Kapitel 4 - Das, in dem ich eine verfolgte Kunstkritikerin bin
Wenn ich mir jemals vorgestellt hätte, wie es sich anfühlt, in ein Handy hineingesogen zu werden, dann wäre meine Vorstellungskraft bei Weitem nicht ausreichend gewesen. Denn es fühlt sich wie folgt an: Zuerst wird man in seine einzelnen Atome aufgespalten, damit jedes mittels Presslufthammer in einen noch winzigeren Kanal geboxt werden kann. Anschließend saust es dann dort mehrere Kilometer im freien Fall nach unten, nur um irgendwann festzustellen, dass es nicht nach unten fällt, sondern nach oben. Genau dann beschließt das Atom wieder eine Anziehung zu seinesgleichen zu spüren, nur dass es die falschen Atömchen sind und der Körper sich nicht richtig zusammengesetzt anfühlt. Man steht also kurz vor dem Kotzen, nur um dann festzustellen, dass man sich nicht vor dem Kotzen, sondern vor einer riesigen Axt befindet, die sich gefährlich auf einen herunter bewegt, dann aber eine elegante Kurve macht und dir Buh zuruft. Du bekommst den Schreck deines Lebens und wünschst dir, dass du doch nur vor dem Kotzen stehen würdest. Das alles passiert so lange, bis einem klar wird, dass Äxte nicht sprechen können und dann kommt man zu dem einzig logischen Schluss: Die Eltern haben einen immer angelogen, denn sie können es eben doch.
Aber weil ich ein normaler Mensch bin, habe ich es mir natürlich nie vorgestellt, winzig-mikro mäßig-giganta-dinosaurier-gegenteil-ähnlich-Mikroskop-und-noch-kleiner-klein zu schrumpfen. Wie man so schön sagt: Learning by doing.
Als ich wieder das Gefühl habe, ich zu sein, kribbelt mein Körper noch ein bisschen, bis die tausend Ameisen endlich verschwinden. Ruhe durchströmt mich und ich atme ein paar Sekunden durch. Anscheinend haben doch alle Atome wieder den richtigen Platz in meinem Körper gefunden. Um mich herum ist es immer noch schwarz.
Die erste Sache, die mir auffällt, ist, dass irgendein Vollpfosten Musik angemacht hat. Eine verspielte, heroische Melodie, die sich andauernd wiederholt. Welcher Spinner gibt sich denn freiwillig die Musik von Clash of Clans in Dauerschleife? Sind das wieder die Nachbarn über uns? Die haben ja auch einmal eine Minecraft-Kostüm-Party gemacht, ich traue denen alles zu. Genervt will ich mir die Ohren zuhalten, als mir eine zweite Sache auffällt. Irgendwo zwitschern Vögel.
Wirklich sehr eigenartig. Doch jetzt rieche ich etwas. Einen knusprigen, sanften Geruch. Etwas Süßes, Verführerisches. Mein Magen knurrt, als ich erkenne, wonach es riecht.
Sofort schlage ich meine Augen auf. Quarkbällchen! Wo sind die?
Doch als ich keine sehe, fällt mir noch eine viel ausschlaggebendere Frage auf. Wo bin ich?
Aus Reflex taste ich zu meiner Bademanteltasche, um Google Maps zu öffnen, bis mir auffällt, dass mein Handy immer noch neben dem Klo liegt.
Das ist der Moment, in dem ich mir sicher bin, dass mein Leben vorbei ist. Ich trage einen knallpinken Bademantel, habe darunter nur eine Jogginghose und einen Sport-BH an, habe keinen Lipgloss, keine Pflegeprodukte, kein Deo, keine Taschentücher, kein Fritz, keinen Schlüssel, kein Geld, kein Handy und dementsprechend kein Google Maps.
De facto kann ich also rein gar nichts machen. Weder nachschauen, wo die nächste Bäckerei ist, noch die Quarkbällchen bezahlen, wenn ich sie nach fünf Stunden ohne Orientierung gefunden habe.
Abgesehen davon sieht meine Umgebung nicht so aus, als könnte man hier irgendwo heimlich Quarkbällchen stehlen.
Grüner Rasen bedeckt den Boden und meine Plüschhausschuhe sinken in das weiche Gras. Seltsame Hütten erstrecken sich vor mir - darunter auch ein paar interessante Gebäude mit lila Blase, oder seltsame Türme mit Zacken an der Spitze. Verwirrt schüttele ich den Kopf. Lila Blasen? Die moderne Architektur eben.
Neben mir steht eine blaue Mauer, die aussieht wie eine Mischung aus U-Bahnwand und futuristischer Zukunftsfilm.
