2) Schutz und Sicherheit
„Nein, sie kommen mir nicht ins Schloss!" Die Stimme von König Almir von den schroffen Landen verriet Mirnas, dass er nicht den Hauch einer Chance hatte, seinen Vater umzustimmen und nicht erst seine Zeit damit verschwenden sollte, es zu versuchen. Und trotzdem hörte er nicht auf diese Stimme und blieb beharrlich. „Aber Vater", hob er an und wurde sofort unterbrochen. „Nein! Nichts da! Keine Fremden! Sie nehmen sich, was sie finden können. Stehlen, huren und dann sind sie fort und scheren sich nicht darum, was sie zurücklassen. Bälger mit dunkler Haut und fremdländischen Augen. Verzweiflung und Schande. Es ist das kurze Vergnügen nicht wert. Das Tor bleibt zu. Die Leute bleiben draußen! Das ist mein letztes Wort!" Und es war wirklich sein letztes Wort in dieser Sache, denn selbst wenn Mirnas weitergebettelt hätte, der König hätte ihn nicht mehr gehört. Mit wehendem Umhang war er durch die Tür in seine Privatgemächer verschwunden und hatte diese mit einem deutlichen Krachen hinter sich ins Schloss fallen lassen. Die Geste sprach genauso deutliche Bände wie die Worte des Königs. Und nur zu gut wusste Mirnas, dass das Wort seines Vaters galt und endgültig war. Warum auch hätte heute etwas anders sein sollen? Nur, weil er es sich so wünschte? Er war mit seinen sechzehn Jahren inzwischen alt genug, sich keinen kindischen Träumereien mehr hinzugeben, sondern der Realität ins Auge zu blicken. So schmerzhaft diese Erkenntnis am Ende auch sein mochte, er würde auch heute keine akrobatischen Aufführungen zu sehen bekommen.
Aber etwas war dennoch anders gewesen: Die Deutlichkeit in den Worten seines Vaters war neu. Er hatte ihm einen ernstzunehmenden Grund geliefert, weshalb er die Fremden nicht auf dem Schlossgelände haben wollte. Stehlen und huren - Mirnas war alt genug, um zu wissen, wovon sein Vater gesprochen hatte. Von Schandbälgern, wie es in der Stadt zu Hauf welche gab. Kinder, die ohne einen Vater aufwuchsen, großgezogen von Frauen, die nicht verheiratet waren und es auch nie sein würden. Frauen, die keine Sicherheit genossen und mit Verachtung gestraft wurden, für die Schande, die sie über sich und ihre Familie gebracht hatten und den Kindern jede Chance auf eine gute Zukunft nahmen. Er hatte schon viele solcher Kinder bettelnd auf dem Platz vor dem Tor gesehen und sie hatten ihm leidgetan. Manchmal hatte er sogar seine Vorräte aus der Küche über die Mauer geworfen, anstatt sie an die Ziegen, Enten und Gänse zu verfüttern.
Trotz aller Einsicht konnte Mirnas nicht verhindern, dass sich Tränen in seine Augen schlichen. Tränen der Wut und der Enttäuschung, die bitter in seiner Kehle brannten und die er verbissen, aber erfolglos zurückzudrängen versuchte. Er war kein kleines Kind mehr, das heulte und auf den Boden stampfte, wenn er etwas nicht bekam. Mit glasigem Blick starrte er auf die geschlossene Tür mit den kunstvollen Verzierungen, die ein herumreisender Künstler vor vielen Jahren eingeritzt hatte, damals als Besucher noch willkommen geheißen wurden. Ihm war mit einem Mal als würde die Tür ihn regelrecht verhöhnen. Du wirst auch heute keine Aufführungen zu sehen bekommen. Du wirst nie eine Aufführung zu sehen bekommen. Selbst ich habe unzählige Aufführungen gesehen. Du nicht. Und du wirst es auch nie, schien sie ihm geradezu ins Gesicht zu schleudern. Mirnas schluckte. Entschlossen wischte er sich