10 - Die Seiten der Vergangenheit
Ein leises Rascheln erfüllte die Bibliothek. Das Feuer im Kamin knisterte fröhlich, während Calida nachdenklich gebeugt über zahlreiche Bücher ihre Gedanken schweifen ließ.
Zwei Tage war es nun her, dass sie ihre erste Unterrichtsstunde mit Zaharian erlebt hatte, und dafür, dass sie keinerlei Erfahrungen hatte, war es erstaunlich gut gelaufen. Nicht nur, dass sie es geschafft hatte, unbemerkt aus Tulan zu schleichen und wieder zurück ... Magie war wie ein Wesen, das es zu fühlen und zu kontrollieren galt. Erst durch die Übung glaubte Calida, das Geheimnis wahrhaftig zu verstehen. Es war großartig. Und anstrengend. Noch jetzt zierten unzählige blaue Flecken ihren Körper und Muskelkater quälte sie ununterbrochen; morgens fiel sie für ein paar Stunden todmüde ins Bett, tagsüber arbeitete sie unauffällig, doch für nichts in der Welt hätte sie diese Erfahrung aufgegeben.
Es war wie ein neues Leben. Calida wurde immer sicherer, die mystischen Wesen zurufen, die sie in die Berge flogen, und auch ihre Magie begann sich langsam zu zeigen. Der Zauberer führte ihr vor, wie sie Funken über ihre Fingerspitzen kanalisierte, um sie an die Flugtiere zu schicken - energetische Snacks als Dankeschön für die Reise - und wie sie zielsicher flog. Es war so einzigartig wie furchterregend. Der Sturm zerrte an ihren Haaren, ihr Herz flatterte im Wind, doch Calida wusste, wenn sie bald ihre Mutter heilen und eine Drachin reiten wollte, musste sie nicht nur Eins werden mit der Magie, sondern auch ihre Ängste hinter sich lassen
Ihre Drachin.
Noch immer schlich sich ein Lächeln auf ihr Gesicht, wenn sie an ihre magische Freundin dachte. Zaharian hatte ihr erklärt, dass Drachenbabys sich beim Schlüpfen mit dem Herzen ihres Magiers verbanden, um für beide die volle Macht zu entfalten, darum fiel es ihr momentan auch schwer, sich auf Zauberei zu konzentrieren. Es würde jedoch besser werden - sie musste nur im entscheidenden Moment dabei sein. Calida wartete jeden Tag sehnsüchtig auf das geheime Zeichen dreier Lichtblitze in den Bergen, um ihre Seelenverwandte zu begrüßen.
Nun saß sie allerdings in der Bibliothek und stöberte durch gesammelte Werke. Nach zahlreichen nachdenklichen Stunden, verwirrenden Diskussionen mit den anderen Jugendlichen und ungenügenden Antworten ihrer Lehrerin hatte Calida beschlossen, die Suche selbst in die Hand zu nehmen. Sie wollte mehr über die Vergangenheit und König Ismir erfahren, um das Verbot der Magie zu verstehen. Doch in Tulan gab es nur ein kleines Zimmer, in dem sich dutzend Regale voller verstaubter Wälzer eng aneinanderdrückten - und als hätten sich alle Autoren gegen sie verschworen, konnte sie einfach nichts finden.
Müde griff Calida nach dem nächsten Lexikon und fuhr über dessen Einband.
„Was haben wir denn hier?", flüsterte sie. Wahlweise blätterte sie durch die Seiten, aber es war bloß eine Sammlung der fünfzehn Städte von Nadór. Neben Tulan entdeckte Calida Dörfer, die sie nur vom Namen kannte - Aurea, Conshella, Monaty und Wertador - jedoch nichts, was ihr weiterhalf.
Seufzend trat Calida durch den Raum, um die Bücher zurück in die Regale zu schieben. Sie sollte jetzt bei ihrer Mutter sein und sich um sie kümmern - stattdessen verschwendete sie ihre Stunden mit sinnloser Sucherei. Aber drängende Gefühl, etwas Wichtiges zu übersehen, ließ ihr keine Ruhe. Sie musste sie nur hinsehen.
Wütend stieß Calida den letzten Wälzer an seinen Platz.
„Suchst du etwas Bestimmtes?"
Pedra, die Bibliothekarin des kleinen Archives, blickte sie vom Türrahmen aus über ihre schmale Brille hinweg aufmerksam an. Schon früher hatten sie sich oft hier getroffen, weil Calida das Lesen geliebt hatte - als Lehrerin hatte ihre Mutter ihre Faszination für alles geweckt, was außergewöhnlich und grenzenlos war. Sie hatte sie stets begleitet. Scheinbar war der Funke für die Magie in ihr geblieben. Geduldig wartend auf einen Auslöser, der das Feuer in ihr zum Brennen bringen würde.
Calida lächelte.
„Ich suche etwas über das Verbot der Magie", erklärte sie.
Pedras Augenbrauen wanderten unmerklich ein Stückchen höher und verschwanden unter ihrem runden Pony. Nachdenklich trat sie in die Mitte des Raumes, ihre Finger trommelten ein unruhiges Lied, doch Calida spürte, dass ihre ehrliche Neugier die Dame weich werden ließ.
„Warum wurde es eingeführt?"
„Hm ..." Pedra strich sich über den flauschigen Pullover und neigte den Kopf. „Du fragst wegen des Vorfalls, richtig? Vorher haben es alle hingenommen, keiner wusste recht wieso ... Es war einfach ein Gesetz, das wir sehr gut verstehen konnten. Jetzt haben auch die Räte mich gebeten, mehr über die Gefahren herauszufinden. Immerhin müssen sie eine Entscheidung treffen, was unseren Schutz angeht, und die Infos sind spärlich."
