
Kapitel 11 -Das, in dem H zu „Heilige Scheiße, was?" wird
Überrascht atme ich aus und der Puderzucker auf dem Quarkbällchen beschließt, in Mr. Hs Gesicht zu fliegen. Der gleiche Zeitpunkt ist auf jeden Fall dem Zufall zuzuordnen. »Bitte, was?!«, rufe ich. »Sie wollen die Handys erfunden haben?«
»Ganz richtig«, erwidert Mr. H nur und tupft sich ungerührt mit einer Stoffserviette den Zucker aus dem Gesicht.
Urg. Kann er nicht einfach glauben, der Weihnachtsmann zu sein und mir damit den Wunsch, endlich aus diesem Handy zu verschwinden, erfüllen?
»Also ... also sind Sie dieser Martin Cooper?«, frage ich. Ganz bescheiden und ganz unangeberisch verkneife ich mir, dass ich über außerordentlich viel Allgemeinwissen verfüge und deswegen nicht nur diesen Namen, sondern auch die ersten drei amerikanischen Präsidenten und die letzten drei und noch ein paar dazwischen aufzählen kann.
»Martin Cooper? Nie gehört.«
Ich streiche mir die Stirn glatt, um nicht zu viele Falten zu bekommen, und atme durch. Zweifelsohne handelt es sich um einen Spinner und deswegen muss ich als normalere Person im Raum die Ruhe bewahren. Was, wenn ich mich doch in einem Fiebertraum befinde und morgen einfach in meinem Bett aufwache?
Allerdings würde das bedeuten, dass ich mich nicht einmal im Traum retten könnte. Und dass meine Fantasie sich so einen Kuddelmuddel ausdenkt, kann ich auch nicht glauben.
»Also nochmal. Sie sind nicht Martin Cooper, aber wollen die Handys erfunden haben?«
»Warte, sagtest du Martin Cooper? Mit Doppel-O? Ach stimmt, da fällt es mir wieder ein. Den Namen hatte ich mir damals gegeben. Mein Bruder war ziemlich genervt davon, dass ich den ganzen Erfolg abgesahnt habe, aber so ist das nun mal. Ich habe das vertrauenswürdigere Gesicht und irgendwie musste diese Erfindung nun mal an die Menschheit gegeben werden.«
Vertrauenswürdig? Dass ich nicht lache.
»Hephy war immer so wütend, dass ich der Schönere bin. Aber Mutter hat ihn damals nicht ohne Grund aus der Familie geworfen.«
Ich verstehe rein gar nichts mehr.
»Hephy?«
»Gute Abkürzung, oder? Aber ich finde H noch viel griffiger. Catchier, wie man heute zu sagen pflegt.«
»Hephy steht für was genau?« Gleich darauf bereue ich meine Frage schon wieder, nämlich in dem Moment, als Mr. H sie beantwortet.
»Hephaistos.«
Nicht nur der hat 'nen Knall. Die ganze Familie hat einen. Wahrscheinlich ist das angeboren.
»Das könnte man so sagen. Wahrscheinlich ist ein Knall der Grundstein für wahre Größe«, stimmt Mr. H mir zu und ich ziehe die Luft ein.
Verdammte Kacke! Schon wieder laut gedacht. Warum muss nur meine Stimme schneller als mein Gehirn arbeiten?
Oder?
Aber habe ich überhaupt etwas gesagt?
Wer ist jetzt hier verrückter?
»Schließlich hat das ganze Leben mit einem Knall gestartet«, führt Mr. H aus. Ich starre ihn an und er interpretiert mein Starren falsch. »Unterrichten die das heute gar nicht mehr in der Schule? Der Urknall!«
»Doch, doch.« Ich habe mich wieder gefasst und schüttele kurz den Kopf. Jetzt bloß nicht durchdrehen, Dany. Schließlich kann niemand Gedanken lesen und schon gar nicht ein seltsamer alter Opi.
