02| Nörgeleien, Zugfahrten und zeichnenede Boxer
Als wir draußen vor der riesigen Halle standen, meinte Sara plötzlich: „Weiß eigentlich irgendwer, wo wir hin müssen?" Elian deutete auf mich und antwortete: „Da ist unsere Führerin, die muss das wissen." Ich hatte völlig vergessen, dass ich diejenige mit dem Plan hätte sein sollen. Denn ich musste ehrlich sein, ich hatte nicht wirklich einen Plan, wo wir hin mussten. Ich wollte in die Niederlande ans Meer, das war so ziemlich alles, was ich wusste. „Ähm, also... Ich habe ehrlich gesagt nicht so die Idee, wo wir lang gehen müssen. Ich habe mir so spontan dazu nicht so wirklich Gedanken gemacht. Aber wenn wir jeden Tag um die 20 Kilometer gehen, würden wir heute nicht einmal aus Köln rauskommen und auf der Straße zelten ist auch nicht die beste Option." Elian antwortete: „Du bist ja echt schlau. Kommst mit einem Trip an und hast nicht einmal einen Plan, wie der Weg aussehen könnte." Doch er lächelte dabei, ehe er hinzufügte: „Sonst lasst uns noch mit der Bahn einige Haltestellen aus der Stadt rausfahren und dann losgehen, dann kommen wir auch heute noch zu einem Stück, wo wir ungestört zelten können. Und Google Maps wird wohl wissen, wie wir am besten in die Niederlande kommen." Wir nickten einstimmig und Philip fügte hinzu: „Ja dann mal los, Kameraden, wir wollen den heutigen Tag ja nicht mit Rumstehen und labern verbringen."
Also passierten wir wieder das Schnellrestaurant und gingen hoch zu den Gleisen. „Hat jeder von euch so eine Studentenkarte für die Öffis?", fragte ich. Alle nickten und wir machten uns auf die Suche nach dem richtigen Gleis. „Hier!" Sara deutete auf eine Tafel am siebten Gleis. „Wenn wir die nächste Straßenbahn nehmen, kommen wir in Frechen raus und es ist auch die richtige Richtung, wenn ich mich nicht irre." Ich kramte mein Smartphone aus der Hosentasche und schaute nach, ob wir dann in die richtige Richtung fahren würden. Und tatsächlich, sie hatte Recht. „Jungs, wir müssen hier hin!", rief ich durch die große Halle und winkte die beiden in unsere Richtung. „Die nächste Straßenbahn in diese Richtung fährt in zwanzig Minuten und von dort aus kommen wir in zwanzig Kilometern auch aus Köln raus", meinte ich nur, als sie schließlich neben uns standen. Sie nickten nur und wir lauschten schweigend den an- und abfahrenden Zügen.
„Wie lange dauert das denn noch?", nörgelte Philip, als gerade einmal fünf Minuten vergangen waren. „Wir müssen noch fünfzehn Minuten warten, du musst dich wohl noch etwas gedulden. Und ich habe leider auch nichts zum Spielen für den kleinen Philip dabei, du musst die Zeit wohl so totschlagen", lachte ich und sah zu meiner Belustigung, wie der Journalist sich vor mir aufbaute, die Hände gespielt empört in die Seiten gestemmt. „So klein bin ich dann doch nicht", grinste er hämisch und blickte auf mich hinunter. Nein, klein war er ganz sicher nicht, er benahm sich nur ungefähr wie ein Fünfjähriger, aber diesen Kommentar verkniff ich mir lieber.
Den Rest der Zeit verbrachten wir damit, „Ich sehe was, was du nicht siehst" zu spielen, was sich in einer fast einheitlich dunkelgrauen Halle als ziemlich langweilig erwies. Wir jubelten, als die richtige Bahn schließlich einfuhr und man hätte denken können, wir wären Kinder, die sich auf einen Urlaub freuten und nicht Studenten auf dem Weg in die Freiheit. Aber unsere laut kundgegebene Freude verschwand zum Glück im leisen Gemurmel und lauten Gefluche der anderen Pendler und so schenkte uns zum Glück niemand sonderlich viel Aufmerksamkeit.
