43- Grausame Wunder
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„Im Namen des Königs, öffnet die Tür!" Das dunkle Holz der Tür erzitterte unter Constantins hämmernden Fäusten. Die Anspannung der umstehenden Soldaten war greifbar. Schwer lag sie zwischen uns in der Luft und machte jede verstreichende Sekunde zu einer Ewigkeit. Allein die Flammen ihrer Fackeln tanzten zu dem Rhythmus des Klopfens.
Ich verlagerte mein Gewicht. Kein Laut war aus dem Zimmer von Lady Vanna zu hören. Nichts, das verriet, ob sich dort drinnen wirklich jemand verbarg, der die Tür verrammelt hatte.
Schließlich ließ Constantin seine Faust sinken und wandte sich seinen Männern zu.
„Findet einen Weg durch diese Tür." Er lief los den Gang hinunter mit der Entschlossenheit eines Scharfrichters.
Ich setzte ihm atemlos hinterher. Wir waren gerannt. Vom untersten Stock des einen Gebäudes über zwei Treppen hoch in die Gästequartiere. Ker mit seiner vollen Rüstung hatte uns irgendwann später eingeholt, folgte mir jetzt jedoch auf dem Fuß. Constantin ignorierte uns.
„Was hast du vor?"
Er rüttelte an der nächsten benachbarten Tür und hielt sie mir dann auf. Sein Gesicht war unleserlich vor Anspannung. Mit großen Schritten durchquerte er das verlassene, mit Tüchern abgedeckte Zimmer.
„Die Räumlichkeiten von Lady Vanna haben ein anschließendes Bad mit Balkon. Vielleicht schaffen wir es von außen herein."
Ker stoppte, den Mund ungläubig geöffnet. Ich zog ihn einfach weiter zu den Balkontüren. Nachts von einem Balkon zum anderen klettern war bestimmt nicht die beste Idee, aber die Einzige, die wir gerade hatten.
Kalte Nachtluft schlug uns entgegen und erinnerte mich unfreundlich an meinen Aufenthalt in den Zellen. Kein Stern war am Himmel zu sehen. Allein das Licht aus dem Garten und aus den Fenstern gab uns einen Eindruck davon, was wir vorhatten.
„Das ist zu weit", sagte Ker, kaum da er an der Brüstung stand und zur Nächsten hinübersah, „Ganz besonders für jemanden im Klei-..."
Das Geräusch meines reißenden Überkleids, das kurz darauf zu Boden fiel, schnitt ihm das Satzende ab. Sein Mund klappte wieder zu, doch ich konnte mir zu gut vorstellen, welcher Horror sich unter seinem Helm verbarg.
Constantin blinzelte nicht einmal, als ich neben ihm in langer Unterhose auf die steinerne Brüstung kletterte. „Willst du, oder soll ich zuerst?"
Anstatt einer Antwort drückte ich ab. Ker hatte recht: Im Kleid hätte ich das nicht geschafft. So landete ich gerade noch auf der anderen Brüstung, ehe mein Ungleichgewicht mich nach hinten zog. Meine Schuhe rutschten von der rauen Oberfläche und mit rudernden Armen versuchte ich, den Sturz zu verhindern.
Constantin landete neben mir und zog mich mit sich nach vorne, gerade als ich den Kampf gegen die Schwerkraft verlor. Er musterte mich für einen Moment kritisch, ehe er weiterlief, ohne auf Ker zu warten. Der landete einen Herzschlag später neben mir und gemeinsam eilten wir zu der Glastür ins Bad hinein.
Bereits im Bad hörten wir die Lady Vannas Schluchzen. Die Tür zum Zimmer stand einen Spalt offen und Constantin schlug sie so auf, dass der Holzrahmen ächzte.
Ich war zuvor noch nie in Lady Vannas Gemächern gewesen. Sie waren groß, allerdings nicht so weitläufig, dass jemand Empfangs- und Schlafbereich getrennt hätte. Stattdessen führten drei oder vier flache Stufen auf der gegenüberliegenden Seite zu einer Wandnische, die mit schweren violetten Vorhängen abgegrenzt worden war.
Der Boden war aus schlichtem Marmor, auf dem sich von einem riesigen Buntglasfenster die einzelnen Farben spiegelten. Es war irgendeine Szene aus Des Schriften, in denen ein Heiliger sich selbst und ein mythologisches Monster ohne Arme und Beine in einen tiefen Brunnen warf.
