
11| Waschbären auf Drogen, unverdauliches Mittagessen und ein Heuboden
Am nächsten Morgen waren Elian und ich wie erwartet ziemlich müde und Philip bemerkte grinsend, als wir beim Frühstück saßen: "Ihr seht aus wie zwei Waschbären auf Drogen, herrlich. Was habt ihr denn noch so lange rumgezaubert gestern Nacht? Romantischer Abendspaziergang oder was?" Elian antwortete ausgiebig gähnend: "Nicht ganz. Und die Umschreibung 'Waschbären auf Drogen' trifft es schon ganz gut, ungefähr so fühle ich mich." "Woher weißt du, wie sich kleine gestreifte Säugetiere auf Drogen fühlen?", warf ich ein und brachte ein müdes Grinsen zustande. Der Boxer schüttelte seufzend den Kopf und verdrehte die Augen, ehe er sich wieder seinem Essen zuwandte.
Als wir alle Sachen wieder in unseren Rucksäcken verstaut hatten und auch die Zelte wieder abgebaut waren, schauten mich alle erwartungsvoll an, denn ich war diejenige mit einem ungefähren Plan, wo wir hin mussten. Schnell schaute ich auf meinem Handy nach, in welche Richtung wir gehen mussten und mit einer Geste in Richtung Westen machten wir uns auf den Weg.
Als wir uns gerade inmitten einiger bewachsener Felder befanden, klingelte plötzlich mein Handy. Ich erschrak und auch die anderen sahen mich kurz ein wenig irritiert an, bis ich versuchte, es aus meiner Hosentasche hervorzuholen. Auf dem Display tauchte die Nummer meiner Schwester auf und ein Lächeln erstrahlte kurz auf meinem Gesicht, ehe ich abnahm. Den anderen bedeutete ich mit einer Handbewegung, dass sie schon mal weitergehen konnten und tatsächlich setzten sie sich wieder in Bewegung, weiter in Richtung der nicht enden wollenden Felder. Dann konzentrierte ich mich auf das Telefonat und hörte am anderen Ende die hohe Stimme meiner Schwester: "Schwesterherz! Cool, dass du den Anruf angenommen hast." Ihre Stimme klang überglücklich und irgendwie aufgeregt. Fast fühlte ich mich in die Zeit zurückversetzt, als wir beide noch ein ganzes Stück jünger gewesen waren. Ihre Stimme klang wie an Weihnachten oder zu ihrem Geburtstag, als sie es voller Freude nicht mehr abwarten konnte, über die Geschenke herzufallen.
"Ich war erst überrascht, dass du anrufst, weil ich es ehrlich gesagt fast schon wieder vergessen hatte und wir schon unterwegs sind, aber ich bin wirklich froh, deine Stimme zu hören", gab ich ehrlich zu. "Also wenn du willst, kann ich später auch noch mal anrufen." "Nein, Quatsch! Ich habe dich gerade am Telefon und das ist mir definitiv wichtiger, als heute das Tagesziel zu schaffen", redete ich auf sie ein. "Das ist wirklich schön zu hören. Denn es gibt Neuigkeiten!", trällerte sie in den Hörer und ich zog etwas verwirrt die Augenbraue hoch, bis mir auffiel, dass sie diese Geste nicht einmal sehen konnte. Aber sie sprach sowieso direkt weiter: "Du kennst doch Sophia aus meiner ehemaligen Jahrgangsstufe, oder?" "Ja, die kenne ich. Das ist doch die, mit der du dich schon mal öfter am Wochenende verabredet hast und die dein Saufbuddy war, oder?" Es wirkte so, als würde sie am anderen Ende nicken, denn sie bestätigte meine Aussage nicht, sondern erwiderte einfach: "Wir sind zusammen."
