05| Turteltauben, Hirnschäden und Panikanfälle
Nachdem wir unsere Zelte abgebaut und den Proviant sicher in den Rucksäcken verstaut hatten, machten wir uns wieder auf den Weg. Als Tagesziel stand heute Jülich auf dem Plan, zumindest laut der Straßenkarte, nur leider mussten wir dann noch einen geeigneten Platz zum Zelten finden, der niemandem sofort auffiel, was sich in einer Stadt als eher schwierig herausstellen konnte und weswegen wir wohl noch eine Weile würden weiterwandern müssen.
Elian und ich waren von der Nacht ziemlich müde und erschöpft, die Rucksäcke lasteten heute noch schwerer als gestern auf unseren Schultern und es war gerade mal Tag zwei unserer Reise. Sara und Philip hingegen waren hellwach und liefen nebeneinander ganz bei Kräften ein Stück voraus. Nach dem Streit heute Morgen schienen sie sich ein wenig besser miteinander zu verstehen und da es an den meisten Straßen nicht möglich war, zu viert nebeneinander zu gehen, teilten wir uns meisten in Zweiergruppen auf oder gingen im Gänsemarsch hintereinander her.
Der Boxer gähnte ausgiebig, als wir uns hinter den anderen beiden herschleppten. "Ja, dass die noch gut laufen können, wundert mich kein Stück. Die konnten ja im Gegensatz zu uns auch schlafen", grummelte er leise und ich nickte nur, während ebenfalls ein Gähnen meinen Mund verließ. "Und wenn ich mir vorstelle, dass wir noch etwas mehr als zwanzig Kilometer vor uns haben, möchte ich mir am liebsten auf der Stelle mein eigenes Grab schaufeln", murmelte er und stolperte kurz darauf fast über seine eigenen Füße, fing sich aber gerade so noch und kam zum Stehen. "Ist alles okay?", fragte ich, als er keuchend die Arme auf die Knie stützte. Die beiden Labertaschen liefen einfach weiter und schienen uns nicht weiter zu beachten. "Ja, ja, alles okay", antwortete er nur und lief weiter. "Die können auch echt nicht auf uns warten, die würden wahrscheinlich auch bis in den nächsten Ort laufen, ohne zu merken, dass sie uns verloren haben", maulte ich genervt. "Lass sie doch, vielleicht haben sie gemerkt, dass sie mehr gemeinsam haben, als gedacht. Zum Beispiel die Vorliebe für Konflikte, Witze und gute Laune. Also wenn du mich fragst, passen sie echt gut zusammen", grinste Elian nun und wirkte schon ein wenig wacher als zuvor. "Wahrscheinlich hast du Recht, lassen wir den Turteltauben ihre wohl verdiente Zweisamkeit. Obwohl, eigentlich hatten sie die ja heute Nacht schon, wenn man mal davon absieht, dass einer der beiden sie schlichtweg verschlafen hat", lachte ich und wir legten etwas wacher einen Zahn zu, um die anderen nicht ganz zu verlieren.