Lady Vanna saß vor einem filigranen Schreibtisch, dessen Schubladen jemand achtlos aufgerissen und die darin enthaltenen Korrespondenzen über den Boden verteilt hatte. Neben ihr, einen Brief noch in der Hand, stand Sebastian, das Schwert bereits gezogen.
„Was soll das, Sebastian?" Es war schwer, zu sagen, ob Constantin erleichtert war nur seinen Hauptmann zu sehen. Langsam trat er in den Raum hinein, den Blick suchend um sich werfend.
Ker und ich folgten wie zwei vergessene Kinder.
Verunsichert versuchte ich, die Situation aus dem Hintergrund zu lesen. Lady Vanna sah soweit unverletzt aus, doch ihre Schminke lief ihr in dunklen Rinnsalen die Wangen hinunter. Als sie mich bemerkte, streckte sie stumm flehend die Hände aus.
Ich wollte auf sie zukommen, doch Ker hielt mich zurück. Wortlos schüttelte er den Kopf. Wir wussten nicht, was hier vor sich ging.
Sebastian ließ ruhig den Brief sinken, den er trotz unserer Ankunft weitergelesen hatte. Sein Gesicht war entspannt, aber entschlossen. Als Constantin näherkam, reichte er ihm das Papier.
„Wusstet Ihr, dass Lady Vanna eine Hofdame Eurer Mutter war? Sie hat sogar das Schreiben aufbewahrt, mit dem sie hierher berufen wurde."
Constantin überflog die Zeilen.
„Ich habe sogar noch erste Kindheitserinnerungen an sie. Sie ging, bevor Caridad drei Jahre war."
Er warf Lady Vanna einen kritischen Blick zu, als erwarte sie, dass sie all das hier aufklären würde, doch die Frau klammerte sich stattdessen an ihrem Stuhl fest. Sie saß hinter Sebastian, sodass wir nicht zu ihr gelangen konnten, ohne an ihm vorbei zu laufen.
In meinem Verstand regte sich etwas, an das ich mich erinnern sollte, doch ich konnte es nicht ganz fassen. Hofdamen. Irgendetwas mit Hofdamen.
Sebastian nickte. „Sie hat die Kindertage Eures Bruders noch mitbekommen. Inklusive peinlicher Spitznamen, die später schnell wieder von allen im Palast vergessen wurden."
Oh nein. Eine eisige Hand legte sich auf meinen Rücken, als ich begriff, was hier vor sich ging. Egal wie ruhig die Situation wirken mochte, wir standen auf einer hauchdünnen Erdschicht, die uns jeden Moment katastrophalen Konsequenzen ausliefern konnte.
„Sebastian...", ich suchte nach den richtigen Worten, nach dem richtigen Schritt, „Wir haben darüber gesprochen, wir-..."
„Sie hat einen kleinen Jungen ermordet." Trotz seiner gefassten Stimme winselte Lady Vanna und kauerte sich weiter zusammen. Er beachtete sie nicht einmal. „Sie hat versucht, Euch und Caridad ermorden zu lassen."
Ker hob ruckartig den Kopf.
„Was soll das heißen?" Fragend sah er von mir zu Constantin und dann wieder zu Sebastian, als erwarte er, dass einer von uns die Aussage verneinen würde.
„Sie hat den Spitznamen meines Bruders verwendet, um den Verdacht von sich zu lenken", sagte Constantin ruhig, doch seine Aufmerksamkeit galt allein dem Hauptmann, der sein Schwert nicht aus der Hand gelegt hatte.
Und dann konnte ich sie doch sehen. Wie angewiderte Verachtung in Sebastians Gesicht. Er schüttelte den Kopf, als versuche er, sie loszuwerden, als versuche er, einen klaren Kopf zu behalten, doch es funktionierte sichtlich nicht. Das erste Mal seitdem ich ihn kannte, wirkte seine Narbe hässlich und abstoßend.
„Ich dachte der König-...", begann Ker, wurde sich dann aber bewusst, dass eben jener auf noch im Raum stand und korrigierte sich mit, „Ich wusste nicht, dass sich überhaupt noch ehemalige Hofdamen im Palast aufhalten. Ist sie die Einzige?"
