Die Vergangenheit - Bruderliebe #4
Sahira erinnerte sich kaum an die Rückreise. Als sie an ihrem mageren Körper herabsah, wusste sie nicht, ob dieser von der knappen Wegzehrung rührte. Oder doch eher an der Geburt ihres Kindes? Sie versuchte, in der Menschenmenge die Hebamme auszumachen, die es gleich nach der Entbindung an sich genommen hatte. Ihre Gedanken schlugen Purzelbäume. Sie entsann sich gar nicht mehr richtig, was überhaupt passiert war.
Schwarzdorn! Man hatte ihr ein Schmerzmittel aus der Frucht dieser Pflanze gegeben, um die Geburtswehen zu lindern. Aber was tat sie hier? Ihre trüben Augen wanderten über ihre Handgelenke, die mit strammen Seilen an einem hölzernen Podest befestigt waren. Ein Richtpflock, schoss es ihr in den Sinn. Panik stieg in ihr auf, welche die Benommenheit beiseiteschob.
Ichiro hatte sie erneut verraten! Sie schüttelte wild den Kopf, versuchte, das taube Gefühl endgültig abzustreifen und sich zu erinnern. Aber es war, als wäre alles Erlebte wie weggewischt. Das einzige Gefühl, das nun beherrschend wurde, war das einer Mutter, die um ihr Kind bangte. Ihr verzweifelter Blick suchte es erneut in der Menge, die johlend und feixend vor der kleinen Tribüne versammelt war. Unter ihnen machte sie Ichiro aus. Einer der Richter, der bei ihrer damaligen Verurteilung dabei gewesen war, überreichte ihm gerade ein Amulett – ein Ehrenabzeichen für besondere geleistete Dienste.
„Für Verrat an der eigenen Familie!", schrie sie ihre Gedanken wie im Wahn hinaus.
Ichiro wollte sich das Kleinod gerade überstreifen, da sah er zu ihr hinauf. Sein feixender Blick glitt über ihren gekrümmten Körper, ehe er es dann genießerisch anlegte. Er hatte sie zum zweiten Mal verraten und sie war so dumm gewesen, ihm zu vertrauen. Mit aller Kraft riss sie an ihren Fesseln, doch ein Hieb gegen ihren Kopf brach auch diesen letzten Widerstand. Wütend sah sie zu dem Aculeten auf, der ihr diesen verpasst hatte. Er war nur wenig größer als sie, dafür aber um einiges kräftiger gebaut.
Vor sich machte sie kein Richterpult aus – es war eine Vollstreckung, keine Anhörung. Ihr Bewacher war ihr Henker, jemand der sich etwas zuschulden kommen lassen hatte und durch die Tötung eines Verräters wieder eine weiße Weste bekam. Die Aculeten waren ein geduldiges, besonnenes Volk. Selbst bei einer derartigen Zeremonie gab es kein wildes Gebrülle und Gezeter, so wie man es bei den Vrynn erwartet hätte. Jedoch merkte man sogar ihnen die steigende Unruhe an, den Schrei nach Gerechtigkeit. Man wollte die Verräterin enthauptet sehen, den Dorn im Auge der Gesellschaft. Der Richter, der eben noch das Amulett verliehen hatte, gab dem Henker ein Handzeichen, worauf dieser gemächlich sein Schwert erhob.
Ein letztes verzweifeltes Mal suchte Sahiras Blick in der Menge ein vertrautes Gesicht. Aber bis auf Ichiro, der das Szenario mit verschränkten Armen verfolgte, entdeckte sie niemanden Bekanntes. Wie auch? Zwei ihrer Brüder waren tot, gestorben wegen der Prophezeiung einer Verrückten. Ihre Mutter musste völlig in Trauer versunken ... Überrascht riss sie die Augen auf, als sie ihre Mutter in eine Kapuzenrobe gehüllt näherkam. Man sah ihr die Eile an, doch gleichzeitig versuchte sie, so wenig Aufmerksamkeit wie möglich auf sich zu ziehen. Neben sich hörte Sahira den Henker ein letztes Mal kräftig einatmen; er bereitete den entscheidenden Schlag vor. An der Seite ihrer Mutter ging eine weitere äußerst hochgewachsene Gestalt.
Dieser Hüne trug eine ähnliche Gewandung, die jedoch nicht in der Lage war, seine langen braun gebrannten Beine zu verdecken. Kaum erreichte er den Rand der Versammlung, riss er sich die Kapuze vom Kopf. Darunter kam ein energisches, kantiges Gesicht hervor, das Sahira auffallend bekannt vorkam. Sein voller schwarzer Bart verfärbte sich im selben Moment silbrig. Das ganze Gesicht wurde mit einem Mal länglicher und der Rest seines Körpers verbog sich knackend. Wie unter Krämpfen sank er auf alle viere herab. Auch der Henker schien den Mann zu bemerken und hielt für einen Moment in seinem Tun inne.