Innerhalb der nächsten Stunde hatten wir Philip und Sara wieder eingeholt und unterhielten uns seitdem über witzige Anekdoten oder Dinge, die in unserer Kindheit passiert waren. So erfuhren wir, dass Philip als Kleinkind in seine erwachsene Nachbarin- damals wohl so alt wie wir heute- verliebt gewesen war und bei dem Versuch, ihr mit einem selbst gepflückten Blumenstrauß seine unendliche Liebe zu gestehen, wohl den Spruch "Wo die Liebe hinfällt" etwas zu wörtlich genommen hatte. Direkt vor ihrer Wohnung war er gestolpert und im wahrsten Sinne des Wortes mit der Tür ins Haus gefallen. Immerhin hatte sie ihm danach ein Pflaster auf den aufgeschürften Ellenbogen geklebt, aber den Strauß hatte es wohl oder übel zerlegt. Elian dagegen hatte seinem besten Freund aus Grundschulzeiten direkt am ersten Tag fast die Schultüte ins Auge gestochen. Es gab schon komische Ereignisse, durch die sich Menschen miteinander anfreunden konnten. Sara hatte als siebenjährige wohl den Handwerker, der jedes Jahr kam, um nach der Heizung und dem Kamin zu schauen, für den Liebhaber ihrer Mutter gehalten und hatte sie dann gefragt, warum er sie denn nur ein Mal im Jahr besuchen kam und warum sie denn zwei Männer hatte. Schon witzig, was Kinder in Unschuld alles sagten und wie sie damit schon zu ganzen Familienkriegen beigetragen hatten. Als Letztes war ich mit Erzählen dran, während wir unbeirrt weiterliefen. Erst musste ich eine Weile überlegen, aber schließlich fiel mir ein wirklich denkwürdiges Ereignis, an das ich mich allerdings nur von Videos erinnern konnte. "Also ich habe eine drei Jahre jüngere Schwester und meine Eltern haben zum Glück den Moment mit einem Video festgehalten, als ich sie zum ersten Mal gesehen habe. Meine Mutter hat sie mir in den Arm gelegt und das Einzige, was ich gesagt habe, war: 'Bleibt die für immer so klein? Mit so was kleinem will ich nicht spielen!'" Die anderen lachten, ich hatte Glück gehabt und meine Schwester war noch ein ganzes Stück gewachsen und war mittlerweile größer als ich.
Philip erwiderte nur grinsend: "Tja, das könnten wir zu euch Frauen ja genauso sagen." Daraufhin bekam er im Laufen nur einen Stoß in die Rippen von mir verpasst und strauchelte kurz, ehe er zu einer Gegenattacke ansetzen wollte. Doch Elian lachte genau in diesem Moment laut auf und sagte: "Du, das mit dem Spielen mit den beiden Frauen könnte man auch glatt ein wenig falsch verstehen." "Vielleicht habe ich es ja auch genauso gemeint", antwortete Philip mit einem schiefen Lächeln und wünschte sich wahrscheinlich einige Sekunden später, sich diesen Kommentar verkniffen zu haben, denn Sara blickte zwischen den beiden Männern hin und her, so als hätte sie sie gerne gleichzeitig stranguliert. Gerade, als sie wieder zu schimpfen anfangen wollte, hielt ich sie auf: "Sara, das bringt nichts, spar dir deine Kraft fürs Laufen. Diese zwei frühpubertären Jungs haben einfach hormonbedingt einen Hirnschaden, das darf man nur nicht so ernst nehmen. Und falls der Schaden doch nicht durch Hormone verursacht worden ist, erziehen wir uns die beiden noch." Wir grinsten beide und als Elian gerade seinen Mund zum Protest öffnen wollte, gingen wir einfach weiter und riefen ihnen zu: "Jungs, kommt ihr? Wir haben noch viel vor!"
Bald kamen wir an eine gut befahrene Bundesstraße, die zum Glück einen ausreichend breiten Seitenstreifen hatte, sodass zumindest jeweils zwei von uns nebeneinander gehen konnten. Nun gingen die Jungs vor, sie hatten uns schließlich wieder überholt, aber nur einige Meter und Sara und ich machten den Abschluss. Uns fiel auf, dass wir in den paar Stunden des Laufens, die wir seit dem gestrigen Morgen schon hinter uns hatten, noch nie zu zweit gelaufen waren und waren umso glücklicher, uns jetzt auch mal unter Frauen unterhalten zu können. "Irgendwie sind die Männer manchmal echt ein wenig sehr hormongesteuert, findest du nicht? Sie kämpfen die ganze Zeit um ihren männlichen Stolz und ihre angebliche Ehre und benehmen sich dabei wie zwei Kindergartenkinder", war Saras erster Satz. "Du bringst meine Gedanken des gesamten letzten Tages sehr präzise auf den Punkt. Ich habe das Konzept hinter diesen Hahnenkämpfen noch nie verstanden", antwortete ich. "Und sie behandeln uns wie diese Ware am Wühltisch im Discounter. In manchen Momenten fühle ich mich von den beiden echt verarscht. Und siehst du, jetzt verhalten sie sich wieder wie die besten Freunde, also das verstehe ich echt nicht", erwiderte die Tagebuchschreiberin. Ich nickte nur, denn ich wusste genau, wovon sie sprach, denn ich hatte den vergangenen Tag mit den gleichen Gedanken verbracht. "Obwohl, manchmal sind sie ja schon ganz süß", fügte sie hinzu und ihre Stimme wandelte sich von genervt zu schwärmend. "Ja, manchmal benehmen sie sich dann doch ganz liebevoll, aber kein Grund, die beiden so anzuspringen, wie sie das bei uns anscheinend gerne tun würden."