Sebastian antwortete an Constantins Stelle: „Sie ist die Einzige, die-..."
„Habt Gnade!", heulte in diesem Moment Lady Vanna auf, sprang von ihrem Stuhl und versuchte an Sebastian vorbei zu stürzten. Dieser erwischte sie jedoch am Handgelenk und zerrte sie zurück gegen seinen Körper, die Spitze seines Schwertes gegen ihren Bauch gepresst.
„Sebastian!", fuhr Constantin ihn an, einen impulsiven Schritt in seine Richtung machend, doch der Hauptmann wich sofort zurück.
„Sie weiß noch nicht einmal, was sie angerichtet hat." Die Ruhe blätterte von ihm ab wie alte Farbe. Er war nicht direkt hysterisch, nicht neben sich oder vollkommen außer Verstand. Aber etwas hatte sich seiner bemächtigt, das ihn in stetig zurück in einen Strudel zog.
„Sebastian, bitte lass mich das regeln", versuchte ich, ihn zu beruhigen. Eine Hand nach ihm ausgestreckt, kam ich näher, „Ich bin die Richterin meines Volkes. Ich werde ein gerechtes Urteil für sie finden."
Vorsichtig passierte ich einen vollkommen erstarrten Ker. Irgendetwas an den Informationen, die Sebastian uns enthüllt hatten, hatten ihn gelähmt. Er starrte hinunter auf seine Hände, als sehe er etwas anderes, als wir alle.
Mit Gewalt riss ich meine Konzentration zurück zum Hauptmann. Sebastians Miene wandelte sich zu einem Ausdruck purer Trauer.
„Es ist nicht nur das, Dinah. Du weißt nicht, was sie angerichtet hat. Sie weiß nicht, was sie angerichtet hat." Er tat noch einen Schritt zurück und presste die Schwertspitze tiefer, bis das feste Mieder von Lady Vannas Kleid knackend nachkam. „Sie hat unser aller Leben in Gefahr gebracht und ruiniert. Sie ist schuld, dass Caridad nicht mehr hier sein kann und dass Ihr geflohen seid."
Unverständliches Flehen mischte sich in ihr Schluchzen und sie schlang ihre Finger um die Klinge, als könne sie sie so aufhalten.
„Das ist genug, Sebastian", bestimmte Constantin ruhig, doch es war ein fruchtloser Versuch.
In meinen Kopf jagten sich die Gedanken. Was meinte er damit, was sie angerichtet hatte?
„Sebastian, sie steckt nicht hinter den Attentaten auf Constantin. Ihre Tochter würde alles verlieren, wenn er st-..."
„Sebastian, leg das Schwert weg", beschwor Constantin ihn mit ruhiger Stimme, „Wir werden dich hierfür nicht zur Verantwortung ziehen, aber du musst Lady Vanna einem ordentlichen Gericht übergeben. Eines, das sich die Beweise und Fakten für ihren Fall ansieht und ein gerechtes Urteil..."
Doch seine Worte versiegten, als er bemerkte, das nichts davon Sebastian erreichte. Unwillkürlich erinnerte er mich an die wenigen Ke-enen, die ich über die Jahre in den Hinrichtungen gesehen hatte. Niemand von ihnen hatte sich gewehrt. Sie hatten Mitleid für die Ungläubigen gehabt, die an De glaubten. Für die Unverständigen, die nicht begreifen würden.
Ganz ruhig schüttelte Sebastian den Kopf, als korrigiere er einen Schüler.
„Sie ist schuld an den Attentaten auf Euch, mein König", widersprach er geduldig, „Genau wie ich-..."
„Das ist blödsinnig Sebastian", fiel Constantin ihm ins Wort und der Mund seines Hauptmannes klappte wieder zu, „Du bist vermutlich der Einzige in diesem Palast, der mich noch nicht hinters Licht geführt hat und selbst wenn du jetzt damit anfangen würdest, wärst du massiv im Rückstand zu dem, was ich allein diesen Abend erfahren habe."
Er brachte ein letztes kleines Lächeln zustande.
„Es tut mir leid, aber ich mache das hier, um meine Schuld zu begleichen." Und mit einer einzigen, kraftvollen Bewegung stieß er das Schwert durch ihren Körper, so weit bis es auch seinen traf. Lady Vanna gab keinen Laut von sich, als sie gemeinsam rückwärts taumelten. Das Buntglasfenster splitterte, als sie hindurch stürzten.
