folgen ihm aufmerksam, bis er die Stelle erreicht, wo er sich zu Seinesgleichen gesellt und ohne Probleme an das grade herrschende Gespräch anknüpft.
„Na ihr."
Meine Aufmerksamkeit hatte so sehr dem Grüppchen gegenüber dem Wasserbecken gegolten, dass ich Nina erst wahrnehme als sie sich auf den soeben freigewordenen Platz auf der Liege fallenlässt. Fast zeitgleich wird die Körperhaltung meines Mitbewohners deutlich angespannter.
„Tut mir leid, dass ich erst jetzt vorbeischaue, aber ehrlich gesagt sind mehr gekommen als ursprünglich geplant."
„Jetzt bist du ja da", antworte ich schnell, bevor Morten den Mund aufbekommt, um eine weitere abfällige Bemerkung fallenzulassen.
„Aber wo hast du Elvin gelassen? War er bis jetzt nicht immer brav an deiner Seite?"
„Oh ja, er ist ein echter Schatz", sagt sie lächelnd. „Nur verträgt er nicht allzu viel... Ich habe ihm gesagt, er müsse wirklich nicht wie ich mit jedem Gast anstoßen, aber er wollte nicht hören. Deshalb habe ich ihn vorhin nach oben in eins der Gästezimmer gebracht, damit er sich ausruhen kann."
„Wie rücksichtsvoll von dir", murmelt Morten abwertend, woraufhin ich ihm liebevoll den Ellbogen in die Rippen stoße und an Nina gewandt sage: „Echt coole Party oder wie du es auch immer nennen magst, danke, dass wir kommen durften."
„Jederzeit", erwidert Nina leicht perplex und ihr Lächeln wirkt gleich viel weniger aufgesetzt. „Ich habe sogar ein Friedensangebot dabei..."
Sie bietet Morten die erst zur Hälfte geleerte Wodkaflasche an, nach der dieser zögernd greift.
Scheinbar wird es in dieser Nacht mein Schicksal sein, meine betrunkenen Freunde ungesehen zurück ins Internat zu schmuggeln. Wird bestimmt super lustig werden.
Wir plaudern entspannt und lassen die Flasche rundgehen. Musik dringt von der geöffneten Terrassentür hinaus in die beginnende Nacht, die Sonne ist bereits vor über einer Stunde untergegangen und am klaren Nachthimmel leuchten Sterne. Mortens Wodkakonsum macht sich bemerkbar, denn er wird allmählich angenehmer und versucht sogar ausgerechnet Nina für seine agnostische Weltanschauung zu begeistern.
„Denk doch nur mal darüber nach wie viel Druck das herausnehmen würde... Wenn jeder Mensch beide Möglichkeiten akzeptiert, wären sämtlichen Glaubenskonflikten auf dieser Welt mit einem Schlag jede Grundlage entzogen."
„Aber ist der Witz an einer Religion nicht irgendwie, an eine Sache zu glauben, grade, wenn man sie nicht wissenschaftlich belegen kann?", beteilige ich mich vorsichtig an der Diskussion. Ich bin zwar getauft, aber das einzige Mal wo ich mich kurzzeitig näher mit dieser Thematik auseinandergesetzt habe, war, als meine Mutter eine Affäre mit einem verheirateten evangelischen Pastor einging und ich dies als ziemlich heuchlerisch empfand.
„Aber das kannst du ja", erwidert Morten beschwingt. Seine Augen sind glasig und auf seinen sonst so bleichen Wangen zeichnen sich rote Flecken ab. „Du kannst einfach glauben, woran du willst und anderen dasselbe Recht eingestehen. Dann gibt es kein richtig oder falsch mehr."
Nina, die seinem Monolog zwar aufmerksam gefolgt, aber kaum etwas dazu gesagt hat, nippt stillschweigend an ihrem Glas. So wie ich sie einschätze, wurde sie erzkatholisch erzogen und räumt ihrem Glauben vermutlich nicht ganz so viele Freiheiten ein.
Ich überlege, wie ich geschickt das Thema wechseln kann, als mein Mitbewohner plötzlich schwankend aufsteht und verkündet, er müsse jetzt dringend pissen gehen.
