Kapitel ¾ - Das, in dem wir Mr. H kennenlernen
Vor über einem Jahr
Es ist gerade einmal neun Uhr morgens, als Ole und ich die Wohnung besichtigen. Draußen ist es viel zu warm und sonnig. Zum Glück trage ich ein Trägertop, sonst hätte man bestimmt die Schweißflecken gesehen. Helle Sonnenstrahlen wärmen mein Gesicht und geben mir ein wunderbares Gefühl von Lebendigkeit.
»Wie gut, dass wir gleich unsere potentielle neue Wohnung anschauen. Wenn's gut läuft, können wir uns direkt mal unter die kalte Dusche stellen«, meint Ole und wedelt sich Luft zu.
»Gemessen daran, wie sehr du schwitzt, solltest du das, ja«, stichele ihn und Ole verdreht die Augen.
»Manche Mädchen finden schwitzende Typen heiß.«
Ich lächele und greife nach seiner Hand. Dafür ist es nie zu warm.
»Tja, du weißt ja. Ich bin nicht wie die anderen Mädchen«, sage ich toternst. Ole prustet los und ich falle ein. Wir müssen kurz stehen bleiben, bis wir uns wieder beruhigt haben und schlendern dann die Straße weiter hinunter. Grüne Bäume zieren den Weg und Vögel zwitschern. Ich kann es immer noch nicht wirklich glauben, dass der Typ diese top gelegene Wohnung für einen geringverdienerfreundlichen Preis vermietet.
»Ob er zu viel Geld hat und deswegen so wenig will?«, frage ich.
»Hast du schon jemals einen reichen Kapitalisten gesehen, der freiwillig auf Geld verzichtet?«
»Auch wieder wahr.«
»Bestimmt so 'nen linker Hippie, niemand Normales würde diesen Preis verlangen.« Und damit soll Ole Recht behalten. Nicht unbedingt mit dem Hippie-Aspekt, sondern damit, dass der Vermieter alles ist, außer normal.
»Junge, Junge, ihr seid aber jung«, begrüßt der Mann uns und hält uns verrückt grinsend die Tür auf. Seine Füße stecken in Pantoffeln, ansonsten trägt er Badeshorts und darüber einen Bademantel. An seinen Unterschenkeln erkenne ich tätowierte Flügel und seine Arme sind mit Schlangen verziert. Seine grauen Haare stehen nach hinten ab, als würde ein riesiger Ventilator sie nach hinten pusten, nur dass die Luft ziemlich stillsteht.
Und jetzt kommen wir zu dem komischen Teil.
Die Fingernägel der rechten Hand sind vollständig hellblau lackiert, während an der linken zwei fehlen. Ich muss mich wirklich zusammenreißen, nichts dazu zu sagen.
»Himmel, bin ich unhöflich, und sag als erstes, dass ihr so jung seid, kommt doch rein!« Aufgeregt winkt er uns in die Wohnung und schließt dann die Tür hinter uns.
»Ich bin Daniella, aber Dany geht auch«, stelle ich mich vor und schüttele seine Hand.
»Oliver, gerne Ole«, stellt sich Ole vor und schüttelt ebenfalls die Hand.
»Schön euch kennenzulernen!« Tatsächlich habe ich mittlerweile das Gefühl, dass der Mann gar nicht anders kann als zu lächeln. »Ich bin Mr. H, ihr könnt mich gerne ... H nennen.«
»Haar?«, frage ich verwirrt.
»Genau! Dann machen wir doch eine kleine Wohnungstour. Rechts neben euch ist das Bad, hier gerade aus die kleine Wohnküche. Ich liebe es, dass die Blätter so schön vor den Fenstern gewachsen sind, da ...«
»Au ja!«, falle ich ihm ins Wort. »Ich liebe das auch! Es bringt die Natur so schön näher mitten in der Stadt.«
»... Da muss man sich nicht immer angezogen haben, wenn man sich morgens Frühstück macht«, beendet Mr. H seinen Satz.
Ich verschlucke mich fast und auch Ole tritt peinlich berührt von einem Fuß auf den anderen.
»Deswegen der Bademantel«, murmele ich und werfe Ole einen Blick zu, mit dem ich ihm signalisieren will, so schnell wie möglich einen Mietvertrag mit dem Typen zu unterschreiben, ihn aber dann nie wieder zu sehen.
»Ach so ja, der Bademantel«, sagt H, der meinen Kommentar gehört haben muss, und dreht sich wieder zu uns. »Ich hätte mich ja gerne umgezogen, aber ich war bis kurz vorher in einem Meeting mit meinem Boss, da kann man nichts machen.«
Wieder tauschen Ole und ich einen Blick aus.