Mein Mund öffnete sich, doch ich hörte niemals meinen eigenen Schrei. Neben mir stürzten Constantin und Ker nach vorne. Ich sackte zusammen auf die Knie, die Hand vor meine Lippen geschlagen. Meine Brust zog sich so fest zusammen, bis ich keine Luft mehr bekam. Wir hatten versagt.
Jemand drehte das Schloss und riss die Tür hinter uns auf.
„Schickt jemanden nach unten! Los!" Constantins Brüllen klang so weit entfernt. Die polternden Schritte der rennenden Soldaten sandten Erschütterungen durch meinen Körper, die meine Zähne zittern ließen.
Warum hatte er das getan? Es war der einzige Gedanke, der sich in meinem Kopf formen wollte.
Alles um mich herum zerschmolz.
„Dinah", Ker hockte vor mir, ohne dass ich gesehen hatte, wie er zu mir zurückgekehrt war, „Dinah, sieh mich an."
Warum hatte er das getan?
Meine Hände bebten in meinem Schoß, doch mein Blick galt allein dem zersprungenen Fenster. Warum hatte er das getan?
„Dinah, du musst atmen." Das war Constantin. Seine blonden Haare verschwammen für mich mit der blau bemalten Decke. Jemand packte mich an den Schultern und zog mich hoch auf die Beine. Constantin nahm mich entgegen und drückte mich gegen seinen Oberkörper. Meine Tränen sickerten in den Stoff seiner schwarzen Jacke. Warum hatte er das getan?
Es dauerte eine Ewigkeit, bis sich meine Atmung wieder beruhigte. Bis ich wieder zwei Gedanken aneinanderreihen konnte.
‚Ihr wisst nicht, was sie getan hat.' Sie hatte Caridad ermorden lassen. Aber das wussten wir.
Ich spielte die Situation wieder und wieder in meinem Kopf durch. Auf der Suche nach einer Antwort. Auf der Suche nach einer Möglichkeit, wie wir es hätten verhindern können. Warum hatte er nicht mit sich reden lassen?
Einer der Soldaten kehrte zurück und fragte Constantin, etwas. Ihre Konversation war kaum mehr als das Rauschen meines eigenen Pulses in meinen Ohren. Was hatte er gemeint mit: Sie weiß nicht, was sie angerichtet hat?
„Das ist alles meine Schuld." Ker hatte leise gesprochen, doch seine Worte schnitten klar durch den Nebel, der mich gefangen hielt. Ich öffnete die Augen. Er stand in den Scherben und sah nach draußen. Bewegungslos wie eine Statue und doch nicht mehr, als ein Geist seiner selbst.
Vorsichtig löste ich mich von Constantin und er kehrte langsam zu der Tür zurück, um weitere Befehle zu geben. Er war nur ein Soldat. Er hätte niemals seinen Hauptmann...
„Aber ich schwöre, ich habe es nicht gewusst." Ker schien noch nicht einmal zu bemerken, dass ich ihn hörte. Dass er nicht nur zu sich selbst sprach.
Er war groß, fast eine Handbreit größer als Constantin. Seine Rüstung passte ihm nicht wirklich und ließ mehrere Stellen zum Angriff frei. Vor allem aber sein Schwert fiel mir ins Auge. Mit einem dieser Art hatte mein Vater mich früher trainieren lassen. Der Griff war kleiner als die der herkömmlichen Wachsoldaten. Es steckte zwar in der typischen Schwertscheide, aber war vermutlich zu klein dafür. Ein Schwert, das jemand vom Pferd aus verwenden würde. Nicht für Schlachten. Aber auch nicht für ein Zweikampfduell. Es war Zierde.
Aus irgendeinem Grund ließ mich die Erkenntnis vollkommen ruhig werden. Der Strudel in meinem Verstand ebbte ab und meine Sicht wurde klarer. Vielleicht das erste Mal seit Monaten.
„Du bist der Auftragsmörder. Der, der auf Constantin geschossen hat."
Ruckend, schrittweise, löste Constantin sich aus der Konversation an der Tür und drehte sich zu uns um. Seine Miene war unleserlich, doch ich spürte selbst auf die Distanz, wie er sich zum Angriff bereit machte.