Die empörte Menge verlor endgültig die Fassung und schrie ihm ihre Wut entgegen. Das Geschrei verebbte sofort, als sich eine majestätische wie auch gigantische Wolfsgestalt mit einem kraftvollen Sprung über sie hinwegbewegte. Der völlig perplex Aculet neben Sahira wusste gar nicht, wie ihm geschah, als das Tier seine Kehle zerbiss und sein Blut in alle Richtungen verteilte.
Sahira kannte dieses Tier, doch sie hätte nie erwartet, dass es ihr einmal zur Hilfe eilen würde. Er betrachtete sie für den Bruchteil einer Sekunde mit einem Blick, den Sahira als Zuneigung deutete. Doch auf welcher Basis gründete diese? Sie konnte nicht darüber nachdenken, denn schon zerbiss er ihre Fesseln, packte sie am Kragen ihrer Kleidung und setzte mit ihr erneut über die Menge hinweg. Doch er hatte wohl nicht damit gerechnet, dass die Leute sich so schnell wieder von dem kurzen Schock erholte: Kaum berührten seine Pranken den Boden, da stieß auch schon der Erste ein Kurzschwert in seine Hinterläufe. Schmerzerfüllt brüllte das Tier auf und drohte Sahira fallenzulassen. Doch ein viel stärkerer Wille ließ ihn seinen Schmerz ignorieren.
Mit weit ausholenden Sätzen lief er auf das Tor des inneren Rings zu, das sich bereits schloss. Auf den Türmen ringsum läuteten längst die Alarmglocken, die Sahiras Verstand bisher ausgeblendet hatte. Sie sah unter der schaukelnden Bewegung kaum etwas, zudem drückte ihr der Kragen ihres Oberteils langsam aber sicher die Luft ab.
Ihr Gehör nahm die Geräusche von Pfeilen wahr. Sie erfüllten die Luft wie das Sirren eines wütenden Bienenschwarms. In dieses Crescendo aus Lauten mischte sich der stoßweise Atem des Wolfs wie ein tiefer Bass, der all dies zu übertönen versuchte. Hin und wieder spürte sie ein Zucken, das von seinem Körper ausging und sich in den ihrigen fortsetzte. Er schaffte es sicher nicht, dem Beschuss völlig zu entgehen, und die Aculeten wussten, wo sie ihn treffen mussten. Er erreichte das herabsinkende Gatter um wenige Augenblicke zu spät, es war bereits fast komplett heruntergelassen. Eilig versuchte der Wolf, sich darunter durchzugraben, doch er verwarf die Idee so schnell, wie sie ihm gekommen war.
„Festhalten", lautete der knappe Befehl ihres Beschützers. Gleich darauf spürte Sahira einen Ruck durch ihren Körper gehen. Er sprang weit nach oben, versuchte doch tatsächlich, an dem Gatter emporzuklettern. Während er sie weiter in die Höhe transportierte, konnte sie schon ihre Häscher ausmachen. Sie würden sie bald erreichen.
Der Beschuss hatte nicht nachgelassen – im Gegenteil er schien sogar zuzunehmen. Sie spürte vereinzelte Blutstropfen über ihr Gesicht laufen, die nicht ihre eigenen waren. Der bisher beinahe majestätisch an- und abschwellende Atem des Tiers klang mittlerweile mehr nach einem Röcheln. Endlich erreichte er das obere Ende des Torgatters. Nun trennten sie nur noch wenige Meter Gestein von den rettenden Zinnen. Mit den Hinterpfoten stützte er sich auf einer Metallstrebe ab und ging in die Hocke. Dann setzte er mit einem Kraft sprühenden Satz nach oben. Doch seine nachlassenden Reserven forderten auch von diesem gewagten Versuch ihren Tribut. Kurz bevor sie das oberste Ende der Mauer erreichten, musste er sich auch schon verzweifelt an den Zinnen festkrallen.
Es blieb bei dem Versuch.