Ich grinste in mich hinein. Ich hätte darauf wetten können, dass die beiden mehr als nur beste Freundinnen waren, doch ich hatte meine Schwester nie darauf angesprochen, sie hätte sowieso nicht mit mir geredet. "Glückwunsch. Wissen es Mama und Papa schon?", fragte ich. Unsere Eltern waren eher konservativ eingestellt und da Sophia, zumindest soweit ich das wusste, Hannas erste Freundin war, war ich mir ziemlich sicher, dass sie nichts von ihrer sexuellen Orientierung wussten. Und in diesem Moment fragte ich mich schon, wie sie wohl auf die Beichte ihrer jüngeren Tochter reagieren würden. "Ne, leider nicht. Ich traue mich einfach nicht, weißt du? Mama und Papa sind einfach komisch, wenn es um solche Themen geht." Ich antwortete, immer noch mit einem Lächeln auf dem Gesicht: "Ich weiß, wovon du sprichst. Und sobald ich wieder zu Hause bin, das verspreche ich dir, werde ich mit dir zu unseren Eltern gehen." So eine Schwester hatte ich mir gewünscht. Eine Schwester, die mit mir über ihre Probleme sprach, auch mal um Hilfe bat, wenn auch, ohne es wirklich auszusprechen. Wie hatte ich sie doch vermisst. Liebe schien die Fähigkeit zu haben, aus überzeugten Pessimisten liebevolle und herzliche Partner, Geschwister und Kinder zu machen. Ich wünschte mir für sie, dass das Glück eine Weile hielt und sie ein wenig darin aufblühen konnte, denn so hatte ich sie wirklich gern.
Als ich gerade zu einer Verabschiedung ansetzen wollte, da ich weder meinen Handyakku überstrapazieren, noch die anderen aus den Augen verlieren wollte, setzte sie schon zu ihrem letzten Satz an: "Ach, du. Ich glaube, meine bessere Hälfte klingelt gerade. Mach's gut, wir können in den nächsten Tagen sicherlich noch einmal telefonieren." "Mach du es auch gut und viel Spaß euch noch", antwortete ich und hörte noch ein leises Kichern meiner Schwester, ehe sie auflegte. Schnell ließ ich mein Handy wieder in der Tasche verschwinden und suchte nach den anderen.
Während des Telefonats war ich die ganze Zeit mit den Augen hin und her gewandert, hatte aber nicht gesehen, dass meine drei Mitreisenden noch in Sichtweite standen. Als ich zu ihnen kam, fragte ich verwirrt: "Warum seid ihr nicht weiter gegangen?" "Wir wollten doch nicht riskieren, dass du uns verlierst und du dich verläufst", erwiderte Elian gelassen. "Ich und verlaufen? Ich habe ein Handy dabei, den Weg hätte ich schon gefunden." "Naja, ist ja jetzt auch egal. Wir sind wieder alle da und dann können wir auch weitergehen", beendete Sara die Diskussion und wir gingen weiter zwischen den endlosen Feldern entlang.
Mittags kehrten wir in einem der kleinen Orte ein, an denen wir auf unserer Strecke vorbeigekommen waren, und schlugen uns die Bäuche wieder einmal mit Imbissfraß voll. Da wir fast den ganzen Tag mit Laufen verbrachten, nahmen wir wahrscheinlich kaum zu, gesund war der dauernde Verzehr von Fast Food trotzdem garantiert nicht.