»Aber wo wir jetzt sowieso bei den offenen Karten sind und du irgendwie dieses Rätsel lösen musst, bin ich ganz ehrlich zu dir«, greift Mr. H wieder den Faden auf. Während ich noch darüber nachdenke, wo genau er den Faden aufgreift und ob dieser Teil vom Wollknäuel schon entrollt wurde, oder ob wir überhaupt über offene Karten gesprochen haben oder werden haben, nicke ich halbherzig.
»H ist nicht mein echter Name.«
Ich „verschlucke" mich schon wieder an meinem Quarkbällchen und huste.
»Das kommt jetzt sehr überraschend«, sage ich. Während euch bestimmt mein sarkastischer Unterton aufgefallen sein muss, scheint Mr. H das nicht bemerkt zu haben.
»Mein echter Name ist Hermes«, eröffnet dieser feierlich und legt sich die Hand auf die Brust.
Nochmal gelangt ein imaginärer Krümel in meine Luftröhre und ich muss husten. Seltsamerweise könnte man mein Husten auch als Lachen interpretieren, aber natürlich nur mit sehr viel Fantasie.
»Wie der Postversand?«, frage ich.
Offensichtlich war das nicht die erhoffte Reaktion und Mr. Hs fröhliche Miene wandelt sich in Empörung um. »Na höre mal. Wie der Postversand?! Wohl eher wie der Gott, nachdem der Postversand benannt wurde. Nach mir!«
Diesmal fällt mir keine Antwort ein, die nicht beleidigend wäre. Also schweige ich.
Enttäuscht schüttelt Mr. H - Hermes - den Kopf und massiert sich die Schläfe.
»Das bekommt man, wenn man an einer neuen Idee forscht, sie mit dem Bruder zusammen umsetzt und die sich dann verselbstständigt, weil die Menschen so auf Mobiltelefone abfahren. Man landet am Ende selbst in der eigenen Höllenhundscheiße-Idee und wird nicht einmal von Teenagern ernst genommen.«
Eine Welle von Mitleid erfasst mich und ich schüttele den Kopf. »Doch, doch, H- Hermes, ich glaube dir. Du bist also der Gott?«
Das Lächeln erscheint wieder auf seinem Gesicht und er nickt. »Genau. Der bin ich.« Seine vorherige Depression hat sich in Luft aufgelöst. Ich bin neidisch. »Da du so modeaufmerksam bist und meine äußerst modernen Fingernägel bemerkt hast, sind dir bestimmt meine Haare ebenfalls nicht entgangen.«
»Oh ja, die stechen echt heraus und sind ... haaresträubend.«
»War das jetzt ein Kompliment? Auf jeden Fall hatte ich mir gedacht, dass ich auch meine Hauptbeschäftigung, das Reisen, in meinem Aussehen widerspiegeln muss. Was gibt es Besseres, als eine Frisur, die mich aussehen lässt, als wäre ich dauerhaft in Bewegung? Schließlich bin ich der Götterbote und der Schutzgott der Reisenden, Händler und Diebe. Da ist man dauerbeschäftigt. Full-Time-Job.«
»Ah ... wirklich cool«, sage ich gedehnt. Jetzt fällt mir das Schlangentattoo auf seinen Armen auf. Wie die Schlangen vom Stab des antiken Gottes. Der Typ glaubt das wirklich alles. Dany, ruhig bleiben, tu so, als würdest du ihn ernst nehmen.
»Und, ähm, wie machst du das mit der Frisur? Einmal Schnipsen?«
Hermes schnaubt verächtlich. »Schön wär's. Das wäre zu einfach. Die Frisur muss man verdienen.«
»Ah-ha?«
»Ach, ich verstehe, du möchtest wissen, wie du dir auch so moderne Haare machen kannst. Ganz einfach. Morgens einmal das Haargel in die Haare verteilen und dann den Sonnenwagen mit 700 km/h über den Himmel fahren.«
»Dann weiß ich Bescheid. Apropos noch einmal einen Morgen erleben - vielleicht sollten wir uns darauf fokussieren.«
Hermes blinzelt zweimal. Anscheinend ist er in die Vorstellung vom Sonnenwagen versunken gewesen und hat vergessen, dass dieser Sonnenwagen zusammen mit der Sonne und dem Himmel ziemlich weit entfernt ist.
