Die Gegenwart - Letzte Hoffnung #5
Der Gang durch das Moor war noch beschwerlicher mit dem zusätzlichen Gewicht auf seinen Schultern. Außerdem lastete der Verlust seines Vaters schwerer auf ihm, als er es sich zugestehen wollte. Er fühlte sich schuldig, ihn nicht begraben zu haben. Auch die Leiche seines Sohnes, so unbekannt er ihm auch gewesen war, hatte er liegen lassen, als wäre er nur Abfall. Er würde zurückkehren und ihnen die letzte Ehre verschaffen. Aber nun galt es, die Zukunft seiner Heimat zu sichern.
Er setzte zu einem schnelleren Tempo an, was mehrmals dazu führte, dass er unerwartet in einem matschigen Loch steckenblieb und seine Last beinahe an die Tiefen des Sumpfes verloren hätte. Doch die Angst vor der anrückenden Dämmerung ließ ihn gegen jegliche Vernunft weitereilen. Eine Nacht in diesem Sumpf zu verbringen, war nicht sein innigster Wunsch und in der Dunkelheit hindurchzumarschieren, purer Selbstmord. Gerade glaubte er, endlich festeren Boden unter den Füßen zu haben, da verfing sich sein Fuß in einer Schlingpflanze. Er konnte den Fall nicht mehr aufhalten und wollte auch nicht, dass Sahira sich wehtat. Somit prallte er ungebremst zu Boden. Seine Gefährtin stöhnte leise auf, erwachte jedoch nicht aus ihrem Zustand.
Asmos seufzte genervt. Er war ohnehin schon erschöpft und ausgezehrt vom Kampf mit seinem Sohn. Nun fühlte er sich, als wäre jegliche seiner Rippen geprellt. Nur mit äußerster Mühe schaffte er es, sich mitsamt seiner Fracht zu erheben. Seine Armmuskulatur kündigte ihm langsam aber sicher an, in den Streik zu gehen. Er konnte kaum noch selbst auf den Füßen bleiben, geschweige denn mit Sahira.
Er ging noch eine ganze Weile, immer langsamer werdend, bis seine erschöpften Beine endgültig unter ihm nachgaben. Der Dunst des Sumpfes lag schwer auf ihm, erfüllte seine Nase und zog bis tief hinein in seinen Körper. Seine Finger gruben sich in die feuchte Erde unter sich, während ihm die Lider zufielen. Er ertappte sich dabei, wie er für einen winzigen Moment eindöste. Als er schreckhaft auffuhr, war Sahira ein Stück weit von seinem Rücken gerutscht. Rasch fixierte er sie mit seinen Armen, bevor sie in den Tiefen der Sumpflöcher links und rechts des Weges verschwand.
Mühsam rappelte er sich wieder hoch. Sein Vater sollte nicht dafür gestorben sein, dass er dabei zugrunde ging, wenn er die Nacht hier drinnen verbrachte. Wer wusste schon, was für Gefahren hier über einen herfielen, kaum dass man die Augen für längere Zeit schloss? Beim Gedanken an seinen Vater kam ihm dann die rettende Idee. Er schalt sich, nicht gleich darauf gekommen zu sein. Erneut fiel er auf alle viere, aber diesmal aus freiem Willen.
Sein Rücken wölbte sich, während seine Kleidung eins mit seiner Haut wurde. Der gesamte Körper wuchs um einige Zentimeter und wurde von dichtem silbrigen Fell erfüllt. Mit einem Knacken verabschiedete er sich von seinem Vrynn-Gesicht und wurde zum Wolf. Demonstrativ stieß er ein freudiges Heulen aus. In der Gestalt der Lupa fühlte er sich um einiges kräftiger. Sahiras Gewicht war kaum noch ein Hindernis für ihn, auch wenn er nicht mit voller Geschwindigkeit losrennen konnte, da sie ihm sonst vom Rücken fallen würde.
Entschlossen setzte er seinen Weg fort. Er lief, bis selbst seine Augen die aufziehende Finsternis kaum noch zu durchdringen vermochten. Unterdessen war Sahira wieder erwacht. Sie wagte es nicht, sich zu bewegen, war sich wohl nicht bewusst, ob er Freund oder Feind war. Aber er merkte, dass sie sich an ihn klammerte und nicht mehr wie ein totes Objekt auf ihm lag. Inmitten eines Gebiets, das von unzählbaren, vielleicht zwei Mann hohen Hügeln eingenommen wurde, rasteten sie. Hier waren sie gut geschützt vor den nachts aufkommenden, beißenden Winden. Leider hatte Asmos kaum einen Baum in der Umgebung gesehen. Sie würden ohne ein Feuer auskommen müssen. Er legte Sahira, die sich weiterhin bewusstlos stellte, sanft am Boden ab, ehe er sich neben sie bettete.
„Du kannst mit dem Schauspielern aufhören – ich weiß, dass du wach bist."
Eine Regung ging durch ihren Körper. Zögerlich erhob sie sich, wischte sich die langen silbrigen Haare aus dem Gesicht und sah ihn an. Ihre Augen waren noch immer dieselben, von diesem geradezu stechenden Grün. Er hob die Lefzen, um ein Lächeln anzudeuten.
