Kapitel 10 - Das, in dem ich Mr. H finde
Die Ideen gehen mir mittlerweile aus. Meine Augen sind geschlossen, denn so kann ich besser denken.
Auf allen Social-Media-Plattformen war Mr. H nicht zu finden, was nur bedeuten kann, dass der Opi zu der analogen Fraktion gehört, die nur ein Tastenhandy besitzt. Meine Großtante Uschi hat dagegen Instagram ganz für sich entdeckt und kann es nicht lassen, Selfies mit schöner Kinn-und Nasenlöcher-Sicht-und-dahinter-ist-in-der-einen-Ecke-noch-der-Eifenturm zu posten und mir gelegentlich ein Tiervideo zu schicken. Seit Neuestem sind es Pinguine.
Aber in welcher App würde sich jemand wohl fühlen, der sonst kein Handy benutzt?
Mist, mir fällt nichts ein, schließlich bin ich Handynutzerin. Vielleicht sollte ich noch Tetris und Solitär durchprobieren, das ist immer beliebt im Alter.
Die Idee zerplatzt in meinem Kopf aufgrund von zwei Dingen. Erstens kann ich mir nicht vorstellen, wie Mr. H anstelle eines buntes Tetrisklotzes nach unten fällt und eingequetscht wird. Der Versuch scheitert nämlich spätestens bei den Haaren, die ganz bestimmt nicht eingequetscht werden können. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Welt untergehen könnte und die Haare würden danach immer noch sitzen. Abgesehen davon fällt mir die Vorstellung schwer, dass über Mr. Hs Haare eine Krone passen würde, wenn er statt eines Königs in einer Spielkarte chillt.
Und zweitens hat Ole beide Spiele nicht auf dem Handy.
Ich gebe es auf. Vielleicht muss ich es einfach dem Zufall überlassen. Die nächste App, die mir in den Weg kommt, werde ich durchsuchen. Mit neuer Gleichgültigkeit schwimme ich los, stelle aber ziemlich schnell fest, dass ich nichts sehe.
Als ich mir über die Augen wischen will, knallt meine Hand gegen die Sonnenbrille, die ich aufgesetzt habe. Ups.
Schnell stecke ich sie wieder zurück und kann gerade so noch X ausweichen. Da will ich nicht nochmal rein. Die Verschwörungstheorien dort lassen mich ja an meinen eigenen zweifeln.
Ich drehe mich einmal um die eigene Achse, um einfach in irgendeine Richtung loszuschwimmen, als etwas anderes meine Aufmerksamkeit auf sich zieht.
Ein Lufthauch, der in meine Nase dringt, wie eine leise Erinnerung an die Realität. Eine Erinnerung an Winternächte auf Weihnachtsmärkten, eingemummelt in Mantel und Schal und in den Händen eine Papiertüte mit Quarkbällchen.
Aber natürlich! Die Quarkbällchen.
Ich drehe mich wieder weg und schnüffel in alle Richtungen. Neue Motivation durchdringt mich und ich folge dem Duft. Vielleicht ist mein Leben doch noch nicht vorbei und vielleicht kann Mr. H mir helfen!
Der Wackelpudding zieht an beiden Seiten vorbei, die Schatten der anderen Apps werden zu farbigen Strichen. James-Bond-reifes Tempo.
Zwanzig Schwimmzüge später habe ich die fünf Meter bis zur Quelle des Geruchs überbrückt. Erwartungsvoll strecke ich die Hand nach dem motivierten Bauern aus und gleite mit einem Magenkribbeln in die Vergangenheit.
Im Gegensatz zu Clash of Clans fällt mir sofort auf, dass alles ein bisschen weniger wie das Innenleben eines verzweifelten Künstlers aussieht, sondern wie ein Nachbau einer antiken römischen Stadt.
Weiße Domizile, die wie Leibwächter grüne Zypressen vor sich stehen haben, reihen sich aneinander. Lautes Stimmengewirr dringt an meine Ohren, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ich selbst mit Lateinunterricht kein Wort verstanden hätte.