die Tränen von den Wangen und schaute sich verstohlen im Saal um. Die anwesenden Bediensteten hatten sich längst wieder ihren Tagesaufgaben zugewandt und keiner schenkte ihm Beachtung. Das Betreten der Privatgemächer seines Vaters war ihm strengstens verboten. Kurz überlegte er, sich über dieses Verbot hinwegzusetzen. Seinem Vater zu zeigen, wie ernst es ihm war. Ihm klarzumachen, wie sehr er diese Fremden sehen wollte und dass er sich nicht länger von ihm vom Leben fernhalten lassen würde, so wie sein Vater ihn von diesen Räumen fernhielt. Für einen kurzen Moment erschien ihm die Lösung auf der Hand zu liegen, zum Greifen nahe, so als müsste er nur durch diese Tür schreiten, um zu bekommen was er wollte. Er hob die Hand, streckte sie nach dem gusseisernen, kunstvoll geschmiedeten Griff und wollte schon danach fassen, besann sich dann aber doch eines Besseren und ließ die Hand auf halber Höhe wieder sinken. Es war der falsche Weg. Im wahrsten Sinne des Wortes. Es würde ihn nur tiefer hineinführen in dieses dunkle Schloss, in den düsteren Bereich, den sein Vater bewohnte und in dem er jeden Quadratmeter der Erinnerung an seine Mutter gewidmet hatte. Ihren Schmuck, ihre Bücher, sogar ihren Kleiderschrank mitsamt dem Inhalt, unzähligen Festtagsroben und Ballkleidern, Umhängen und Ausgehkleidern, hatte er aufbewahrt, obwohl sie längst nicht mehr nach ihr rochen. Ihre Portraits und Gemälde zierten die Wände. Selbst wenn Mirnas das Betreten erlaubt wäre, er hätte es keine Minute in diesen Räumen ausgehalten. Zu schmerzhaft war der Verlust, auch wenn er seine Mutter nie gekannt, und gar nicht wissen konnte, was er an ihr verloren hatte. Ein Schmerz und eine Erinnerung, der sich sein Vater jeden Tag und jede Nacht aufs Neue hingab. Nein, durch diese Tür zu gehen, war der falsche Weg. Mirnas drehte sich auf dem Absatz seiner Lederstiefel um und eilte auf der gegenüberliegenden Seite durch die schlichte Holztür auf den Dienstbotengang. Vorbei an Speisesaal und Küche, wo er dieses Mal nicht Halt machte, um nach Überresten zu fragen. Vorbei am Musikzimmer und Ballsaal, die er ohnehin nie betrat und in denen seit Jahren weiße Laken aufgespannt waren, um die Möbel vor dem Zahn der Zeit zu beschützen. Aber wer beschütze ihn vor dem Zahn der Zeit und davor, mit der Zeit selbst in Vergessenheit zu geraten, wie die alten Instrumente, an die keiner mehr dachte? Manchmal fühlte er sich, als wäre er ein kostbares Möbelstück, dem man ein Stück Tuch übergeworfen hatte, um ihn vor Verschmutzung und Verfall zu bewahren. Um den Staub des Lebens von ihm fernzuhalten. Wollte er denn überhaupt davor beschützt werden? Wenn es nach seinem Vater ging, war das das Wichtigste überhaupt. Aber wollte er das auch? Was würde er sagen, wenn man ihn nach seiner Meinung fragte? Er würde sagen, dass er die Aufführung der Fremden sehen wollte. Nur einmal sehen, was sie darboten. Mehr nicht. War ein Blick zu erhaschen so gefährlich? Er würde auf sich und seinen Besitz aufpassen. Sie würden ihn schon nicht bestehlen. Er trug ohnehin nichts Wertvolles bei sich. Und herumhuren würde er auch nicht. Die Vorstellung erschien ihm dermaßen lächerlich, dass er ein Grinsen nicht unterdrücken konnte, obwohl er einen Augenblick zuvor noch verbittert und wütend gewesen war. Auf seinen Vater und auf seinen Alltag, aber vor allem darauf, was dieser ihm alles in seinem Leben verwehrte.