Als wir in den Zug einstiegen, passten wir besonders auf, niemanden mit unseren Rucksäcken von den Socken zu hauen und quetschten uns in einen Vierer. Die beiden Männer stritten sich um die Fensterplätze und da Sara und ich keine Lust auf das dauernde Genörgel von einem von ihnen hatten, machte ich meinen Fensterplatz für Elian frei und setzte mich neben ihn an den Gang. „Wenn der Zug bremst, hat jeder von uns seinen eigenen Rucksack im Gesicht, welch ein Spaß", scherzte Sara – sie schien langsam etwas warm zu werden und wirkte nicht mehr ganz so verschlossen wie noch vor einer halben Stunde - und ich grinste. Denn wir alle hatten unser Monstrum auf dem Schoß und konnten die anderen nicht wirklich sehen geschweige denn normal mit ihnen kommunizieren. „Weiß eigentlich irgendwer, an welcher Haltestelle wir dann aussteigen müssen?"; warf Elian ein. Seine braunen Haare fielen ihm ins Gesicht, aber er hatte beim besten Willen keine Hand frei, um sie wieder in ihre richtige Position zu schieben. „Nö, irgendwann wird wahrscheinlich in der Ansage gesagt, dass die nächste Haltestelle Frechen ist oder so", antwortete ich. „Du bist mir vielleicht eine tolle Führerin. Du hast zwar ein Ziel vor Augen, aber nicht mal ansatzweise eine Ahnung, wie man da hinkommt. Sehr lobenswert." Auch wenn ich wusste, dass die Anmerkung eher scherzhaft als ernst gemeint gewesen war, drehte ich mich von ihm weg und starrte auf den Gang. Grau gemusterter Boden, aus Plastik wahrscheinlich, dahinter knallrote Haltestangen und quietsche bunt gepunktete Sitzpolster, so wie die, auf denen wir gerade saßen. Wer sich solch ein abscheuliches Design wohl ausgedacht hatte? Es blieb mir ein ewiges Rätsel.
„Hey, so war das jetzt auch nicht gemeint. So schlimm ist es nicht, dass du keinen Plan hast, es hat einen zusätzlichen Spannungseffekt, weil man nicht mal wirkliche eine Ahnung hat, wo man eigentlich hin muss. Aber irgendwie war ich davon ausgegangen, dass Frauen eher geplant und perfekt vorbereitet in so ein Abenteuer starten." Ich grinste in mich hinein, hielt meinen Kopf aber weiterhin weggedreht, schmollen tat ich schon nach diesem Satz nicht mehr, aber irgendwie fand ich einen Gefallen daran, ihn zu quälen. „Na toll, jetzt schmollt sie. Dann schau mal, wie du da wieder rauskommst, ich helfe dir da bestimmt nicht bei", maulte Philip und prompt stieg Sara in die Diskussion mit ein: „Hör jetzt sofort auf so rumzunörgeln. Wenn du das noch mal machst, schlag ich dich, dieser Tonfall ist ja wirklich nicht auszuhalten." „Mit welcher freien Hand denn bitte?", lachte das Großmaul hämisch und ich konnte mir bildlich vorstellen, wie Sara hinter der Wand aus Rucksäcken den Kopf schüttelte und die Augen verdrehte.
„Es tut mir wirklich leid, Alex. Ich wusste nicht, dass du so empfindlich auf Kritik reagierst", versuchte es der Muskelberg ein weiteres Mal und seinem sanften Tonfall nach zu urteilen hätte er mir wohl eine Hand auf die Schulter gelegt, hätte er denn eine zur Verfügung gehabt. Blitzartig drehte ich mich zu ihm um und fing zu lachen an. „Du hast mir das gerade echt abgekauft?" Etwas verwirrt blickte Elian mich an und machte seinen Mund auf, um etwas zu erwidern, schloss ihn dann aber wieder, er schien ein Blackout zu haben. „Ich habe dich einfach ein wenig auf den Arm genommen. Am Anfang war ich schon ein wenig gekränkt, aber der Rest war einfach nur gespielt, ich reagiere nicht wirklich stark auf Kritik." Ich lächelte, während er seine Sprache wiederfand: „Du bist ganz schön hinterlistig und du hast mir echt einen Schrecken eingejagt. Wir dürfen dich nämlich bloß nicht vergraulen, denn du bist die mit der Idee und zumindest einem ganz groben Plan, wo unser Ziel ist."