»Ach, du hast natürlich recht. Schließlich würde mein Tod ein unermessliches Chaos mit sich ziehen.«
...
»Dein Tod wäre natürlich auch sehr bedauernswert«, ergänzt Hermes.
Falls eure Imagination noch kein klares Bild der drei oben aufgeführten Punkte gezeichnet hat, dann hätte ich hier ein paar Beispiele: Ein böser Blick von meiner Seite, ein unauffälliger Wink mit dem Zaunpfahl oder ein Schwenk mit der Kettensäge.
»Nun gut, Daniella. So schwer ist deine Aufgabe gar nicht. Im Vergleich zum Bezwingen einer Hydra oder dem Töten eines Zyklopen ist das ein Kinderspiel. Du musst mich, und optimalerweise auch dich, innerhalb von acht Stunden aus diesem Handy befreien, damit die Welt nicht in einem totalen Chaos untergeht.«
»Hmpf«, sage ich. Ich bin immer noch beleidigt. Mein Tod wäre doch viel katastrophaler als seiner! Der hat doch schon zehnmal so lang wie ich gelebt. Und abgesehen davon würde ihm die Modewelt absolut nicht hinterhertrauern. Wütend starre ich aus dem Fenster. Der Mann mit der blauen Toga ist mittlerweile bestimmt fünfmal hin und her gelaufen. Vermutlich sucht er innerhalb des Weges jedes Mal nach seiner wahren Bestimmung, vergisst das dann nach ein paar Sekunden wieder und kehrt zurück. Wenn meine Blicke einen Effekt auf ihn gehabt hätten, wäre er schon nach dem zweiten Weg über einen Stein gestolpert und hätte sich den Fuß verstaucht.
»Worauf wartest du?«, fragt Hermes, als ich schweige. Und dann stellt er unter Beweis, dass er auch in doppelter Audiogeschwindigkeit sprechen kann: »Hast du mich nicht gehört? SoschweristdeineAufgabegarnicht. ImVergleichzumBezwingeneinerHydraoderdesTöteneinesZyklopenistdaseinKinderspiel.Dumusstmich,undoptimalerweiseauchdich,innerhalbvonachtStundenausdiesemHandybefreien,damitdieWeltnichtineinemtotalenChaosuntergeht.«
»Ja, genau.« Wenn der Typ sich selbst für wichtiger erachtet als mich, dann sei es eben so. Von ihm nehme ich Beleidigungen nicht ernst, beschließe ich. Ein ziemlich guter Beschluss, wie sich später herausstellen wird. »Ich werde die Welt vor einem totalen Chaos retten, wie du zweimal gesagt hast.«
»Weiß ich. Aber wenn du es auch weißt, warum hast du dann nicht genickt? Ach so, warte, ich weiß jetzt, was ich gerade nicht zu wissen vermochte, was du wissen wolltest und deswegen nicht besser wusstest, als nichts zu sagen. Du wartest auf eine Prophezeiung.«
Weil mein Verständnis von dieser Aussage nach dem zweiten „weiß" verloren gegangen ist und ich immer noch danach suche, begehe ich den Fehler, zu nicken.
Hermes' Augen beginnen zu leuchten. Während ich kurz nach unten blicke und mir das letzte Quarkbällchen nehme, hat es Hermes geschafft, eine protzige Sonnenbrille auf seiner Nase zu positionieren und sich drei Goldketten umzuhängen.
»Du müsstest fragen: Was ist mit der Prophezeihung? Und dann würde ich antworten:
Jo, jo, mhm.