Eine Weile später, als wir uns schon zum zweiten Mal an diesem Tag zwischen den Feldern hindurchkämpften, blieb Sara plötzlich stehen. "Alles okay?" Ich drehte mich zu ihr um und sah zu, wie sie ihre Hände auf die Knie stützte. Sie schüttelte nur leicht den Kopf und beugte sich dann ganz plötzlich zur Seite, um sich gekonnt in den Straßengraben zu übergeben. Zum Glück spuckte sie kein Blut, nur mehr oder weniger verdaute Essenreste verließen ihren Mund. Ich setzte meinen Rucksack ab und suchte ein Taschentuch hervor, mit dem sich die Arme den Mund abwischen konnte. "Danke", murmelte sie, ehe sich ihr Magen ein weiteres Mal dazu entschied, seinen Inhalt wieder nach oben zu befördern. Als sie sich abermals den Mund abwischte, fragte Philip gleichzeitig verstört und besorgt: "Geht's?" Nun nickte sie wieder und ich gab ihr ein wenig Desinfektionsmittel für ihre Hände. "Was war das denn?", fragte ich und sie zuckte nur mit den Schultern, ehe sie antwortete: "Wahrscheinlich ist mir das Essen nicht sonderlich gut bekommen. Ich wüsste zumindest nicht, wo genau ich mir einen Magen-Darm-Infekt eingefangen haben sollte." Der Journalist nickte und strich ihr über die Schulter: "Das würde ich auch so sehen. Kannst du denn noch weiter laufen?" Resigniert schüttelte die Tagebuchschreiberin den Kopf und erwiderte: "Ich fühle mich schon schlapp. Zumindest würde ich gerne ein wenig Pause machen." "Dann lass uns noch ein paar Meter weiter gehen und uns auf die Wiese dort vorne setzen", schlug ich vor und die anderen willigten ein.
"Wir könnten ja auch per Anhalter fa-", setzte Elian an, schlug sich dann aber mit der flachen Hand gegen die Stirn und korrigierte sich selbst: "Fuck, wir stehen irgendwo im Nirgendwo zwischen ein paar Feldern. Na, bravo." Wir setzen uns ins Gras und überlegten, was wir als Nächstes tun sollten. Niemand von uns hatte eine wirkliche Idee und Sara war nicht wirklich dazu in der Lage, etwas zu sagen, da sie sonst Gefahr lief, den Inhalt ihres Magens ein weiteres Mal in die Botanik zu speien.
Eine halbe Stunde lang saßen wir am Wegesrand und starrten in die Gegend, bis Philip plötzlich aufsprang und auf einen sich bewegenden Punkt einige hundert Meter weiter zeigte. Beim näheren Betrachten erkannten wir einen dunkelblauen, schon etwas zerschrammten Wagen mit Ladefläche, der weiter auf uns zukam. Der Journalist war dazu übergegangen, auf und ab zu springen, wild zu winken und zu schreien, dass wir Hilfe brauchten. Zu unserem Erstaunen hielt das Auto tatsächlich einige Meter neben uns an und der Fahrer kurbelte die Scheibe nach unten. Das Großmaul ging zu dem etwas älteren Mann ans Fenster, wechselte einige Worte mit ihm und winkte uns dann heran.
Wir halfen Sara zum Wagen hinüber und die dumpfe Stimme des kahlköpfigen Fahrers ließ verlauten: "Ihr könnt gerne auf der Ladefläche mitfahren, vor allem, wenn ihr eine kranke Lady dabeihabt und heute noch gerne irgendwo unterkommen wollt. Apropos unterkommen, ihr könnt auch gerne bei mir auf dem Heuboden übernachten, mir gehört ein Bauernhof einige Kilometer weiter und ich freue mich immer über Gäste." Dann fügte er noch schnell hinzu: "Wir müssen nur etwas aufpassen, eigentlich dürftet ihr nämlich gar nicht auf die Ladefläche und die Lady kann sich gerne zu mir setzen, aber hier auf den Straßen kommt einem sowieso fast nie jemand entgegen, also sollte das kein Problem sein." Sara lächelte dankbar und ließ sich auf den Beifahrersitz fallen, während Elian, Philip und ich es uns auf der Ladefläche so bequem wie möglich machten.
Auf der Fahrt zogen kilometerweit fast nur Felder an uns vorbei und ich seufzte erleichtert bei dem Gedanken, diesen unendlich langen und zudem noch völlig öden Weg nicht zu Fuß zurücklegen zu müssen. Der Wind wehte uns allen ins Gesicht und die Reifen des bereits etwas klapprigen Autos wirbelten eine Menge Staub von der kleinen Straße auf. Der beißende Geruch von Benzin breitete sich aus und machte die Fahrt zusätzlich zu dem immer wieder einsetzenden Husten aufgrund des trockenen Staubs nicht wirklich angenehmer.