Eine verlegene Pause entsteht, die ich mit nichts füllen kann, also lasse ich ausweichend meinen Blick schweifen. Über lachende Gesichter und ausgetrunkene Flaschen und... Erik.
Fuck.
Ich springe sofort beunruhigt auf, doch es ist zu spät, die beiden sind bereits auf Konfrontationskurs gegangen. Ich bin zu weit weg um zu hören was Morten ihm nettes an den Kopf wirft, aber gemessen an Eriks aggressiver Reaktion kann ich es mir in etwa vorstellen. Die Situation scheint jeden Moment völlig zu eskalieren - und noch bevor ich es schaffe dazwischen zugehen - sie sind genau auf der anderen Seite des Beckens, packt Erik Morten grob am Kragen seiner Kapuzenjacke und drängt ihn rücklings zum Beckenrand.
„Erik!", ruft Nina entsetzt und auch der letzte Herumstehende wendet sich dem Aufruhr zu. „Was um Himmels Willen... lass ihn los!"
„Dieser Scheißkerl kann nicht einmal seine vorlaute Fresse halten", brüllt Erik außer sich. „Was kann ich denn dafür, wenn sich dieser Psycho einfach die Pulsadern aufschneidet?!"
Inzwischen bin ich fast bei ihnen, mit der rechten Hand hat er sich in Morten verkrallt, in der Linken baumelt eine Bierflasche. Er ist sturzbetrunken.
„Erik", sagt eine eiskalte Stimme hinter ihm und ich sehe wie Valentin auf die Terrasse hinaustritt, „hast du den Verstand verloren? Lass ihn los. Sofort."
„Sieh an, offenbar braucht es nur ein mobbendes Arschloch wie dich, damit Valentin von Schlichting aufhört mich wie Luft zu behandeln", stellt Morten betrunken fest und grinst breit.
„Sei gefälligst still", blafft Valentin seinen Freund vernichtend an, bevor er sich erneut Erik zuwendet: „Lass ihn los oder ich bring' dich dazu."
„Besser du hörst auf ihn, ein rückgratloser Wurm wie du kann es ja doch nur mit Schwächeren aufnehmen, um sich für einen erbärmlichen Moment mächtig zu fühlen - ehrlich Erik, wie kannst du eigentlich mit dir selbst leben?"
Es passiert alles wahnsinnig schnell. Erik, durch Mortens Worte verletzt und bebend vor Wut, hat blitzschnell den linken Arm gehoben und beabsichtigt offenbar die Bierflasche in seiner Hand auf Morten niederfahren zu lassen. Allerdings hat Valentin im Gegensatz zu allen anderen auf die Bewegung reagiert und wehrt die jetzt niederfahrende Flasche mit dem eigenen Unterarm ab, die daraufhin auf seiner Haut zersplittert.
Wasser spritzt. Morten hat in dem Gerangel das Gleichgewicht verloren und ist in den Pool gestürzt.
Einige Mädchen kreischen erschrocken auf und Noel und Gerald packen Erik und reißen ihn zurück. Hellrotes Blut rinnt an Valentins Arm hinunter und tropft von seinen Fingerspitzen, ich erkenne winzige Splitter, die noch in der Haut stecken.
„Na ich hoffe du bist jetzt glücklich", raunt er Morten zu, der sich gerade heftig triefend am Beckenrand hochhievt. Ein mir unbekanntes Mädchen hat geistesgegenwärtig von drinnen eine Decke geholt und wirft sie ihm über.
„Okay!", versucht Nina sich streng Gehör zu verschaffen. „Die Show ist vorbei, genau wie diese Party!"
Die Meisten folgen der Aufforderung der Gastgeberin und strömen brav zur Haustür.
Zurückbleiben nur ich, ein durchnässter Morten, Nina, Valentin, Noel, Gerald und Erik, den letztere Zwei immer noch im Klammergriff halten.
„Nina ich brauche eine Pinzette und Verbandszeug."
„Sollten wir dich nicht eher in die Notaufnahme bringen?"
„So schlimm ist es nicht."
„Im Spiegelschrank des Schlafzimmerbadezimmers meiner Tante solltest du alles Nötige finden oder soll ich besser mitkommen und dich verarzten?"
„Nein danke", wehrt Valentin verstimmt ab und betritt zügig das Haus.
