Die Vergangenheit - Die Suche #6
Sahira wurde durch ein eiskaltes Prickeln, das ihren Körper durchzog, geweckt. Sie befand sich scheinbar in einer Höhle, völlig abgeschnitten von jeglichem Licht. Von der Decke troff Wasser in kleinen Tröpfchen. Es hatte ihre Kleidung in den vergangenen Minuten weitgehend durchnässt.
Waren es überhaupt Minuten gewesen? Oder lag sie schon Stunden, gar Tage hier? Sie kramte in ihrer Erinnerung, aber grausame Kopfschmerzen verhinderten fast jeden klaren Gedanken. Das Aufstehen verursachte ihr Schmerzen, hervorgerufen durch Prellungen, die ihren ganzen Körper überzogen. Glücklicherweise schien sie sich nichts gebrochen zu haben, sodass sie zumindest überhaupt bewegungsfähig war.
Mit wackeligen Schritten, immer eine Hand stützend an der Wand, bewegte sie sich vorwärts. Entgegen den Behauptungen, das Loch sei unendlich tief und die grausamsten Gestalten der Unterwelt hausten darin, war es einfach nur ein unterirdischer Gang. Sahira konnte sich nicht vorstellen, dass er unendlich lang war, aber zumindest lange genug, um darin schmählich zu verhungern. Die Wände waren mit ihr unbekannten Pflanzen überwuchert, die wohl keinerlei Licht benötigten. Im Gegensatz zu Sahira, die zwar auch im Dunkeln gut zu sehen vermochte, in der totalen Finsternis jedoch auch nichts sah. Bei jedem, Schritt den sie mühevoll machte, drohten ihre Beine einzuknicken. Mehrfach war sie versucht aufzugeben, aber sie klammerte sich verzweifelt an die Hoffnung wieder ins Freie zu geraten - Asmos wieder zu sehen. Beinahe hätte sie über sich selbst gelacht. Sie hatte für ihre Liebe gebüßt und würde nun vielleicht dafür sterben müssen und dennoch schien es ihr das Wichtigste, selbst in dieser Situation.
Als sie noch einige Schritt weiter ging, spürte sie unerwartet, dass vor ihr kein Boden mehr war. Sie hatte nicht die nötige Kraft, zurückzuspringen und rutschte vorneweg über einen kleinen Hang hinunter. In einer Wolke aus Staub und Gesteinsbröckchen kam sie wenige Schritt weiter unten an. Hier war sie zwar noch immer von Dunkelheit umgeben, aber sie erkannte vage Umrisse um sich herum, auch wenn diese nur aus leichten Grautönen zu bestehen schienen, als wäre jegliche Farbe aus der unterirdischen Höhle verbannt.
Vor sich machte sie den Grund für ihre bessere Sicht aus. Durch die Höhlendecke fielen vereinzelte Lichtstrahlen ein, gerade einmal genug, um ihrem verzweifelten Geist ein wenig Mut einzuhauchen. Mehr kriechend als gehend, bewegte sie sich auf die Stelle zu. Ihre Hand fuhr geradezu ehrfürchtig durch den Dreck, der vom Lichtschein berührt wurde. Kleine Wölkchen aufgewirbelten Staubs flogen auf und ließen Sahira niesen. Der Laut hallte in dem weitläufigen Gangsystem gespenstig wieder. Ein Scharren ließ Sahira aufmerken. Ihre feinen Ohren konzentrierten sich sofort auf den Bereich vor ihr, den ihre Augen kaum erreichten.
Die kurze Freude über das Licht wurde durch Angst ersetzt. Hatte sie mit ihrem Niesen die Ungeheuer des Abgrunds geweckt? Kamen sie nun, um ihre martialischen Gräueltaten an ihr auszuüben? Sie lehnte sich gegen eine Wand und drückte sich mit den Beinen in die Höhe. Wenn sie sterben musste, dann würde sie zumindest jeden Funken Leben in ihrem Körper eisern verteidigen. Eine gebückte Gestalt näherte sich ihr. Sahira glaubte, menschliche Umrisse auszumachen. Konnte es sein?
Für einen Moment betrat die Gestalt den schwachen Lichtschein. Sie erhaschte verfilztes, ergrautes Haar, einen von der Zeit der Gefangenschaft krummen Rücken und einen Schimmer von Hoffnung in dem uralt wirkenden Gesicht. Im Gegensatz zu ihr beeilte er sich, das Licht wieder zu verlassen, als täte es ihm weh. Als er nur noch eine Armeslänge von ihr entfernt war, konnte sie seinen schwachen Atem hören. Einen Atem, der von ständiger Anstrengung kündete, als wäre ihm die Luft zu knapp. Er sagte nichts, vielleicht hatte er seine Sprache verlernt oder war dem Wahnsinn verfallen.