"Apropos anspringen, was passiert da gerade eigentlich?", fragte Sara irritiert und wir blieben abrupt stehen. Kurz vor uns waren die beiden Männer stehen geblieben und Philip unterhielt sich mit einem Mann Mitte fünfzig, während Elian mit einem Labrador herumtollte, der wohl dem Gesprächspartner des Journalisten gehörte. Die Szene sah von außen betrachtet wirklich lustig aus, denn Philip und der Mann unterhielten sich wie Erwachsene während der Boxer mit dem Hund spielte wie ein kleines Kind, das im Körper eines Bodybuilders steckte.
Dann hielt der Hund inne und starrte uns an, ehe er auf mich zustürmte. Panisch schlang ich mir die Arme um den Oberkörper und als sich Elian umdrehte, rief ich schrill: "Tu das Vieh weg!" Als der Hund immer noch nicht von mir abließ und kurz davor war, an mir hochzuspringen, wich ich einen Schritt zurück, dann noch einen und stolperte schließlich etwas unbeholfen rückwärts in die Richtung, aus der wir gekommen waren. Der Boxer kam bei mir an und hielt mich am Arm fest, sodass ich nicht weiter zurückgehen konnte und ich wollte mich aus seinem Griff befreien, da der Hund immer noch auf mich zukam. Doch dann wurde der Besitzer auf das Spektakel aufmerksam und rief seinen Hund zurück.
Mein Herz schlug mir bis zum Hals, ein Kloß schnürte mir die Kehle zu und ich zitterte am ganzen Körper, während Elian langsam seinen Griff um mein Handgelenk lockerte. Eine typische Panikreaktion eben, ausgelöst durch ein lange zurückliegendes Ereignis, vergraben in den Erinnerungen an meine Kindheit. Dabei hatte dieser Hund nur mit mir spielen wollte, doch wollte wohl nicht einsehen, dass ich nicht mit ihm spielen wollte. Sara blickte mich verdutzt an, sie hatte sich ebenfalls neben mich gestellt. Philip drehte sich kurz zu mir um, sah wohl meine Panik vor dem Hund, wendete seinen Kopf dann aber mit einem verschmitzten Grinsen wieder zurück und unterhielt sich weiter mit dem Mann. "Das war doch nur ein kleiner Hund und er wollte nur spielen, das hast du doch an mir gesehen", versuchte Elian mich zu beruhigen. "Klein? Für dich vielleicht, aber für mich ist das ein großes Monster", antwortete ich spitz. "Ja, okay, ist ja schon gut. Du hast Angst und dann wird aus einem spielenden Hund schnell ein tödliches Monster, schon verstanden." Er legte einen Arm um meine Schulter und strich sanft über meinen Arm, bis ich zu zittern aufhörte. Das war wohl die bis jetzt liebevollste und reifste Aktion der beiden Hähne gewesen, was auch die Tagebuchschreiberin bemerkt hatte, die mich verschmitzt von der Seite anlächelte. "Geht es wieder?", fragte sie und ich nickte, ehe ich sagte: "Jetzt lasst uns mal den armen Mann vom Redefluss unseres lieben Journalisten befreien, sonst stehen die beiden wohl heute Abend noch hier."