»Da links ist die Tür zum Schlafzimmer, da gibt's bestimmt genügend Platz für Schreibtische«, erklärt H und lässt sich dann auf das Sofa fallen. Dabei passt er penibel auf, dass seine nach hinten stehenden Haare nicht das Sofa berühren. So wie die aussehen, hätten die sonst bestimmt den Bezug zerfetzt. »Setzt euch doch und erzählt mir ein bisschen von euch. Ich finde es immer so spannend, was die jungen Leute zu erzählen haben!«
Ich schwöre, ich hatte wirklich nicht vor, dem seltsamen Mr. H irgendetwas zu erzählen, allerdings ist es wahnsinnig schwer. Schließlich bin ich eben eine unglaublich spannende Person und Mr. H ein sehr aufmerksamer Zuhörer. Sein Blick ist seltsam alt, aber auch wenn er vermutlich sehr viel mehr erlebt hat als ich, scheint er sich keineswegs zu langweilen.
Dennoch halte ich mich ziemlich kurz und breche zwei Stunden später ab. Die Geschichte, wie ich meinen ersten Glückscent gefunden habe, sollte ich besser nicht erzählen.
»Schade, mich hätte das wirklich interessiert«, sagt H und sein Lächeln nimmt das erste Mal ein bisschen ab.
»Ich glaube, Dany will Sie nicht weiter belästigen«, wirft Ole ein. »Schließlich haben wir jetzt schon viel von ihrer wertvollen Zeit vergeudet und Sie haben bestimmt bald wieder ein Meeting mit ihrem Boss.«
H lacht auf. »Ach Quatsch, es gibt nichts Wertvolleres als ein gutes Gespräch und eine einzigartige Geschichte. Deswegen liebe ich es auch, zu reisen - nirgends kann man mehr Geschichten erleben. Und zum Glück muss ich meinen Boss erst in fünf Jahren wieder sprechen.«
Erneut tauschen Ole und ich verwirrte Blicke aus.
»Und ... was ist mit Ihren Fingernägeln?«, spreche ich die Asymmetrie doch endlich mal an.
»Wie?«, fragt H.
»Naja, es fehlen zwei auf der linken Seite. Wollen Sie die nicht zu Ende lackieren?«
»Das soll so sein«, erklärt H stolz. »Damit setze ich ein sehr modernes Zeichen - Imperfektion macht uns perfekt.«
Ich runzele die Stirn. Das wäre für mich lange kein Grund, so etwas Wichtiges auszulassen. Wohin würde es denn führen, wenn ich plötzlich anfangen würde, nur noch eine Seite vom Gesicht zu schminken, oder die Pickel absichtlich nicht übermalen?
Und wenn man es mal größer denkt - wollen wir jetzt damit anfangen nur eine halbe Brücke zu bauen und dann zu sagen hach, tschuldigung, dass sie jetzt da unten im Wasser liegen, aber Imperfektion macht uns ja perfekt?
Oder noch größer: Was, wenn Gott nach Adam keine Lust mehr auf das Erschaffen von Menschen gehabt hätte?
»Es ist übrigens sehr großzügig, dass Sie die Wohnung so günstig an uns ... oder an wen auch immer vermieten wollen«, kommt Ole zum Geschäft.
»Ach Quatsch, ihr seid so sympathische, junge Menschen, ich könnte mir keine bessere Mieter vorstellen - vor allem weil ihr auch lieber Hafermilch trinkt und abends am liebsten eine Runde Yoga macht. Die Geschichte über die Kassiererin, die dir mitten beim Verkaufen ein paar Dehnübungen gezeigt hat, fand ich wirklich urkomisch, Dany. Ich wünschte, ich könnte euch die Wohnung noch billiger vermieten.«
Wieder ein Blickaustausch zwischen Ole und mir. »Und ... warum nicht, wenn ich fragen darf?«, taste ich mich vorsichtig heran.
Hs Dauerlächeln wird durch eine traurige Miene ersetzt und er seufzt. »Ach ... Als ich das letzte Mal für zehn Euro im Monat vermietet habe, kamen danach Leute von der Steuer und haben mir vorgeworfen, ich würde den Rest schwarz dazuverdienen. In diesem System wird man doch von allen Seiten gezwungen, die Verbraucher auszubeuten.«
Das Blickaustauschen zwischen Ole und mir ist mittlerweile zur Dauerbeschäftigung geworden. Mr. H hat uns danach wirklich noch viele Möglichkeiten gegeben, zum Beispiel, als er uns ganz fasziniert zugehört hat, wofür wir eine Fernbedienung brauchen - so als hätte der Typ noch nie selbst einen Fernseher eingeschaltet, oder als er uns zum Abschied einen Hunderter in die Hand gedrückt hat und meinte, wir sollen uns ein schönes Eis davon kaufen. Sogar nachdem wir den Mietvertrag unterschrieben haben und eingezogen sind, hat es echt lang gebraucht, uns ein Blickaustauschen im Abstand von zwei Minuten wieder abzugewöhnen.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro