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[Hinweis: Dieses Kapitel enthält zum Teil Inhalte, auf die manche Leser sensibel reagieren könnten]
Erzähler PoV
Die Abendsonne drang vereinzelt durch die kahlen Äste der Bäume. Pfeifend ließ der Wind die Baumkronen rascheln, die letzten mittlerweile vertrockneten Blätter lösten sich und fielen hinab auf den gefrorenen Boden.
Es hatte angefangen zu schneien, vereinzelte, nasse Schneeflocken sanken herab. Der Junge folgte den Flocken mit seinem Blick ohne sie wirklich zu sehen.
Leise rieselte der Schnee herab und vermischte sich mit dem bereits gefallenen Laub auf der Erde, hin und wieder aufgepeitscht vom beißenden Herbstwind.
Die untergehende Sonne projizierte flimmernde und flirrende Schatten auf den Laubteppich, der unter jedem schweren Schritt knirschte, den der großgewachsene Mann mit dem kleinen Jungen an der Hand tat.
Ein Fest wollten sie heute feiern, hatte man dem Jungen gesagt. Nur zu seinen Ehren.
Er sei mittlerweile ein großer Junge und das müsste er nun auch beweisen. Es würde lustig werden, hatte Papa gesagt, als er ihm heute morgen die Schuhe anzog, bevor der Junge darauf bestand, sie sich selbst zu binden.
Immerhin war er schon ganze sechs Jahre alt. Stolz hatte er hinunter auf seine Schuhe geblickt, als seine Mutter den Raum betrat, ihre Augen rot und geschwollen.
Warum war sie nur immer traurig, wenn der Junge etwas allein mit dem Vater unternahm? Männer mussten eben auch manchmal unter sich sein, dachte der Junge.
Das sagte sein Papa zumindest und sein Papa hatte immer Recht.
Der Junge konnte zwar nie genau benennen, was genau er und sein Vater eigentlich immer in der Zeit taten, in der sie alleine unterwegs waren, aber das sei nicht schlimm, sagte man ihm.
Die Verletzungen, die er jedes Mal danach davontrug, seien ein Zeichen von seiner Männlichkeit, meinte sein Papa.
Da war Jeongguk dann immer besonders stolz, wenn sein Papa ihn lobte. Die tiefen Schnittwunden oder die unregelmäßigen Verbrennungen, die seinen Körper zierten taten daraufhin gleich gar nicht mehr so schlimm weh.
An die Bauchschmerzen hatte er sich schon lange gewöhnt, er kannte es gar nicht ohne sie.
Abwesend betrachtete der Junge die sich nähernde Grünfläche, auf die sein Vater mit ihm zusteuerte. In einem Kreis standen sechs weitere Kinder auf der Lichtung.
Etwas war komisch.
Unruhig ließ der Junge seinen Blick schweifen. Die Kinder spielten nicht miteinander. Sie redeten nichtmal, stumm wie Statuen standen sie dort, in Reih und Glied, es war kein Geräusch zu vernehmen bis auf die Schritte, die sich unabänderlich weiter den Weg durch den kalten Erdboden suchten.
»Endlich«, ertönte plötzlich eine tiefe Männerstimme über den Platz.
Ein leichtes Ziehen machte sich in der Brust des Jungen breit. Irgendwo hatte er die Stimme schon einmal gehört.
Er sah auf, um den Mann, der soeben gesprochen hatte, besser sehen zu können, sich die kleine Hand dabei vor die Augen haltend, um nicht von den letzte Sonnenstrahlen geblendet zu werden, jedoch erkannte er lediglich den schwarzen Umhang, den der Mann trug und die große Kapuze, die sein Gesicht überschattete.
Direkt vor der Sonne stehend, ließen deren rote Strahlen die Gestalt zu einem scharfen Schattenriss werden, der Junge wandte schnell den Blick ab, weil ihm die Augen brannten.
»Komm«, hallte die Stimme der verkleideten Gestalt erneut über die Lichtung. Sein Papa löste sich von ihm, während der Junge immer unruhiger wurde.
Der andere Mann ging voran und wartete nicht, um zu schauen, ob der Junge ihm folgte.
Er wusste es.
Die bedrückende Stille, der angehaltene Atem schienen sich noch zu verstärken, als Jeongguk und die anderen Kinder hinter dem Mann hergingen.