Glücklicherweise ist Ole in Forge of Empires nicht weit gekommen und ich finde die Architektur der Eisenzeit angenehm anzugucken.
Eine Frau balanciert einen Krug auf dem Kopf, während neben ihr ein Mann in einem weißen Bettlaken läuft.
Die meisten tragen eine Tunika, aber manche darüber eine Toga. Ich frage mich, wie viele Bettlaken man dafür aufwenden musste, um diese Togas, Togen oder Toganten und die Tunikas, Tuniken oder Tuniks herzustellen. Die letzte Variante des Plurals von Tunika gefällt mir am meisten. Schließlich passt das Motto „tu nix" ganz gut zu dem Leben eines reichen Sklavenhalters, der sich die Trauben in den Mund fallen lässt, während die Dekadenz aus allen Poren stinkt.
Apropos Gerüche: Der Quarkbällchenduft ist noch intensiver geworden. Ich laufe los und genieße es, dass alle um mich herum einfache NPCs sind. Denn so schenken sie mir in dem pinken Bademantel über dem türkisen Kleid und der Sonnenbrille in den Haaren keine weitere Beachtung.
Ein sehr hoher Turm sticht mir ins Auge. Der Leuchtturm von Alexandria. Ich denke erst gar nicht darüber nach, was ein Leuchtturm mitten in der Stadt zu suchen hat. Vielleicht soll er nachts die Anwohner so richtig nerven, wenn regelmäßig das helle Licht ins Zimmer scheint und man wieder aus dem Schlaf hochschreckt. Und wenn man nicht von dem Licht aufwacht, dann von dem angepissten Schreikrampf seines Nachbars.
An der nächsten Straßenecke kann ich ein Häuschen erkennen, das verdächtig nach Bäckerei aussieht und auch der himmlische Geruch kitzelt jegliche Nasennerven, sodass mein Magen laut knurrt. Wie in Trance bewege ich mich durch die Menschen.
»Quarkbällchen«, murmele ich, als ich die Tür aufmache und in die Bäckerei trete, die allerdings ganz sicher nicht antik-römisch, sondern antik-Neunzehntes-Jahrhundert ist. Die hat Ole bestimmt bei einem Event gewonnen.
Meine Augen werden ganz groß und wässrig, als ich den Tresen voller kleiner süßer Leckerbissen sehe. Ich erinnere mich nicht mal mehr daran, die Schritte bis zum Tresen gemacht zu haben, als ich zwei direkt hintereinander verschlinge.
Mmmmmh! Genüsslich schließe ich die Augen, während mein Magen, mein Herz und mein Mund gleichzeitig aufseufzen. Lecker!
»Das sind die besten in der Stadt bOLEvard ... die Betonung auf Ole. Die Rechtschreibung eines so schönen Wortes zu verschandeln, gefällt mir nicht«, erklärt mir eine Stimme.
Erschrocken grunze ich und schlucke den letzten Bissen herunter.
»Hallo Dany, wie ich sehe, stattest du mir einen Besuch ab.« Mr. H sitzt an einem kleinen Ecktisch mit Spitzentischdecke. Das schwarze Rockband-Shirt wirkt neben der Blümchentapete äußerst fehl am Platz.
»Ich hab dich gesucht«, erwidere ich, schnappe mir drei weitere Leckerbissen und setze mich dann zu Mr. H.
»Und ich habe gewusst, dass du mich finden würdest«, erwidert der alte Mann. Er hat wirklich viele Falten, die den Anschein erwecken, als hätte er mehr Geschichten als jeder andere Mensch erlebt. Auf jeden Fall mehr als ich und die fiktiven Geschichten aus meinen Lieblingsbüchern und -filmen zusammengezählt.
Wenn er immer in brenzligen Situationen in einer Bäckerei sitzt und Quarkbällchen isst, frage ich mich, wie er überhaupt so alt geworden ist.
»Nur um das klarzustellen«, beginne ich, »wir sind in der gleichen Situation, richtig?«
Mr. H sieht mich fragend an und schlürft aus dem Kaffee in seiner Hand.