Als er seine Hand ausstreckte und ihr Gesicht berührte, erkannte sie aber vor allem eins: Er hatte hier unten überlebt. Sie ließ es über sich ergehen, dass er sie mit den Händen musterte. Sie waren rau und kündeten von unermüdlicher Arbeit. Vielleicht bei dem Versuch zu entkommen? In der Oberwelt hätte sie jemanden, der ihr zur Begrüßung mit den Händen im Gesicht Herumgrabbelte, sofort vom Antlitz der Erde verschwinden lassen, aber das war hier wohl ihr geringstes Problem. Als seine Hände weiter nach unten wanderten, griff sie sanft danach und drückte sie zurück.
„Du bist eine Frau", sagte der alte Mann verschmitzt. Er redete in der Sprache der Aculeten, klang dabei aber unbeholfen, als hätte er schon viele Zeitkreise lang kein Wort mehr gesprochen. Irgendwie verständlich, dachte sie sich.
„Hier unten war schon lange keine Frau mehr", stellte er fest.
Sie zuckte nur die Schultern und betete innerlich, dass er nicht auf den Gedanken kam, sie als seine persönliche Spielgefährtin einzustufen. Als er sich wieder umdrehte und davon ging, zerstoben derlei Gedankengänge. Es war, als hätte er von einem auf den anderen Moment das Interesse an ihr verloren. Verstört sah sie ihm nach, bis er in der Schwärze der Höhle verschwunden war. Es schien ihm nicht schwerzufallen sich hier unten zurechtzufinden. Wahrscheinlich kannte er jeden Winkel der Höhle auswendig. Was allerdings bedeuten würde ...
Sie brachte den Gedanken nicht zu Ende und folgte ihm. Er würde ihr Rede und Antwort stehen müssen.
Sahira ging dem alten Mann nach, bis dieser das Ende eines stetig leicht nach oben verlaufenden Gangs erreichte. Auf dem Weg folgte sie seinem Beispiel, rupfte vereinzelte, aus der Wand ragende Wurzeln aus und verspeiste sie. Sie fühlte sich ständig wie völlig ausgehungert, hatte keine Scheu mehr auch die unbekanntesten Pflanzen, die die feuchten Wände bedeckten, zu essen. Der Alte vor ihr tat das so nebensächlich, als verbrächte er seinen ganzen Tag damit. Das Licht war irgendwann dermaßen weit entfernt, dass sie seine Bewegungen kaum mehr ausmachte. Sie musste sich voll und ganz auf ihr, glücklicherweise gut ausgebildetes, Gehör verlassen.
Das stete Scharren seiner Füße hielt inne. Ein klopfendes Geräusch weckte ihr Interesse. Scheinbar hatte ihr Anführer mit einem Werkzeug, oder mit einem einfachen Stein begonnen, die Wand vor sich zu bearbeiten.
„Was tust du da?", fragte sie frei heraus. Er gab ihr keine Antwort, worauf sie ihn an der Schulter packte. Seine schweigsame Art und Weise, welche er sich in den langen hier unten verbrachten Zeitkreisen angelegt hatte, war ihr egal. Sie wollte Antworten.
„Was geht hier vor? Wie lange lebst du hier schon? Antworte mir!"
Sie griff nach einer rankenartigen Pflanze, die sich über die Länge eines Schritts über die Wand räkelte. Mit einem kraftvollen Ruck riss sie diese heraus und aß sie begierig. Der Geschmack ekelte sie an und sie drohte sie wieder herauszuwürgen. Doch ihr quälender Hunger zwang sie das Gewächs hinunterzuschlucken. Kaum verspeist überkam sie erneut ein Hungergefühl. Es nahm einfach kein Ende, egal wie viel sie aß. Aufkeuchend ließ sie sich auf die Knie sinken. Es war ihr, als verlöre sie die Kontrolle über ihren Körper. Der Alte gab noch immer keine Antwort.
„Ich werde hier noch verrückt! Hilf mir! Bitte!", flehte sie ihn an. Ihre Verzweiflung schien ihn auf irgendeine Weise zu berühren. Er seufzte vernehmlich, ehe er sich, wie Sahira annahm, zu ihr umdrehte. Direkt vor ihr setzte er sich auf den Boden.