Er erkannte mit jedem Tag mehr, dass er etwas anderes von seinem Leben wollte, als sein Vater für ihn vorgesehen hatte. Und mit jedem Blick aus einem der Fenster des Schlosses oder einer der Schießscharten in der Mauer wurde ihm gewahr, dass es dort draußen beileibe mehr zu sehen gab, als er sich vorstellen konnte. Und er wollte es nicht nur aus Erzählungen hören, sondern mit eigenen Augen sehen. Die Sehnsucht nach dem, was man ihm vorenthielt, wuchs mit jedem Nein, dass Almir ihm entgegenbrachte. Bis jetzt hatte ihn das Pflichtgefühl zurückgehalten. Er wollte seinen Vater nicht enttäuschen, es ihm Recht machen. Ihm, der schon so viel Verlust erlitten hatte. Aber an Tagen wie diesen, wo das gewünschte Leben so zum Greifen nah erschien, wollte er auch an sich denken, egoistisch sein und ein einziges Mal seine Wünsche und Vorstellungen über die seines Vaters stellen. Was würde schon geschehen? Nichts! Er würde es sich anschauen und dann seinen Aufgaben wieder pflichterfüllend nachkommen und den Vater glücklich machen. Seine Schritte lenkten ihn zu den Stallungen, die zu dieser späten Stunde längst verlassen waren. Sein Lieblingspferd begrüßte ihn schnaubend. Mit geübten Griffen hatte Mirnas flink Sattel und Zaumzeug aus der Sattelkammer geholt, aufgetrenst, aufgesattelt und nachgezurrt, so wie er es unzählige Male bei dem alten Stallmeister gesehen hatte. Er schälte sich aus seinem kostbaren Pelzmantel und stopfte das teure Kleidungsstück beinahe achtlos in eines der leeren Fässer. Genauso achtlos griff er nach dem abgewetzten und verblichenen Mantel, den Philipp für kalte Tage an einem Haken an einem der Balken neben den Pferdeunterständen aufbewahrte. Dieser würde ihn für einen abendlichen Ausritt gut genug wärmen und ihm Schutz vor unliebsamen Blicken bieten. Die Kapuze zog er sich tief ins Gesicht und verbarg seine verräterischen, hellblonden Haare darunter. So konnte er sich unerkannt durch den Dienstboteneingang an der Rückseite ins Freie lassen und man würde ihn für einen Knecht halten, der noch einer späten Erledigung nachzugehen hatte oder vielleicht nur für einen abendlichen Besuch in eines der Freudenhäuser wollte. Auch wenn Mirnas Hurerei für diesen Abend nicht im Sinn hatte, kam es ihm nur recht, dass jeder Wachmann für dieses Anliegen vollstes Verständnis aufbringen würde. Die tristen und leisen Abende auf dem Schloss konnten einen nur nach draußen in die Stadt, in den Trubel und das Vergnügen treiben. Nicht nur Angestellte, auch adelige Söhne, aber davon sollte besser niemand erfahren.
Wie er es vorhergesehen hatte, gelangte Mirnas unbemerkt hinaus auf die gepflasterte Straße, die in geradem Weg durch die Stadt führte. Links und rechts zweigten Gassen ab, die zum Ortsende hin immer enger wurden. Aber dorthin wollte Mirnas nicht. Sein Ziel lag etwas außerhalb der Stadt, direkt neben der Straße über die er jetzt seinen braunen Hengst führte. Das Tier war artig und gehorchte seinen Befehlen aufs Wort. Mirnas musste Fußgängern und langsamen Fuhrwerken ausweichen oder warten, bis sie für ihn Platz machten, was manchmal etwas dauern konnte, da er sich nicht als Prinz zu erkennen geben konnte. Auf halber Strecke setzte ein Nieselregen ein und feine Tropfen erschwerten ihm die Sicht. Es dämmerte bereits, aber das kümmerte ihn nicht. Es würde nur verhindern, dass man ihn doch erkannte und konnte ihm nur recht sein. Die meisten Fußgänger strebten auf eines der Gasthäuser zu und nur wenige hatten das gleiche Ziel wie er. Vielleicht hätten sich mehr zu der Gemeindewiese aufgemacht, wenn nicht mit einem Mal ein richtiger Regen eingesetzt hätte, der Mirnas schlichten Umhang in Sekundenschnelle durchweichte. Auch das störte den jungen Prinzen wenig. Er hatte einen Plan und würde sich nicht durch etwas so Banales wie eine ungünstige Wetterlage davon abbringen lassen. Kurz vor seinem Ziel stieg er ab und band den Braunen an den ersten, alten Apfelbaum einer Obstbaumwiese. „Warte hier Aswad, ich bin bald wieder da", flüsterte er ihm zum Abschied ins Ohr und kraulte ein letztes Mal seinen weichen Hals, ehe er sich in die Dunkelheit davonstahl.