Wir verabschiedeten uns von dem Hundemenschen und liefen weiter die Bundesstraße entlang, bis Philip anfing, Witze über Hunde zu machen. "Kennt ihr den schon? Martin humpelt zum Arzt und jammert: 'Mein Hund hat mich gebissen.' Fragt der Arzt: 'Haben sie denn was draufgetan?' 'Ne, es hat ihm auch so geschmeckt.'" Ich rollte nur mit den Augen, denn ich wusste, dass es auf mich abzielte, die anderen grinsten breit, sagten aber nichts, denn das Großmaul kam direkt mit dem nächsten Witz an: "Oder den hier? Es gibt ein altes Sprichwort: 'Hunde, die bellen, beißen nicht.' Was Briefträger so unglaublich schlimm an diesem Sprichwort finden? Kaum ein Hund kennt es!" Nach noch drei oder vier weiteren Sprüchen wurde es mir allmählich zu bunt und ich motzte ihn an: "Kannst du vielleicht mal aufhören, Witze auf meine Kosten zu machen? Es nervt langsam wirklich. Ja, ich habe Angst vor Hunden, aber ist das wirklich ein Grund, die ganze Zeit Witze darüber zu machen?" "Ich höre ja schon auf", maulte Philip wie ein kleines Kind und danach herrschte erst einmal eine Weile Ruhe.
"Hey, ich habe eine Idee!", rief ich plötzlich. Alle blieben stehen und ich sprach weiter: "Wir können eine Challenge starten. Wer bis zu unserer Zwischenstation in einem Ort zum Mittagessen auf dieser Bundesstraße die meisten Smarts gesehen hat, bekommt eine Belohnung. Ich habe hier schon einige gesehen, das sollte nicht allzu schwer sein." "Und was soll das für eine Belohnung sein?", fragte die Tagebuchschreiberin interessiert. "Ich hab's! Derjenige darf entscheiden, wer heute Nacht bei wem im Zelt schläft!", rief Philip nach wenigen Sekunden des Überlegens. "Okay, Deal?", fragte ich in die Runde und alle nickten.
So liefen wir noch gut eine Dreiviertelstunden weiter, bis wir von der Bundesstraße auf eine kleinere Straße abbiegen mussten. Wir hatten kaum die Zeit gehabt, uns über etwas anderes zu unterhalten, da wir fast ausschließlich damit beschäftigt gewesen waren, auf die Autos zu achten und die kleinen fahrbaren und dabei auch noch sauteuren Schuhkartons zu zählen. Als wir die große Straße verließen, triumphierte Elian plötzlich. "Ich glaube, ich habe gewonnen! Ich habe zwölf gezählt. Und ihr?" "Weniger", sagten wir alle nacheinander und das Grinsen auf seinem Gesicht wurde immer breiter. "Tja, dann darf ich ja jetzt wohl entscheiden, wer mit wem heute die Nacht im Zelt verbringt. Und ich würde mal sagen, ich habe deine Gesellschaft letzte Nacht genossen, alles ist besser, als eine Kettensäge neben sich liegen zu haben und da ich dir auch deinen Schlaf gönnen will, wirst du dir heute das Zelt wieder mit mir teilen", sagte er und deutete dabei auf mich. "Und das heißt, du musst wieder mit mir vorlieb nehmen, Madame", antwortete Philip an Sara gerichtet und kam mit seinem Gesicht ganz nah an ihres heran. Sie schob ihn von sich und murmelte: "Um Gottes Willen, bloß nicht", ehe sie hinzufügte: "Dann geh aber wenigstens weg von mir, ich will deine Körpernähe nicht jetzt schon aushalten müssen, wenn ich das schon heute Nacht wieder muss." Er ging ein Stück von ihr weg und erwiderte nur grinsend: "Aber wenigstens muss ich dann am nächsten Morgen nicht wieder mit einer Klatsche von dir rechnen, weil es nicht abgesprochen war. Das ist schon mal ein Fortschritt." Um die Konversation der beiden zu einem Ende zu bringen, sagte ich nur: "Leute, es ist ja schön, dass ihr euch so angeregt unterhaltet, aber könntet ihr das vielleicht im Gehen machen? Wir wollen ja heute noch etwas zu Essen bekommen." Und mit dem Satz setzten wir unseren Weg fort.
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