Um das Thema zu wechseln, warf Philip ein: „Haben wir uns eigentlich schon darüber unterhalten, welche Hobbies wir haben? Wenn ja, kann ich mich zumindest nicht mehr daran erinnern und wenn nicht, wäre jetzt die passende Gelegenheit, das nachzuholen." „Wir kennen uns erst seit anderthalb Stunden, da gab es nicht so viele Möglichkeiten, solche Dinge zu besprechen", hörte ich Sara murmeln. „Eben, deswegen können wir das ja jetzt machen", ließ das Großmaul sich nicht abwimmeln, auch wenn er an Saras Tonfall gehört haben musste, dass sie wenig Interesse an der Freizeitbeschäftigung von uns anderen hatte. Aber sie fing trotzdem zu reden an: „Also ich schreibe gerne Tagebuch und ich habe es auch jetzt auf dem Trip mit, deswegen sollte sich niemand wundern, wenn ich tagsüber, sofern es die Zeit zulässt, immer mal einige Sätze in mein Büchlein kritzele. Und ich spiele leidenschaftlich gern Gitarre, die habe ich jetzt aber mal nicht mitgenommen. Dafür habe ich eine Ukulele außen an meinen Rucksack gequetscht." „Nicht dein Ernst?"; lachte ich auf. „Doch, wer weiß, welche Geister man mit einer Ukulele so alle beschwören kann. Weiß man's?" Auch sie lachte und langsam hatte ich wirklich das Gefühl, dass sie ein wenig aufzutauen schien, denn ihre Laune wurde immer lockerer und ausgelassener, was sie zu einem extrovertierteren Menschen werden ließ, als ich zuerst vermutet hatte.
„Also ich bin Boxer und verbringe sonst meine Zeit mit Zeichnen", warf Elian ein. „Und das würde auch meine halb gebrochene Schulter von dem Klaps eben erklären. Also das Boxen natürlich", erwiderte Philip. „Deine halb gebrochene Schulter? Bist du aus Pudding oder warum muss man dich nur anpusten und du brichst dir fast sämtliche Knochen?", fragte der Boxer mit einem breitem Grinsen auf dem Gesicht, das nur ich sehen konnte. Philip antwortete nur mit einem Grunzen und ich fragte stattdessen interessiert: „Hast du auch deine Sachen fürs Zeichnen mitgenommen?" „Ja, tatsächlich habe ich das, mal sehen, ob ich überhaupt dazu komme, wenn wir die meiste Zeit unterwegs sind", antwortete er.
„Ach, habt ihr beide eigentlich an die Zelte gedacht und wenn ja, wo sind sie?", fragte Sara einen kurzen Augenblick später. „Also ich habe meins mit", sagte der Journalist schnell und fügte hinzu: „Und ich habe es noch in den Rucksack gestopft." „Hast du im Gegenzug keine Klamotten mitgenommen, oder was?", lachte ich. „Doch, klar habe ich, aber eben nicht für drei Wochen wie du. Ich ziehe manche Sachen eben zwei Mal an", antwortete er eingeschnappt. „Und wie sieht es bei dir aus?", fragte ich meinen Sitznachbarn. „Wenn er es nicht dabei hat, müssen wir wohl gestapelt in einem Zelt für zwei Personen schlafen", scherzte Philip und an seinem Tonfall konnte ich erkennen, dass ihm wohl gerade der Sabber aus dem Mund lief bei dem Gedanken mit uns Frauen in einem Zelt zu schlafen. Meine Güte, dieser Typ war nicht nur nervig, sondern auch noch pervers. Sara schien den gleichen Gedanken gehabt zu haben, denn sie trat ihm dem Geräusch nach zu urteilen gegen sein Schienbein und motzte: „Behalt deine sexuellen Anspielungen lieber für dich, du Perverser, sonst kriegst du mein Bein noch ganz anders zu spüren." Elian schien meine Gedanken auszusprechen, als er das Spektakel mit dem Satz: „Wir kennen uns erst seit etwas mehr als anderthalb Stunden und verstehen uns schon prächtig." kommentierte. Das ließ die beiden uns gegenüber Sitzenden aufhorchen und uns in Gelächter ausbrechen.