»Na, wir sind beide in diesem Handy gefangen.«
»Ach so!«, Mr. H lächelt mich an. »Genau. Zum Glück bist du auch hier. Schließlich ist es deine Aufgabe, eine Lösung für unser Dilemma zu finden. Deine Herkulesaufgabe. Deine Erfüllung. Wenn du in den nächsten Stunden nicht erfolgreich bist, dann werden wir beide von den Werkeinstellungen ausgelöscht.« Und dann fügt er noch stolz: »Game over« hinzu, als würde das Englisch die Situation in irgendeiner Art und Weise besser machen.
Er lächelt immer noch, während ich das Gesicht verziehe.
»Sorry, habe ich das gerade richtig verstanden? Du hast keine Ahnung, wie wir hier rauskommen?«
»Ganz recht.«
»Grrrmmmpf«, fluche ich und verkneife mir meine üblichen Fluchwörter, die mir in der Gegenwart von älteren Personen peinlich sind. »Das heißt also, dass du einfach nur hier drin existierst und Quarkbällchen isst und ich sterben werde? Im Sinne von mausetot? Danytron-tot? Was ist denn dann bitte dein Sinn?«
»Mein Sinn?«, hakt Mr. H nach und ich nicke. Stirnrunzelnd überlegt mein Gegenüber ein paar lange Sekunden.
»Darüber habe ich noch nie wirklich nachgedacht. Ich dachte, ich bin der Sinn.«
Ich schüttele den Kopf. Der Typ ist wie ein antiker Blasebalg. Da kommt nur Luft raus. Unbrauchbar.
»Das finde ich jetzt höchst beleidigend«, beschwert sich Besagter und ich reiße die Augen auf. Habe ich das etwa laut gesagt?!
»Oh sorry, das hab ich echt nicht so gemeint!«, entschuldige ich mich mit gehobenen Armen. »Blasebalgens sind total nützlich!«
»Durchaus. Ein Feuer brennt nicht von alleine und nicht jeder hat so einen kraftvollen Atem wie mein Boss. Bei jedem Meeting muss er unter Beweis stellen, dass er den dicksten Wagen fährt.«
»Langatmig?«, frage ich, ohne wirklich zu wissen, was Mr. H meint, aber anscheinend ist es die richtige Antwort. Denn Mr. H grinst.
»Genau.«
Erleichtert greife ich mir das nächste Quarkbällchen. Schlecht über seinen Boss zu reden, scheint ihn wieder aufzumuntern.
»Auf jeden Fall, Dany, drängt die Zeit.« Er stellt die Tasse weg und schaut mich direkt an. »Ori sagte mir, dass du die Antwort auf alles weist.«
»Ori steht immer noch für Orakel?«, frage ich.
»Exakt«, antwortet Mr. H.
»Ah-ha«, antworte ich gedehnt und gucke aus dem Fenster. Die römische Architektur ist auf einmal sehr interessant.
»Wer sollte denn sonst gewusst haben, dass du mich retten wirst?«, fragt Mr. H.
Ich schweige und esse das letzte Quarkbällchen. Der Typ ist verrück. Jetzt muss ich nicht nur aus dem Handy fliehen, sondern dabei auch mit dem Opi klarkommen.
»Wie bist du eigentlich hier rein gelangt?«, frage ich.
»Das passiert mir leider immer wieder. Die Dinger ziehen mich wie magisch an.«
»Du warst schon mal in einem Handy gefangen?«, frage ich erstaunt. »Und wieso weißt du dann nicht, wie man hier rauskommt?«
»Weil mich immer jemand gerettet hat.«
Ich versuche meine Verzweiflung hinter einer ruhigen Miene zu verstecken.
»Und dieser Jemand bin diesmal ich?«
»Ganz recht.«
»Und du bist einfach an Oles Handy rangegangen, oder wie?«, hake ich nochmal nach.
»Nein, nein, das hast du falsch verstanden.« Verteidigend hebt Mr. H die Hände.
»Und wie bitte?«
»Die Dinger ziehen mich wirklich magisch an. Ist der Nebeneffekt, wenn man sie erfunden hat.«
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