Seine Klauen fanden zu wenig Halt für ihr Gewicht. Er schabte wie eine wütende Katze über die Fugen, doch sie sanken unweigerlich nach unten. Sein Körper fiel nach hinten und es war Sahira für einen Moment, als würde sie schweben. Die kurze Euphorie in ihr, welche jegliches andere Gefühl überdeckt hatte, verlosch schlagartig. An ihre Stelle trat die üble Gewissheit, dass es hiermit endgültig vorbei war. Als er mit einem Geräusch, das an berstende Knochen erinnerte, am Boden aufprallte, löste sich der feste Biss um ihren Kragen und sie wurde davon geschleudert. Schon waren ihre Verfolger zur Stelle, um sie an jeglichem Glied ihres Körpers, das sie zu greifen bekamen, fixierten. Die Menge drohte sie für einen Moment zu ersticken. Sie zeigte keine Gegenwehr mehr, damit hatte sie schon seit Längerem abgeschlossen. Man entblößte ihren Hals und wollte es an Ort und Stelle zu Ende bringen. Ihr Blick traf den gebrochenen des Wolfs. In ihnen sah sie eine Mischung aus Wut und Enttäuschung, aber auch so etwas wie Trost. Sie würde nie erfahren, warum er ihr heute versucht hatte, zu helfen, nicht erfahren, warum er nun sein Leben für den Versuch, ihres zu retten, ließ.
Gerade als sie das Metall, das ihr Ende einläuten sollte aufblitzen sah, durchdrang eine tiefe, ihr wohlbekannte Stimme das Geschrei der Leute.
„Haltet ein!"
Der Befehl ging ihr durch Mark und Bein. Es lag nicht nur an dem Ton, der strikte Gehorsamkeit gewohnt zu sein schien. Es lag eine geradezu zwingende Autorität darin. Die Aculeten machten fluchtartig Platz für die in schwarz gehüllte Person, die von mehreren Leibwächtern flankiert, auf sie zukam. Einer davon zerrte eine Frau in zerschlissenen Gewändern an den Haaren hinter sich her. Sie musste gefoltert geworden sein, ihr Körper war von Schnittwunden und bläulichen Striemen gezeichnet. Als man sie ihr vor die Füße warf, erkannte sie Schayna in ihr. Die Heilerin, welche sich früher um ihre Blessuren gekümmert hatte. Jene Freundin ihrer Mutter, die sich ihrem Kind angenommen hatte! Die Erinnerung kehrte schlagartig zurück und ließ Sahira zurücktaumeln.
„Wo ist dein Sohn Weib?", fragte der Unendliche. „Es gelüstet mich danach, ihn zu sehen", fügte er mit geradezu schmeichlerischer Stimme hinzu.
Sahira schüttelte heftig den Kopf. „Ich weiß es nicht und selbst wenn, würde ich es Euch nicht sagen!"
Statt ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, ging sie in die Hocke und nahm das Gesicht der jungen Frau in die Hände. Sie küsste sie weinend auf die Stirn.
„Es tut mir so leid", flüsterte sie ihr zu.
Bevor sie ihr antworten konnte, erscholl erneut die Stimme des Herrschers: „Dann gehe ich davon aus, dass wir deine Hebamme nicht mehr benötigen?"
Er gab einem der Leibwächter ein Zeichen.
„Sahira, bitte sag es ihm ..." Schaynas Worte klangen mehr nach einem Krächzen denn nach Sprechen. Ihre Folter musste schon lange währen. Sie nahm ihre Hände in die ihrigen und drückte sie. „Bitte ..."
„Ich weiß es nicht, es tut mir leid", gab Sahira zurück. Und sie wusste genau, selbst wenn sie es täte, würde sie es nie dem Unendlichen preisgeben.
Ein letztes Mal bäumte sich der Körper der Heilerin auf, als der vorderste Wächter sein Schwert zwischen ihren Schulterblättern hindurchtrieb. Dann legte sich ihr Kopf in Sahiras Schoß, wie der eines Kindes, welches bei seiner Mutter einschläft. Stumme Tränen rannen über Sahiras Gesicht und benetzten ihr verschmutztes Haar.
„Wenn das so ist, können wir die Mutter dieses Balgs wohl noch gebrauchen", fuhr der Unendliche fort. „Ich hoffe doch, dass die Mörderin seines Vaters stark genug sein wird, ihre Brut ebenso auszulöschen, wenn sie einmal vor unseren Toren auftaucht. Bringt sie in den Pestackher!"
Wie eine wild gewordene Hyäne klammerte Sahira sich an die Tote, aber man riss sie mit brutaler Kraft davon. Pestackher, das kam ihr bekannt vor. Ihr Vater hatte ihr als Kind immer damit gedroht, wenn sie unartig war. Doch was verbarg sich wirklich dahinter? Auf jeden Fall etwas, über das man normalerweise nicht laut sprach, etwas so Grauenvolles, dass sogar die Umstehenden – Personen, die sie verachteten, plötzlich Mitleid mit ihr zu haben schienen. Und wo war ihr Sohn, hatte man ihn in Sicherheit gebracht?
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