Neugierig trat Calida näher und Pedra ließ sich auf ihrem Sessel nieder, dem einzigen gemütlichen Möbelstück, das es in diesem Raum gab.
„Haben sie denn schon eine Entscheidung gefällt?", fragte sie. Ihre Stimme zitterte wie die Flammen im Kamin, doch der Teppich war ebenso bequem, wie er aussah. Für einen sehnsüchtigen Moment erinnerte Calida sich an all die Stunden, die ihre Mutter ihr hier vorgelesen hatte, und dankbare Sehnsucht füllte ihr Herz.
Die Dame schüttelte den Kopf. „Schwierig. Sie warten auf die Rückkehr der Wachen, um die Botschaft des Königs zu empfangen. Vielleicht bekommen wir ja endlich einen eigenen magischen Kompass, wie die Räte schon seit Jahren bitten."
Calida hielt den Atem an. „Wann ist es soweit?"
„Ich weiß es nicht. Die Hauptstadt ist fern."
Das passte Calida gar nicht. Sie war eine Magierin - Kompasse in Tulan bedeuteten Gefahr. Außerdem konnte sie, wenn die Räte tatsächlich Magie begrenzten, schwieriger ihre Mutter heilen. Sie wusste nicht, ob und wie das Gerät auf Wintertroll-Atem reagierte, oder was passieren würde, wenn sie zauberte, aber beide Risiken wollte sie nicht eingehen. Sie würde sie töten, und schlimmer - ihre Magie stehlen. Daher musste sie vorher eine endgültige Lösung finden. Unglücklich blickte Calida ins Feuer.
Pedra räusperte sich. „Aber wir haben tatsächlich ein Werk, das mehr über Nadórs Vergangenheit erzählt. Die Räte hatten es eingefordert, um darin zu lesen, ich habe es nur noch nicht zurückgelegt. Wenn du magst, hole ich es dir."
„Wirklich?" Hoffnung stahl sich in ihren Blick. Die Bibliothekarin nickte.
„Ja. Warte hier."
Mühsam rappelte sie sich auf und Calida bemerkte, dass die Folgen der Veränderungen auch an den anderen nicht spurlos vorbeigingen.
Lange saß sie da und betrachtete die Flammen. Das Feuer tanzte faszinierend und flackerte wie ein hypnotischer Schein. Schatten malten geheimnisvolle Muster an die Wand, wie Erzählungen über eine magische Welt, und kurz war Calida versucht, ihre Finger auszustrecken, um das Feuer zu lenken, solange es niemand bemerkte - aber sie ließ es bleiben.
Schließlich hörte sie das Klackern dicker Absätze auf dem Holzboden und wandte sich um.
„Hier ist es." Pedra marschierte in den Raum und reichte ihr ein dünnes Buch mit blauem Einband. „Du hast zwei Wochen zum Ausleihen, wenn du mehr brauchst, sag Bescheid. Sollten die Räte es zwischendurch nochmal brauchen, werde ich ihnen allerdings sagen müssen, dass du es hast. Okay?"
„Danke, Pedra." Sie lächelte, und es war ein Moment von sanfter Verbundenheit, wie sie es früher gehabt hatten. Die Frau faltete befangen die Hände.
„Und ... deine Mutter?", wollte sie wissen.
Calida schüttelte den Kopf. Pedra seufzte.
„Tulan braucht wieder eine Lehrerin wie sie. Bestell ihr liebe Grüße."
„Das werde ich." Schnell hatte Calida ihre Jacke angezogen und trat durch die dunklen Flure nach draußen. Schnee verfing sich in ihren Haaren, ließ die Welt in seidigem Silberglanz erstrahlen. Calida schloss die Augen und atmete tief die kalte Abendluft ein, während sie sich auf ihren Herzschlag konzentrierte.
Pedra hatte nicht mehr gute Besserung gewünscht - dafür war es längst zu spät. Die Wintergeister hatten bei ihrer Mutter eine unsichtbare Schwelle überschritten, an der es grundsätzlich kein Zurück gab, und zwischen Begeisterung, Euphorie und dem Gefühl von Freiheit wurde Calida langsam bewusst, dass sie nicht ewig warten konnte.
Ihre Mutter würde nicht warten. Sie war der Grund, warum sie einst losgezogen war - und sie würde ihr Versprechen halten.
Ganz egal, ob sie selbst soweit war.
Die schneeverhangenen Berge zeichneten sich majestätisch vor dem kaminroten Himmel ab. Calida spürte kaum noch die Kälte. Der Winter konnte ihr nichts anhaben, und ihre Mundwinkel zuckten zufrieden, als sie an Zaharians zahlreichen Lektionen dachte. Es gab einen Unterschied zwischen innerer und äußerer praktizierter Magie - und wenn sie bald keine Magie mehr aktiv in Tulan bewirken können würde, musste sie jetzt die Weichen stellen, um die Zukunft in die richtigen Bahnen zu lenken.
Es war an der Zeit, dass sie einen Wintertroll fand.
Oder selbst so gut in Magie wurde, dass sie ihre Mutter heilen konnte.
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Hey, da bin ich wieder! Nach einer kleinen Ferienpause gibt es ein neues, etwas ruhigeres Kapitel für euch - und neue Fragen für Calida.
Was es wohl mit dem Verbot auf sich hat ... Will jemand spekulieren?
Ansonsten freue ich mich riesig, die Geschichte auch für den 2. Meilenstein beim ONC eingereicht zu haben - ich hoffe, ihr habt es auch geschafft, die Wortgrenze zu erreichen! :D Jetzt heißt es abwarten, gespannt bleiben und fleißig weiterschreiben. Und ich habe noch jede Menge zu schreiben ... *lach*
Ich wünsche euch einen schönen Abend!
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