Ker starrte weiterhin nach draußen. Fast schon in sich versunken wanderten seine Finger zu dem Schreibsekretär von Lady Vanna und hoben eine vergessene Brille auf.
„Ich dachte wirklich, dass er den Brief geschrieben hätte. Dass er fähig wäre seinen eigenen Bruder hinzurichten, wegen nichts weiter als seiner dummen, zerstörerischen Eifersucht."
Sehr langsam legten sich Constantins Finger um seinen eigenen Schwertgriff. Behutsam, wie ein Jäger trat er neben mich.
„Sebastian wusste davon." Es war die einzige Erklärung, warum er nicht nur Lady Vanna, sondern auch sich selbst umgebracht hatte.
Ker hob einen Arm und Constantin zuckte vor, doch der Soldat zog lediglich seinen Helm vom Kopf.
Rötliche Narben liefen seinen Nacken hinab, grausam und tief. Er drehte uns sein Gesicht zu.
„Er hat mir das Leben gerettet."
Für einen kurzen Moment war ich mir sicher, alles um mich herum wäre stehen geblieben. Die roten Narben zogen sich auch durch sein Gesicht. Sie waren tief und verzweigt, als hätte jemand mit einem Messer versucht ein Kunstwerk zu schnitzen. Aber nichts hätte ihn für mich entstellen können. Nicht, wenn ich manchmal noch von diesen Augen träumte.
„Caridad-...", sein Name verfing sich in meiner Kehle. Das war unmöglich...
Er vollbrachte ein kleines, gequältes Lächeln und setzte die feine Brille auf. Die Welt noch einmal aus ihren Augen sehen.
„Es tut mir so leid, Dinah. Ich wollte es dir sagen."
Neben mir wurde Constantin stocksteif. Er sah aus, als würde er neben mir an seinen eigenen Emotionen ertrinken, die er so gut hinter seiner Maske verschloss. Doch schließlich brachte er ein einziges Wort hervor: „Warum?"
Caridads Lächeln wurde noch eine Spur gequälter.
„Zufall, Glück. Nenn es, wie du willst. Er fand mich gleichzeitig wie der Auftragsmörder von Lady Vanna", er machte eine unbestimmte Geste über die Narben in seinem Gesicht, „Er rettete mir das Leben, oder was noch davon übrig war."
Sie glänzten selbst im kargen Licht des Zimmers. Nässend, selbst nach all den Monaten. Er musste Schmerzen haben.
„Du nimmst schon wieder das Gift", sagte Constantin tonlos, „Deswegen kannst du sprechen. Deswegen heilen sie nicht richtig."
Ein humorloses Lachen rang sich aus Caridads Brust. „Du kennst mich zu gut. Stellt sich heraus, dass Alkohol die Wirkung noch verstärkt. Ich kann noch klarer sprechen. Fast wie früher."
„Aber es wird dich auch schneller umbringen." Constantins scheinbare Ruhe strich kalt gegen meine Haut. Er würde sie nicht mehr lange halten können.
Caridad zuckte nur mit den Schultern. „Hiernach habe ich nicht viel zum Weiterleben, nicht wahr? Ich habe auf den König von Clevem geschossen. Mehrfach. Hochverrat wie er in Des Schriften beschrieben wird."
Und ganz langsam, begriffen wir, was Sebastian gemeint hatte. Lady Vanna hatte Bruder gegen Bruder gewandt. Sie hatte nicht nur ein unschuldiges Kind umgebracht, sie hatte diese Familie zerstört. Und es war ein Wunder, dass nicht noch so viel mehr kaputt gegangen war.
Es sei denn... Ich hob den Kopf. Eine kleine Erinnerung drängte sich mir auf.
„Caridad, du warst Meister der Jagd. Du hättest deutlich mehr als das Trinken müssen, um Constantin so oft zu verfehlen." Einmal ganz davon abgesehen, wie oft er noch die Gelegenheit gehabt hatte, um ihn anders aus dem Weg zu räumen. „Du wolltest ihn nicht umbringen, du wolltest ihm Angst machen."
Still ging Caridad in die Hocke und hob eine größere Scherbe vom Boden auf.
„Ich bat Sebastian, zurück zum Hof zu reiten und mich für tot zu erklären. Ich hatte Angst, dass sonst weitere Mörder folgen würden und ich wollte dich einfach nur zurück nach Hause bringen.