Die anderen waren alle ungefähr in Jeongguks Alter. Vielleicht könnten sie später noch etwas zusammen spielen, das würde ihn sehr freuen.
In den Bewegungen der Kinder lag etwas Uniformes, etwas nicht zu Fassendes. Ihre Art sich zu bewegen wirkte beinahe demütig, matt, fast betäubt.
Die unheimliche Atmosphäre löste in Jeongguk immer stärkere Gefühle aus.
Angst.Verwirrung. Panik.
Er wollte gerne weglaufen, er wollte wieder bei seinem Papa sein und endlich seine Feier veranstalten, doch seine zierlichen Beinchen gehorchten ihm nicht, sondern folgten mechanisch der dämonischen Kapuzengestalt, sein Blick starr auf den Mantel des Mannes gerichtet.
Ein komisches Zeichen war dort abgebildet, dachte sich Jeongguk. Irgendwie gefiel ihm dieses Zeichen nicht, er wusste nicht, ob es an der Form, die ihn an ein verrutschtes Jesuskreuz erinnerte, oder an der dunklen violetten Färbung lag.
Lila war doch eine Farbe für Mädchen und er war ein Mann.
Es war das Satanskreuz.
Der Junge schaute sich um. Er kannte die Gegend nicht und das, obwohl er sich schon oft mit seinem Papa in einem Wald wiedergefunden hatte.
Selbst der Wind schien den Atem anzuhalten, das Rascheln der Baumkronen verebbte, vereinzelte Krähenrufe hallten durch das Dickicht, während sie auf die Mulde zugingen, in der sich der alte Waggon befand. Eine Ruine war es eigentlich nur.
Vage erinnerte sich der Junge an diesen Anblick.
Flackernder Kerzenschein und dunkle Gewänder, die grausame Schatten an die dicken Backsteinwände warfen.
Es war nur ein Teilausschnitt und dennoch fühlte sich die Erinnerung für Jeongguk so real an.
Sie betraten den Waggon und begaben sich sogleich zu einer Luke, welche offenbar in den morschen Holzboden des Abteils eingelassen worden war. Eine steile Kellertreppe schlängelte sich in die dunkle Schwärze hinab.
Schnell wich die feuchte Erde zu ihren Seiten einigen baufälligen roten Backsteinwänden, als sie nacheinander die ausgetretenen Steinstufen hinabstiegen. Die Stufen führten in einen kalten fensterlosen Raum, indem den Jungen befohlen wurde, sich ihrer Kleider zu entledigen.
Keines der Kinder widersprach.
Sie bekamen einen dickflüssigen dunkelroten Saft zu trinken, der mit allerlei Beruhigungsmittel versetzt war, aber das sprachen die Männer nicht aus.
Warum auch? Es hätte nichts geändert.
Der Vater des Jungen hatte sich mittlerweile wieder zu der Truppe gesellt, ebenfalls in einem der schwarzen Mäntel.
Nacheinander ließ er seinen Blick durch die Reihen der entblößten Kinder schweifen, bevor er einige Schritte vortrat und denen von ihnen, denen stumm einige Tränen über die Wangen liefen, eine feste Ohrfeige gab. Die Tränen verebbten.
Sie fragten nicht, warum. Sie sagten nicht, dass es wehtat.
Es spielte keine Rolle und es würde nichts ändern.
Jeongguk stand zwischen den Kindern, seinen Blick starr nach vorn gerichtet. Obwohl sein Herz ihm bis zum Hals schlug, verhielt er sich ruhig.
Es war als würde er die ganze Situation nur noch wie durch Watte wahrnehmen.
Seine Muskeln, seine Gliedmaßen, jede Faser seines Körpers wusste, was nun folgte.
Stumm streckte er bereits willenlos den Arm nach vorn, als der Mann mit dem lila Kreuz erneut kam, um ihm tief in das feste Fleisch zu schneiden und das herausfließende Blut mit einem goldenen Gefäß aufzufangen.
Hellrot sprudelte es aus der frischen Wunde und lief langsam seinen abermals erschlafften Arm hinunter, tropfte unregelmäßig auf den kalten Steinboden.
Stolz erfüllte den Vater des Jungen, als er sah wie wirkungsvoll die Konditionierung von Jeongguk bereits gewesen war.
Es müsse so geschehen, Satan verlange es, damit er ganz sicher sein könne, dass sie nur ihm gehörten, ertönte die Stimme seines Vaters in den Gedanken des Jungen.