„Wer bist du?", fragte sie ihn geradeheraus.
„Asmos. Nur ein wenig pelziger."
Sie legte den Kopf schief und berührte seine Pranke, die noch größer war als ihre Hand.
„Du gehörst zu den Lupa. Wie kannst du Asmos sein?"
„Das Blut meines Vaters ist schon immer ein Teil von mir. Nur das ich ihn nie erkannt habe."
„Warum trittst du mir nicht als der gegenüber, als den ich dich kennengelernt habe?"
„Dir würde kalt werden heute Nacht. Und ganz nebenbei, kenne ich dich auch nur als Sarah."
Er zwinkerte ihr linkisch zu und berührte mit seiner Schnauze ihr Haar.
Sie nickte mit verschmitztem Lächeln und streichelte gedankenverloren über sein Fell.
„Was ist passiert?"
Asmos brauchte eine Weile, bis er darauf kam, was sie damit meinte. Sie war lange Zeit eingesperrt gewesen und hatte keine Kenntnis von allem, was sich außerhalb ihres Gefängnisses abgespielt hatte.
„Wenn ich dir das alles erzähle, wirst du heute nicht zum Schlafen kommen."
Sie gab ihm einen freundschaftlichen Stoß. „Versuch, es kurz zu machen."
Asmos überlegte eine Weile. Schließlich nickte er zu sich selbst und berichtete mit der rauen Wolfsstimme:
„Nachdem du mich im Wald liegen gelassen hattest, hatte ich dich noch immer nicht aufgegeben. Doch ich wusste auch, dass ich unmöglich in euer Reich eindringen könnte, um dich da herauszuholen. Da mein Heimatdorf zerstört war, zog ich nach Westen, in Richtung vrynnscher Besiedlung. Auf Gehöften, die meinen Weg kreuzten, gab man mir zu essen oder ich kam mit Gelegenheitsarbeiten eine Weile über die Runden. Schließlich erreichte ich Isaac, die Hauptstadt Remederres. Als mich die vorbeifahrende Kutsche eines Diplomaten mit Dreck bespritzte, kam mir zum ersten Mal der Gedanke, dass ich womöglich einfacher zu dir kommen würde, besäße ich eine gewisse politische Macht. Ich sah mich bereits als Würdenträger zu euch ziehen. Doch du kannst dir vorstellen, dass man wenig von einem verdreckten Streuner ohne Heimat wissen wollte, geschweige denn, ihm einen höheren Posten verschaffen würde.
Um über die Runden zu kommen, verdingte ich mich als Matrose. Bei einer unserer Fahrten gelangte ich nach Winbruck, Residenzstadt der Region Flarrenz. Ungewollt kam es dazu, dass ich Teil einer Gruppe von Rebellen wurde, die planten, den derzeitigen König zu stürzen. Mithilfe der unzufriedenen Bevölkerung gelang der Aufstand und ich kam unversehens zur Stellung des neuen Regenten. Dabei hat mir ein Anhänger, den ich von den Lupa erhielt, geholfen. Er schien Menschen in irgendeiner Form zu beeinflussen. Aber jetzt ist er wohl auf ewig in den Tiefen des Sumpfs verloren."
Er machte eine kurze Pause, um ihr in ihre ungläubigen Augen zu schauen.
„Du bist ... König?"
Er schmunzelte leicht. „Willst du Königin werden?"
„Wenn das ein sehr makaberer Heiratsantrag werden soll, bitte ich dich, dir mehr Mühe zu geben", erwiderte sie kühl.
„Ich sehe, du bist nicht leicht zu erobern."
„Ich bin eine Frau und keine Burg. Du wirst mich überzeugen müssen." Sie zwinkerte ihm zu, worauf er mürrisch den Kopf zwischen seine Pfoten legte.
„Ich dachte, ich besäße bereits deine ungeteilte Zuneigung."
„Das ist viele Jahre her. Vielleicht hast du sie dir ja mittlerweile nicht mehr verdient. Immerhin gehörst du zu den schlimmsten Feinden meines Volkes."
Sie blinzelte ihn mit fiesem Grinsen an, worauf er grummelnd die Augen schloss. „Tja dann werde ich dir leider nicht erzählen können, was weiter passiert ist."
Sie lachte hell auf und lehnte sich an ihn. „Wie du meinst."
Er legte seine Pfote um sie und zog sie näher zu sich. Sie schmiegte sich in sein warmes Fell.
„Asmos?" Sie hob noch einmal den Kopf. „Wohin gehen wir überhaupt?"
„Wir ziehen los, um deinen Leuten zu helfen, die wahren Feinde aller Völker zu töten."
Sie schien eine Weile nachzudenken, wollte sich dann aber wohl vorerst nicht weiter den Kopf darüber zerbrechen. „Wenn es sonst nichts ist."
Er berührte mit seiner Schnauze liebevoll ihr Haar, ehe auch er seinen Kopf zu Boden sinken ließ. Bevor er endgültig einschlief, bemerkte er noch, wie Tränen seine Pfoten benetzten. Sie würde den Tod ihres Sohnes nicht so leicht verkraften wie er, auch wenn sie es für den Moment nicht ansprach.
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