Aber dann fand ich den Auftrag, geschrieben auf meinen Kindernamen und ich konnte nicht glauben, dass Constantin wirklich so weit gegangen war." Er hob den Kopf und zum ersten Mal sah er seinen Bruder offen an. „Ich ritt zurück und wollte dich zur Rede stellen, aber dann fandet ihr sie. Und meine Angst um sie und was du ihr vielleicht antun würdest, überstieg jeden guten Vorsatz. Ich wollte, dass sie wieder von hier flieht."
Neben mir ballte Constantin eine Hand zur Faust, doch ansonsten rührte er sich nicht.
„Du hättest wissen sollen, dass ich eher den gesamten Zirkel niederbrennen würde, als ihr etwas anzutun."
Wieder dieses ausgehöhlte Lachen aus Caridads Mund.
„Das ist der Punkt, nicht wahr? Bis dahin dachte ich auch, dass du niemals mir etwas antun würdest." Seine Stimme wurde fester und er richtete sich wieder auf. „Sebastian kam hinter mein Spiel, als die Nachricht an deiner Tür auftauchte. Er beschwor mich, aufzuhören bevor es kein Zurück mehr gäbe. Er sagte, ich solle Clevem verlassen und nie wiederkehren."
„Er hätte niemals über deinen Tod lügen dürfen." Es war ein harter Vorwurf aus Constantins Mund, doch als ich mich zu ihm umdrehte, sah ich, dass er seine ruhige Maske verschwunden war und er das volle Maß seiner Trauer zeigte. Ohne mich oder seinen Bruder direkt anzusehen, drehte er sich um und verließ das Zimmer.
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Ich fand Constantin auf dem Dach sitzend. Die Dunkelheit der Nacht verbarg ihn beinahe vollständig in dem kleinen Fenstererker, den er heiligte wie seinen Thron über diese Welt.
Er sah nur kurz zu mir herüber, als ich über das Geländer des angrenzenden Balkons kletterte. Unter uns flackerten die Lichter der Stadt in der Nacht.
„Hast du ihm auch gesagt, dass er nach Kesh fliehen soll?"
Ich scheuchte ihn zur Seite, um mich neben ihn auf das kleine Fensterbrett zu quetschen und er machte willig Platz.
„Er will Sebastians Körper nicht verlassen." Ganz gleich, wie lange ich auf ihn eingeredet hatte, wie ich gebettelt und gefleht hatte. Caridad fühlte sich verantwortlich. Schuldig.
Constantin tat einen tiefen Atemzug. Ihm musste kalt hier draußen sein. So eisig hatte ich die Nächte in Clevem noch nie erlebt. Doch er zitterte nicht.
„Wenn irgendjemand davon Wind bekommt, was sich heute zugetragen hat, werde ich keine andere Wahl haben, als ihn hinzurichten", er drehte sich zur mir um und mein Herz brach ein Stück für ihn, „Dinah, ich kann meinen kleinen Bruder nicht hinrichten."
Etwas in ihm war erloschen. Der Verlauf der heutigen Nacht hatte ihn seine Familie gekostet. Alles, was er noch als Rückhalt in dieser Welt besessen hatte.
Zögerlich streckte ich eine Hand aus und legte sie an seine Wange. Seine Haut war kühl, rau und so vertraut wie nichts anderes in dieser Welt für mich. Selbst diese kleine Berührung weckte in mir den Wunsch nach mehr. Den Wunsch, mich wieder an seiner Schulter zu vergraben und nie wieder loszulassen. Aber er sah so müde aus. So unendlich müde, als hätte er einen zu langen Kampf geschlagen. Und egal wie sehr ich Schwäche zeigen wollte, ich tat es nicht.
Die Augen geschlossen lehnte er sich in meine Handfläche. Er wusste es auch. Die Nacht war noch nicht vorbei und mit dem Licht des Tages würden die Konsequenzen kommen, ob wir wollten, oder nicht.
„Ich kann es nicht mehr unterscheiden", murmelte er, „Was war alles eine Lüge?"
Ich wusste sofort, wovon er sprach. Behutsam zog ich meine Hand wieder zurück und er öffnete die Augen. Ihre zwei Farben gewannen an Intensität, als hinter der Stadt die ersten Sonnenstrahlen den Horizont erleuchteten.