Und dann wird mir klar, was das um mich herum ist. Denn eigentlich ist es ja ganz einfach. Wenn man sich nicht sicher ist, was es sein kann, es eigentlich hässlich findet, aber irgendwer beschlossen hat, dass es von großer Bedeutung ist, dann muss es sich um Kunst handeln. Bin ich vielleicht bei der Biennale gelandet und weiß nichts davon? Die seltsame Landschaft könnte auf jeden Fall Teil eines Kunstwerkes sein, mit dem der Künstler sein noch so verwirrtes Innenleben nach außen stülpen will. Als ich die komischen Farbkombinationen bei den Häusern genauer betrachte und realisiere, dass ich keine Quarkbällchen finden kann und auch sonst nichts Essbares, steht meine Meinung fest. Der Künstler hätte sein Innenleben mal schön für sich behalten können.
In der Ferne kann ich eine stillstehende Statistin sehen und ich laufe auf sie zu. Vielleicht kann sie mir ja sagen, wo der Ausgang ist. Als ich neben der Frau zum Stehen komme, tippe ich sie an, aber sie schaut weiterhin unbewegt geradeaus. Ihr Kopf ist ziemlich groß.
»Hallo? Wo ist der Ausgang? Ich möchte wieder nach Hause.«
Es kommt keine Antwort, aber das wundert mich wenig. Wahrscheinlich ist sie nur eine Wachspuppe. Ich bin gerade ein paar Schritte weitergelaufen, als ich eine Bewegung aus dem Augenwinkel wahrnehme. Ich drehe mich um. Die Frau im blauen Kleid ist verschwunden.
Mein Herz pocht gegen meine Rippen. Für eine Kunstausstellung ziemlich gruselig. Wahrscheinlich hat der Typ irgendein Traumata verarbeitet.
Wie zur Bestätigung hallt ein lautes Brüllen über die Landschaft und die Musik wird dramatischer. Und auf einmal sehe ich große furchteinflößende Spitzen, die zu großen furchteinlößenden Flügeln gehören, die wiederum Teil eines noch größeren und furchteinflößenderen Drachens sind.
Und dann ist mir klar, dass ich mich nicht in der Fantasie eines traumatisierten Künstlers befinde. Nein, es ist noch schlimmer.
Ich bin in Clash of Clans. Als ich diesen Gedanken klar vor mir habe, weiß ich einfach, dass ich richtig liege. In Clash of Clans in Oles Handy. Oh Mann.
An mir rennen Dorfbewohner vorbei, aber ich kann einfach nicht anders, als den großen Drachen anzustarren. Dunkle, gemeine Augen schauen mich an. Finsternis, die noch tiefer und unendlicher ist, als tausend Schluchten der Welt zusammengezählt.
Aber mir kann nichts Angst machen. Ich bin eine mutige Frau. Ich habe schon im Ausland selbstständig einen Kaffee bestellt, ohne dass Ole dabei meine Hand halten musste. Dann kann ich doch wohl einem bösen, ziemlich gefährlich aussehenden Drachen, der mich vermutlich am liebsten fressen würde, in die Augen schauen.
Drei Sekunden später renne ich panisch schreiend auf die Mauer zu.
»Hiiiiilfeeeee! Mama, ich will ins Bett, ahhhhhhh!«
Die ersten Zentimeter der Mauer habe ich schon erklommen, als ich mich ängstlich umdrehe. Es gibt eine gute und eine schlechte Nachricht. Der Drache wird von einer Kanone attackiert, allerdings sieht die Kanone so aus, als würde sie gleich zusammenstürzen, was sie auch kurz danach tut. Das war die gute Nachricht. Jetzt die schlechte. Der Drache ist nicht alleine geblieben. Leider Gottes habe ich ziemlich lang auf den Bildschrim gedrückt, weshalb sich ganze zehn Drachen vor mir erheben.
Panisch kraxele ich ein paar weitere Zentimeter die Mauer nach oben. Ich bin fast angekommen, als ich den Fehler mache, mich noch einmal umzudrehen. Und das, was ich jetzt sehe, ist noch viel beängstigender als die Drachen. Dagegen wirken diese beinahe wie Schmusekatzen.
Ein dunkler Krieger auf einem Schwein kommt auf mich zugeritten und schwenkt seine Keule über dem Kopf. Mir sackt das Herz in die Hose. Ich muss schneller klettern. Denn ich weiß: mit wütenden Schweinen spaßt man nicht. Und das Pinkfarbene hier sieht nicht gerade amüsiert aus.
Die Rettung kommt dann doch noch im letzten Moment. Neben mir kommt ein anderer Dorfbewohner auf die Mauer zu, aber anstatt sich die Mühe zu machen, über die Mauer zu klettern, springt er mit einem kleinen Hopser drüber. Kurz wäge ich ab, ob ich mich noch das letzte Bisschen nach oben quäle, aber dann gleite ich wieder zurück auf die Wiese.
Was diese NPCs können, kann ich schon lange!
Hinter mir höre ich, wie das Schwein immer näher kommt, also nehme ich Anlauf. Ich renne, die Mauer kommt näher, und dann springe ich.
An dieser Stelle hätte ich gerne erzählt, wie ich in Slow Motion episch über die Mauer hinüberspringe und mich auf der anderen Seite abrolle, um dann weiterzurennen, aber leider ist das nicht passiert.
Meine Rettung ist der Moment, als ich mit Vollkaracho gegen die Mauer knalle.
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