Es war ein voll normaler Tag, kein Stress und so
Dann kam Ori vorbei: ›Bro, wie gehts dir so
Kumpel, ich bring leider schlechte Nachrichten
Du wirst so richtig tief in der Scheiße häng'
Ich werde dich vermissen und ich schwöre bei Gott
Dich, den schlausten, coolsten und tollsten Gott
Aber vielleicht kann dich Heldin Dany safen
Denn sie weiß die Antwort auf alles, ja safe, mhm‹«
Weil es mir angebracht vorkommt, klatsche ich. Hermes grinst glücklich und sagt dann: »Na?«
»Zehn von zehn Sternen.«
»Nein, du musst fragen: Was ist mit der Prophezeihung? Und dann würde ...«
Um das Ganze abzukürzen, ist Folgendes in der nächsten Minute passiert: Erst habe ich Hermes freundlich darauf hingewiesen, dass er mir die Prophezeiung schon erzählt hat, dann war Hermes beleidigt, dann habe ich ihn auf den Zeitmangel hingewiesen und dann hat er gesagt, dass man ohne Prophezeihung auch nicht weiterkommt. Weil ich ein netter Mensch bin, habe ich ihm dann die Frage nach der Prophezeiung gestellt und freundlicherweise passend zu seinem Rap gebeatboxed. Danach ist uns beiden wieder eingefallen, dass wir wirklich unter Zeitmangel stehen.
»Eigentlich müssen wir nur abwarten, bis Milan antwortet«, komme ich auf meinen eigentlichen Grund für die Suche nach Hermes zurück.
»Milan?«, fragt Hermes.
»Ja. Das ist ein Freund von mir.«
»Na hoffentlich hat der einen Kurs belegt, wo ihm erklärt wurde, wie er mittels Telekinese ein Handy dazu bringt, zwei Individuen wieder auszuspucken.«
»Äh ...nein.«
»Beherrscht er Telepathie?«
»Auch nicht.«
»Zaubern?«
»Nope.«
Hermes schaut mich verwirrt an und seine buschigen Augenbrauen berühren sich fast. Diese Augenbrauen müsste man mal zupfen.
»Warum hast du Milan dann geschrieben?«, fragt Hermes nach einer Weile.
»Weil er ein Freund von mir ist.«
Das bringt Hermes dazu, sowohl die Ketten als auch die Brille abzunehmen und einmal herzhaft zu lachen.
»Dany, wenn ich mich in meinen Schwierigkeiten immer von Freunden retten lassen würde, dann würde ich nicht mehr leben.«
»Kannst du doch gar nicht beweisen, denn hast du dich schon mal von einem Freund retten lassen?«
»Nein.«
»Siehst du?«
Plötzlich ertönt ein lautes Schrillen und unterbricht meinen Gedankengang, in dem ich mich unglaublich schlau fühle, weil ich die Logik eines Möchtegern-Gottes übertrumpft habe. Das Porzellangeschirr macht kleine Zeitraffer-Lufthüpfer. Hermes steht auf.
»Bei drei springst du in die Luft und greifst zu«, sagt Hermes.
»Was?«
»Eins.«
»Hä?«
»Zwei.«
»Warte, zählst du schon?«
»Drei!«
Ich bete, dass hier keine geheimen Kameras versteckt sind, als ich in die Luft springe. Die Zeit scheint sich zu verlangsamen. Wie aus der Ferne bekomme ich mit, dass ich den Tisch mit der Kaffeekanne und den Tellern nach oben reiße und die Teller wie langsame Frisbeescheiben den Wänden entgegensegeln. Brauner Kaffee schwappt hinterher. Zum Glück ist Hermes genau wie ich gesprungen.
Überraschenderweise greife ich nicht ins Nichts. Wenn es ein Wort gäbe, um das Gefühl zu beschreiben, wenn man sich an Licht zu klammert, dann hätte ich es gerne an dieser Stelle benutzt. Gibt es aber meines Wissens nach nicht. Korrigiert mich gerne, wenn ich falsch liege.
»Das sind die Blutzellen vom Handy«, schwappt Hermes Stimme zu mir rüber. »Die transportieren Nachrichten.«
»Ahhhhhhhhhhhh!«
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