„Was willst du wirklich wissen?", begann er. „Wie man hier herauskommt? Das wollen die meisten von mir. Sie glauben, ich kann sie retten." Er lachte schrill. „Man entkommt dieser Höhle nicht. Willst du wissen, warum du ein ständiges Hungergefühl verspürst? Das kann ich dir sehr wohl sagen, auch wenn ich es nicht mit Sicherheit weiß. Hier unten läuft die Zeit schneller - viel schneller." Er wollte fortfahren, aber sie kam ihm zuvor.
„Wie meinst du das, die Zeit läuft schneller?"
„Gib mir deine Hand."
Sie tat wie geheißen, auch wenn sie sich ein wenig davor ekelte seine uralte zerfurchte Hand zu berühren. Er führte ihre Hand zur Wand, wo sie eine Pflanze berührte, die über winzig kleine Blättchen verfügte.
„Spürst du es?"
„Was soll ich spüren?", fragte sie vorschnell. Er gab ihr keine Antwort darauf, weswegen sie sich ganz auf das Gefühl an ihrer Hand konzentrierte, um zu verstehen, was er meinte. Dann wusste sie, worum es ging. Zwar geschah es quälend langsam, aber sie fühlte wie die Pflanze unter ihrer Hand wuchs. Ein Blatt, das eben noch zärtlich und klein war, drang zwischen ihren Fingern hervor. Erschrocken nahm sie ihre Hand zurück.
„Wie schnell ..." Sie stockte mitten im Satz. Nachdem sie einmal tief durchgeatmet hatte, fuhr sie fort. „Wie schnell vergeht die Zeit hier unten?"
Der alte Mann schüttelte nur den Kopf. „Ich weiß es nicht. Ich war jung, als ich hier unten ankam. Heute bin ich alt, aber es kam mir nicht allzu lange vor. Nicht allzu lange ...", sinnierte er.
Sahira versuchte ihr aufgewühltes Gemüt zu beruhigen, indem sie das Gespräch auf ein anderes Thema lenkte: „Versuchst du durch diesen Gang zu entkommen?"
Er lachte auf. „Selbst wenn es möglich wäre, sich aus dieser unendlichen Tiefe so weit nach oben zu graben, dann wäre ich wohl tot, bevor ich das bewerkstelligt hätte."
„Warum also?"
„Die Nahrung hier unten wird rasch knapp. Hier hat nie mehr als nur ein Wesen gelebt."
„Und du baust den Gang weiter, damit mehr Platz für das Pflanzenwachstum da ist?" Die Frage kam ihr lächerlich vor.
„Ja", antwortete er schlicht.
„Gab es nie mehr als einen Verbrecher hier unten?"
„Doch natürlich. Aber nur für kurze Zeit."
Sahira schluckte unwillkürlich. Sie konnte sich vorstellen, was das bedeutete. „Sind sie an der schnellen Alterung gestorben?", fragte sie beklemmt.
„Nein. Wegen der knappen Lebensmittel. Du bist eine Frau. Es wäre schön, wenn ich dich nicht umbringen müsste. Ich habe schon viele getötet." Er lachte wieder auf diese unsäglich schrille Art und Weisen.
„Du hast jeden anderen umgebracht?"
„Hier unten gibt es nur zwei Möglichkeiten für einen Neuankömmling. Entweder er tötet seinen Vorgänger oder wird von diesem getötet. Vielleicht schaffen wir es eine Weile zu zweit. Aber du isst viel für eine Frau. Ich dachte, du brauchst weniger."
„Gibt es keine andere Möglichkeit?"
„Manche versuchen, durch das Tor der Palanxen zu kommen, und sterben dabei. Aber es wäre wirklich schade, wenn du stirbst. Schade um das Fleisch, verstehst du?"
„Das Tor der ...?" Sahira konnte den Satz nicht mehr beenden. Eine Welle der Übelkeit überschwemmte sie. Schon eine ganze Weile lang hatte sie eine Veränderung in ihrem Bauch bemerkt, die sie geflissentlich ignoriert hatte. Jetzt konnte sie es nicht mehr länger abtun, was mit ihr geschehen war. Jetzt wo sich die Prozedur um ein Vielfaches schneller abspielte. Schon nach ihrem Erwachen, hatte sie die leichte Wölbung ihres Bauchs gespürt. Sie würde Asmos Kind empfangen.
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