Immer tiefer wurden die frierenden Jungen in die Gedärme des Komplexes gebracht, eine weitere Treppe gingen sie hinab, bevor dem Jungen ein merkwürdiger Geruch in die Nase stieg.
Wie eine pelzige Schicht kleidete er seine Atemwege aus, dieser bekannte Geruch. Seine Atmung war zunehmend beeinträchtigt, seine Augen begannen zu tränen und trübten seine Sicht, jedoch dachte er nicht ans Stehenbleiben.
Er tastete sich voran, der gähnende Schlund vor ihm, der mehr und mehr sämtliche Geräusche verschluckte.
Immer kälter wurde es; die Kälte fraß sich durch seine Füße hoch, drang bis tief in seine Knochen und breitete sich nach und nach in seinem gesamten Körper aus.
Am Fuße der Treppe kamen sie schlussendlich zum Stehen, zitternder Fackelschein warf verzerrte Schatten der nackten Kinder an die blanken Wände.
Sie betraten einen weiteren dunklen Raum, die schwere Eisentür wurde hinter den Männern mit den Kapuzen und den Kindern verriegelt. Lediglich vereinzelte Fackeln und Kerzen an den Wänden und in gusseisernen Kerzenhalten spendeten spärliches Licht.
Die Kinder waren allein mit ihrer Scham, ihrer Angst, dem drohenden Gefühl von dem, was noch kam, doch sie konnten sich nicht trösten.
Denn sie waren nicht zusammen hier, sondern jedes für sich allein.
Das Licht der vorhandenen Leuchtmittel warf die Schatten der Männer in ihren Kutten verzerrt und verzogen an die kalten Backsteinwände, schemenhaft tanzten sie um die Kinder herum, kamen näher, entfernten sich wieder.
Die Wände erschienen dem Jungen plötzlich alles andere als massiv, immer näher rückten sie an ihn heran, er begann am ganzen Körper leicht zu zittern, seine Beine schlotterten, er wollte weglaufen, fliehen, doch seine Gliedmaßen waren wie eingefroren.
Nicht einen Finger konnte er rühren. Hypnotisiert starrte er den Kapuzengestalten entgegen. Sein Herzschlag geriet völlig aus dem Takt, es war, als sei in diesem Raum noch etwas anderes anwesend, etwas, was über ihn, seinen Körper und seinen Geist bestimmte.
Die Atmosphäre kippte schlagartig, zu Tage trat etwas Archaisches. Eine andere Welt erstreckte sich vor ihren Füßen. Grausam und kalt.
Die Kälte erreichte sein Herz.
Die Erwachsenen knieten nieder vor dem Alter, der sich in der Mitte des Raumes erhob. Fremd waren die Worte, die an die Ohren des Jungen drangen.
Monotone Gesänge erfüllten den Raum, benebelten seine Sinne. Einige der Gestalten schritten stumm durch die Reihen und reichten den Kelch, der zuvor mit ihrem Blut und anderen Substanzen gefüllt wurde, weiter.
Auch an den Kindern ging dieses Getränk nicht vorbei, alle, die sich weigerten, bekamen das bestialisch stinkende Gebräu in Mund, Augen und Nase geschmiert.
Das kleinste Anzeichen von Widerstand wurde im Keim erstickt; Erniedrigung, Bewusstseinskontrolle, Folter, absolute Gefolgschaftstreue, totales Schweigegebot und allen voran lähmende Angst waren die Eckpfeiler, auf denen alles hier ruhte.
Der Einzelne ist nichts, die Gruppe ist alles. Die Rituale waren von unfassbarer Grausamkeit.
Die mit LSD angereicherte Blutmischung benebelte zunehmend die Sinne des Jungen, immer mehr Erinnerungen drangen vor in sein Gedächtnis und drohten ihn zu überwältigen.
Er vernahm dumpfe Stimmen, konnte jedoch nicht ausmachen, ob sie von den Anwesenden stammten oder aus ihm selbst entsprangen.
Die ganze Angst, die pochende, klaffende Wunde in seinem Unterarm, aus der er unaufhörlich weiter Blut verlor, ihm schwirrte der Kopf.
Aber er musste sich zusammenreißen.
Musste stehenbleiben.
Musste schweigen.
Musste durchhalten.
Musste Papa stolz machen.