Als wir endlich auf dem Hof des Bauern angekommen waren, stiegen wir drei etwas benommen von der Ladefläche, während Sara fast wieder putzmunter aus der Beifahrertür stieg. "Habt ihr die ganzen schönen Felder gesehen? Das war mal ein Traum", plapperte sie drauflos und Elian schüttelte nur entnervt den Kopf und antwortete mit einem unüberhörbar sarkastischen Unterton: "Weil man auch so verdammt viel von der Wiese gesehen hat, wenn einem der Staub ins Gesicht fliegt, man deswegen einen Hustenanfall bekommt und zusätzlich noch mit einem nur als widerwertig zu beschreibenden Benzingeruch eingenebelt wird." Sara antwortete darauf nur mit einem "Ups." und wir ließen uns von dem Mann den Heuboden zeigen.
Eine Weile später, als wir uns so gut es ging auf dem Heuboden eingerichtet hatten, kam der Bauer noch einmal, um sich mit dem Satz: "Ach übrigens: Der Hahn kräht jeden Morgen um sechs." von uns für diesen Abend zu verabschieden. Etwas resigniert schauten Elian und ich uns an, denn wenn der Journalist genauso laut schnarchen würde wie immer, würde es wohl für uns beide eine eher interessante und gleichzeitig leider auch schlaflose Nacht werden.
Später an diesem Abend lagen wir alle in unsere Schlafsäcke eingewickelt auf dem Holzboden der oberen Etage einer Scheune und starrten die Dachbalken an. Es war noch nicht ganz dunkel, durch die Öffnung des Lastenaufzugs, den es hier oben gab, schien noch ein wenig die Sonne herein und so fiel es mir noch schwerer, einzuschlafen. Philip drehte sich mit einem gekicherten "Dann mal viel Spaß beim wachliegen." von uns anderen weg. Sara schien kurz darauf eingeschlafen zu sein, denn ich hörte nichts weiter als ihr regelmäßiges Atmen neben meinem Ohr. Auch ich schloss meine Augen und versuchte, in die Traumwelt zu verschwinden.
Eine Weile schien ich auch geschlafen zu haben, denn als ich meine Augen wieder öffnete, war es viel dunkler als zuvor und kaum Licht kam herein. Nachdem ich aus meinem Halbschlaf etwas erwacht war, hörte ich ein fast schon ohrenbetäubendes Schnarchen neben mir. Hätte ich nicht gewusst, dass unser Journalist einfach nur unfreiwillig Spaß daran hatte, die halbe Truppe wachzuhalten, hätte ich fast gedacht, jemand würde die Dachbalken wieder festschrauben.
Meine Augen gewöhnten sich ein wenig an die Dunkelheit und ich sah eine Silhouette über mir. Ein wenig perplex tastete ich nach meiner Taschenlampe, knipste sie an und erkannte Elian, der leicht lächelnd über seinen Zeichenblock gebeugt saß und, wie ich nach einigen Sekunden erkannte, an dem Portrait von mir weiterzeichnete. Erst schien er sich nicht mal durch das plötzliche Licht von seiner Arbeit abhalten zu lassen, doch dann blickte er etwas erschrocken auf und flüsterte: "Kannst du auch nicht schlafen?" Ich nickte nur stumm und ehe ich mich versah, hatte er seinen Block zugeklappt, den Stift neben sich gelegt und war aufgestanden. Als ich ihn fragend ansah, zog er mich an der freien Hand nach oben und flüsterte mir immer noch leise zu, obwohl wir beide wussten, dass die beiden anderen wohl auch bei der Apokalypse friedlich weiterschlafen würden: "Lass uns spazieren gehen."
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