Unzählige Zelte waren auf der schlammigen Wiese außerhalb der Stadt errichtet worden. Hier durften die Artisten verweilen. Manche hatten in der Hast nur ein paar Planen von ihren Wägen in den Boden gespannt, um darunter zwischen Gepäck und angepflockten Tieren wenigstens ein wenig Schutz zu suchen. In der Mitte, umgeben von all den Wägen, notdürftigen Unterkünften und Zelten stand das Hauptzelt. Es war größer als die anderen und schnell als Zentrum des Vergnügens zu erkennen, weil die wenigen Stadtbewohner, die den Weg auf sich genommen hatten, unter dem großen Vorzelt zusammenstanden. Mirnas schlenderte unauffällig über die Wiese und gesellte sich zu den Wartenden. Aufgeregtes Gerede drang in sein Ohr. Er lauschte den Gesprächsfetzen, ohne ein Wort mit einem der Umstehenden zu wechseln. Ein junger Mann mit einem Hut auf den langen schwarzen Haaren und einem roten Vogel auf den Schultern wuselte durch die Wartenden und verbeugte sich vor jedem Neuankömmling. Er zog den Hut vom Kopf und hielt in Mirnas hin. Der Prinz wühlte in seiner Geldkatze nach ein paar Münzen und ließ sie in den dargebotenen Hut gleiten. „Hab Dank", krächzte der Vogel und der junge Mann zwinkerte ihm zu. Mit großen Augen bestaunte Mirnas das Tier. Einen sprechenden Vogel hatte er noch nie gesehen, aber er hatte Alwina davon erzählen hören. Papageien nannte man diese exotischen Tiere, die auf den weit entfernten Inseln im Süden des Landes beheimatet waren. Alleine deshalb hatte sich sein Ausflug schon gelohnt und für einen Moment fragte er sich, was er noch alles an diesem Abend zu sehen bekommen würde.
Dann öffnete sich der Vorhang und die Besucher strömten in das Zelt und unerkannt mit ihnen der junge Prinz im Schutz der Gruppe der anderen Schaulustigen, unter denen er durchnässt und staunend nicht weiter auffiel.
Mirnas war wie erschlagen von all der Farbenprächtigkeit und dem Trubel. Er beobachtete kleine Äffchen, die in Käfigen umherturnten und sah weitere Papageien in allen möglichen Farben. Auf einem dicken Teppich saß ein in seltsame weite, weiße Gewänder gekleideter Mann mit einem Korb vor sich auf dem Boden. Er hatte den Deckel geöffnet und aus dem Korb rankte sich eine Schlange empor, die ihren schlanken Körper wie im Takt zu einer unhörbaren Musik hin und her gleiten ließ. Die Tiere interessierten ihn am meisten, den Menschen, die auf Teppichen und Podesten ihre Kunststückchen vorführten, schenkte er kaum Aufmerksamkeit. Sein Blick huschte über die zierliche Frau, die ihren Körper in einem seltsamen Winkel nach hinten gebogen und den Kopf zwischen ihre Beinen geklemmt hatte. Schon vom Zusehen bekam er Schmerzen. Auch den zwergwüchsigen Jongleur ignorierte er. Dann blieb sein Blick an jemandem haften. Und sein Körper verharrte wie eingefroren in der Position, in der er eben noch fasziniert der Schlange bei ihrem Tanz zugeschaut hatte. Dort war sie. Das Mädchen vom Tor. Auch sie tanzte. Ihre Bewegungen waren fließend und anmutig wie die einer Katze. Die goldenen Kettchen und Armbänder, die ihren Hals und ihre Arme zierten, klimperten bei jeder ihrer geschmeidigen Figuren um ihren zarten Körper, aber das war es nicht, was ihn fesselte. Ihren Kopf hielt sie ungewöhnlich still. Es wirkte, als wäre nur ihr Körper in Bewegung. Sie erinnerte ihn an die Schlange, der er gerade noch zugesehen hatte. Ihre Augen waren schwarz und auf ihn gerichtet. Und mit einem Mal fühlte er sich wie eine Maus, völlig erstarrt beim Anblick ihres Feindes.
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