„Erstaunlich wenig", meine Mundwinkel hoben sich, „Du hast mich in dich verliebt und als man mir sagte, was das Endziel kosten würde, bin ich abgehauen."
„Du hast mich in dich verliebt?", er lachte leise, „Ich bin mir ziemlich sicher, dass es andersherum war."
Ich wollte lächeln, aber ich konnte nicht. Wollte ihm eine lose Strähne aus dem Gesicht wischen, doch meine Hände blieben in meinem Schoß liegen.
„Niemand könnte dich zu irgendetwas bringen. Du bist viel zu starrsinnig. Das ist der Grund, warum du auch diese Nacht überstehen wirst."
Etwas in meiner Wortwahl hatte mich verraten. Die Augenbrauen zusammengeschoben, musterte er mich eindringlich.
„Du meinst hoffentlich ‚Wir werden diese Nacht überstehen.' Ironischerweise sind wir noch nicht geschieden. Und um ehrlich zu sein, habe ich neuerdings Zweifel an den familiären Bedingungen meiner anderen Frau."
Schmerzen. Ich hielt es nicht mehr aus. Ohne ihn anzusehen, stand ich auf und lief zur Kante des Hausdachs. Mit Blick auf die Stadt waren die folgenden Worte zumindest aussprechbar.
„Du wirst mich ebenfalls hinrichten müssen. Oder aus Clevem verbannen."
Ein dumpfer Laut verriet, wie schnell er aufgestanden war.
„Für was? Du hast quasi in jeder Hinsicht versagt: Ich lebe noch und das dank dir."
Ich wollte mich nicht zu ihm umdrehen und das Spiegelbild meines Leidens in seinem Gesicht sehen. Es war so schon schwer genug, warum konnte er nicht einfach auf mich hören? Aber er würde mir nicht glauben, so lange ich es ihm nicht ins Gesicht sagte.
„Ich habe dir damals versprochen, dass ich an deiner Seite kämpfen würde", mit einem tiefen Seufzen kehrte ich der aufgehenden Sonne den Rücken zu und sah ihn an, „Aber du brauchst die Kirche noch mehr. Deine Leute brauchen die Kirche."
Der Primus hatte die Macht Clevem von der Karte unserer kleinen Welt zu entfernen. Doch das wollte Constantin nicht hören.
„Es ist mir egal, was die Leute brauchen."
Ich lachte halbherzig auf.
„Wer ist jetzt der Lügner?"
Er sagte nichts und ich seufzte.
„Constantin, der Primus wird keine Ke-enin als Königin dulden. Selbst wenn du nicht mit Akemira verheiratet bleibst, mein Geheimnis ist raus und weitere Konsequenzen werden folgen."
Aber er hatte jeden Humor verloren. Zorn verfestigte sich in seinen Zügen, in seinen geballten Fäusten.
„Wenn ich mich von dir Scheiden lasse, wirst du von hier verschwinden müssen. Für immer."
Als wüsste ich das nicht. Irgendwo über uns wartete bereits eine trostlose Insel auf mich.
„Aber das habe ich auch das letzte Mal gedacht, als ich gegangen bin. Und sieh, was daraus geworden ist."
Das war der einzige positive Gedanke, an dem ich mich festklammern würde. Ein winziger Funken Hoffnung in dem bedeckten Nachthimmel über uns.
„Verabschiede dich von Caridad. Es ist ein Wunder, dass du dazu die Chance bekommen hast", sagte ich schließlich, die Hände gegen die Kälte aneinander reibend.
„Ein grausames Wunder", er verzog den Mund, „Das hier ist alles, was ich mir vor knapp einem Jahr gewünscht habe: du wieder an meiner Seite, mein Bruder lebendig. Wir leben auf der dunkleren Seite der Spiegelwelt, in der es nur schreckliche Enden gibt."
Da hatte er Recht. Wenn das hier wirklich das Ende war. Vielleicht gab es ja doch noch irgendwo in diesem müden Verstand von mir eine letzte Idee. Ein Wunder von der schönen Sorte.
Und dann begann es zu schneien.
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https://youtu.be/hsL_ivZi044
"Jedes Sternchen könnte mir beim Denken helfen." - Dinah.
So. Den Epilog gibt es aber wirklich erst Montag :D
Noch offene Fragen?
Zavabe bekommt dann den Epilog gewidmet :D Als Anführerin der Rebellion :D
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