„Du solltest auch besser reingehen", sagt Nina zu Morten. „Sonst holst du dir noch den Tod. Nimm dir einfach ein paar trockene Sachen aus dem Kleiderschrank meines Stiefonkels."
Nachdem auch Morten reingegangen ist, wird es totenstill.
„Tja, was machen wir jetzt mit ihm?", durchbricht Gerald diese und tätschelt fast mitleidsvoll Eriks weiterhin vor Zorn bebende Schulter.
„Schmeißen wir ihn doch auch in den Pool, dann kann er sehen wie er durchnässt zurück ins Internat kommt."
„Noel", zischt Nina aufgebracht.
„Wieso nicht? Auge um Auge."
„Das wäre grausam."
„Nein, grausam wäre es, wenn ich jetzt auch mit ner beschissenen Flasche auf ihn losgehen würde..."
„Ich wollte Valentin nicht verletzten, okay?"
„Nein, du wolltest nur seinem Freund den Schädel zertrümmern", schnaubt Noel. „Ich bin selbst kein Morten-Fan, aber das war wirklich komplett daneben."
„Er hat mich provoziert!"
„Natürlich hat er das, er ist Morten Fucking Glas!"
„Hast du eigentlich ne Ahnung, was für ein schlechtes Licht das auf dich zurückwirft?", fragt Nina ihn nun anklagend. „Erst die Leon-Sache und jetzt das vor allen Leuten? Was glaubst du wie viele Verweise dir deine Eltern noch bezahlen werden?"
„Fick dich Nina", fährt er sie an. „Dir ist es doch scheißegal wie es mir geht, du machst dir nur Sorgen darum was die Leute sagen werden und das du vielleicht durch mich deinen Titel als Miss Unbefleckt verlieren könntest!"
„Fein, beleidige ruhig weiter die einzige dir noch verbliebene Verbündete, nachdem du bereits vor aller Augen Valentin von Schlichting eine Bierflasche übergezogen hast! Bin schon gespannt wie seine Eltern darauf reagieren werden. Weißt du was Noel? Schmeiß ihn ruhig in den Pool!"
Mit diesen Worten lässt sie uns stehen und rauscht ins Haus.
„Machen wir das jetzt wirklich?", erkundigt sich Gerald fragend bei Noel, doch dieser schüttelt den Kopf und lässt von Erik ab. „Verpiss dich einfach."
Ich finde Nina in der Küche, wo sie versucht Ordnung zu schaffen. Doch so aufgebracht wie sie ist, stößt sie versehentlich mit dem Ellbogen zwei Gläser herunter und steht im Scherbenmeer.
„Es ist nicht deine Schuld, Nina", sage ich bestimmt und nehme sie in den Arm als sie die Hände vors Gesicht schlägt und herzzerreißend schluchzt.
„Was soll ich meinen Eltern sagen? Was soll ich seinen Eltern sagen?! Wie kann es ihm völlig egal sein, wenn seine Handlungen alle anderen um ihn herum verletzen?"
„Glaubst du wirklich, Valentin wird ihn deswegen anzeigen?"
Ich hoffe es, aber den Teil behalte ich für mich...
„Nein, natürlich nicht! Aber er hätte Morten ernsthaft verletzen können, und das wird er ihm bestimmt noch lange verübeln."
Zurecht, wie ich finde.
„Du musst aufhören für sein Fehlverhalten die Verantwortung übernehmen zu wollen und anfangen dich klarer von solchen Situationen abzugrenzen. Zu deinem eigenen Wohl, okay?"
„Ja, vielleicht...", schluchzt sie in meine Schulter hinein. „Aber es ist echt schwer... du kennst meine Familie nicht. Die erwarten das von mir und ich will niemanden enttäuschen..."
„Manchmal enttäuschen Kinder ihre Eltern und andersherum. Niemand ist perfekt Nina, wir sind alle nur Menschen."
Kaum habe ich das ausgesprochen, klopft ein wahnsinnig schlechtes Gewissen an meine Magenwand und begehrt Einlass.
Früher oder später muss ich mich mit meiner Mutter aussprechen, ich kann ja nicht ewig wütend bleiben und will es auch eigentlich nicht.
∧,,,∧
( ̳• · • ̳)
/ づ♡
Danke fürs Lesen❤️
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