Denn wenn Papa nicht zufrieden war, passierten meist unschöne Dinge. Oftmals verschlimmerten sich nach solchen Tagen seine Bauchschmerzen und er empfand stechende Schmerzen im Unterleib.
Er konnte sich diesen Zusammenhang zwar nicht erklären, aber er versuchte zukünftig, Enttäuschungen für seinen Papa zu vermeiden.
Denn immerhin liebte er ihn und sein Papa wollte doch nicht, dass Jeongguk verletzt wurde.
Also biss der Junge die Zähne zusammen und ließ die weiteren dutzenden Schnitte, die sie ihm nun über den Körper verteilt zufügten, ruhig über sich ergehen.
Die anderen Kinder sahen dabei zu, wie der Junge zu Boden getreten und auf den Altar gezerrt wurde.
Jeongguks Augen flatterten, krampfhaft versuchte er, bei Bewusstsein zu bleiben, doch seine Augen fielen immer wieder zu, der Blutverlust und seelische Stress waren einfach zu übermächtig.
Das Letzte was, er wahrnahm, waren unzählige fremde, kalte Hände auf seiner nackten, geschundenen Haut, dann schluckte ihn die Dunkelheit.
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Als der Junge schließlich erwachte, dachte er zunächst, er würde träumen. Der dunkle Raum war hellem freundlichen Sonnenlicht gewichen, bequem eingekuschelt saß der Junge in eine Decke gehüllt auf dem Beifahrersitz, sein Papa direkt neben ihm.
Der Junge strahlte. Was war eigentlich gerade nochmal passiert? Hatte er sich alles nur eingebildet?
Schnell folgte er seinem alltäglichen Ritual und forschte nach und nach durch seinen Körper, was alles wehtat.
Er war schon immer ein tollpatschiges Kind gewesen, hatten seine Eltern ihm erklärt. Und so kam es, dass er manchmal Verletzungen hatte, an die er sich gar nicht mehr erinnerte.
Nie waren sie an solch auffälligen Stellen wie dem Gesicht, sondern meist konzentrierten sie ich auf seine Brust, den Rücken und seinen Unterleib.
Gerade, wenn er Papa wieder enttäuscht hatte.
Aber er war sicher noch zu jung, um diesen Zusammenhang zu verstehen. Er musste sich einfach mehr anstrengen, Papa stolz zu machen, dann brauchte er sich schließlich auch nicht mehr so fühlen
Wenn er doch nur wüsste, was gerade passiert war; schon wieder schien er den ganzen schönen Tag mit Papa vergessen zu haben.
Mit aller Kraft versuchte er sich an das Vergangene zu erinnern, doch je mehr er sich anstrengte, desto weniger ließen sich die Gedanken fassen, sie entglitten ihm wie glitschige Aale.
Heute hatte es ihn besonders schlimm getroffen. Sein Unterleib wurde bei jeder Bewegung mit einem stechenden Schmerz durchzogen, sein Bauch schmerzte und um seinen linken Unterarm war ein dicker weißer Verband gewickelt.
Leise kullerten vereinzelte Tränen Jeongguks Wangen hinunter. »Es tut mir Leid, Papa. Nächstes Mal mache ich dich wieder stolz«, wimmerte er.
Jeongguks Vater wendete seinen Blick nicht von der sich vor ihm erstreckenden Straße ab. Er entfernte eine Hand vom Steuer, um sie seinem Sohn behutsam auf den Kopf zu legen und ihn liebevoll zu streicheln.
»Ich weiß, mein Sohn. Ich kann leider nichts dagegen tun, aber so ein Verhalten muss bestraft werden. Du kannst dich glücklich schätzen, einen so verständnisvollen Vater wie mich zu haben, der dich immer beschützt.«
Mit großen Augen starrte der kleine Junge zu seinem Vater hinauf.
Er hatte Recht, schoss es dem Jungen durch den Kopf, er müsste sich noch mehr anstrengen.
Die Hand des Mannes ruhte weiterhin auf dem Kopf Jeongguks in dem glasklaren Wissen, dass er die Seele seines eigenen Sohnes allmählich zum Zerbersten brachte.
Nicht mehr lange und sie könnten mit seiner Programmierung beginnen, lachte der Vater in sich hinein, während sein Sohn seine Hand ergriffen hatte und sie kichernd an seine rosige Wange schmiegte.
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