„Ach so, und um deine Frage zu beantworten. Ich habe das Zelt auch dabei, bei mir hängt es nur außen am Rucksack", meldete sich Elian zu Wort. Ich atmete erleichtert auf, für unsere Behausungen war also gesorgt zu sein. Nur Philip ließ ein „Schade" verlauten und bekam von Sara anscheinend einen tödlichen Blick zugeworfen, denn er verstummte abrupt. „Ich fotografiere übrigens für mein Leben gerne und deswegen braucht sich auch keiner zu wundern, wenn ich immer mal stehen bleibe, um ein Foto zu machen. Und ich höre wirklich gerne Musik, aber die werde ich hier wegen eurer Anwesenheit ja nicht mehr brauchen", setzte ich die Konversation fort. „Und ich habe gar keine wirklichen Hobbies", gab das Großmaul zu. „Oh, da wüsste ich aber was", grinste Elian. „Deine Hobbies sind reden, reden, ach und hatte ich schon reden erwähnt?" Wir brachen abermals in Gelächter aus, was uns von den Zuggästen um uns herum einige böse Blicke einbrachte.
Nachdem wir uns noch eine Weile über die ein oder anderen belanglosen Dinge unterhalten hatten, ertönte eine monotone Ansage durch das Abteil: „Nächste Haltestelle: Frechen Bahnhof" „Ich denke, hier müssen wir aussteigen", schlussfolgerte ich. „Sehr gut kombiniert, Detektivin", grinste Elian, als wir uns aus dem Vierer zwängten und die Rucksäcke aufsetzten. Zum Glück mussten an dieser Haltestelle nur wenige Menschen aussteigen, sodass wir nicht wirklich Gefahr liefen, jemanden mit unserem Gepäck zu erschlagen.
Auf dem Bahnsteig standen wir etwas unschlüssig zwischen den anderen Leuten und warteten, bis sich das Chaos etwas gelichtet hatte, ehe Elian fragte: „Und wohin jetzt?" Ich kramte mein Handy aus meiner Trekkinghose hervor und öffnete die Karte. Da ich damit aber nicht wirklich weiterkam und der Muskelberg das zu bemerken schien, nahm er mir das Handy aus der Hand, tippte ein paar Mal darauf herum und deutete schließlich nach links. „Erst einmal müssen wir in diese Richtung und nach ein paar Kilometern sind wir dann auch aus Köln raus und dann können wir irgendwo in der Natur unser Lager aufschlagen." „Du willst mich doch verarschen. Du hast das Handy für ungefähr eine Minute in der Hand gehabt und willst mir allen Ernstes erzählen, dass du weißt, wo wir lang müssen?", erwiderte Philip, doch als der Boxer ihm das Smartphone vor die Nase hielt, nickte er nur und knickte ein: „Ja, okay. Du hast Recht." Elian grinste triumphierend und schob sich das erste Mal seit dem Beginn der Zugfahrt mit seiner Rechten die Haare aus dem Gesicht. „Dann mal los", sagte ich und ließ mir mein Handy wiedergeben, um es in meiner Hosentasche verschwinden zu lassen.
Elian ging voran und wir folgten ihm zuerst vom Bahnhofsgelände und dann noch einige Kilometer weiter querbeet durch die Straßen, ehe wir ein Ortsschild passierten und uns an einer etwas ländlicher gelegenen Straße befanden. Ich war verblüfft, dass der Muskelberg sich den Weg bis hierhin hatte merken können, er musste so etwas wie ein fotografisches Gedächtnis besitzen. „Und jetzt?", fragte Sara als Erste. „Jetzt können wir einfach der Straße folgen und uns für einen Zeltplatz etwas mehr ins Unterholz schlagen. Ich schätze mal, dass es hier in dem Waldstück neben uns die eine oder andere Lichtung geben wird", antwortete Elian. Er benahm sich so, als hätte er schon öfter Wandergruppen angeführt und als wäre das hier ein Klacks für ihn. Wir nickten nur und Philip sagte: „Dann lasst uns losgehen, wir wollen ja nicht hier rumstehen, bis es dunkel wird. Außerdem habe ich irgendwann Hunger." „Dann hättest du dir besser bei McDonald's etwas geholt, mein Lieber", seufzte ich und mit diesem Satz machten wir uns auf den Weg.
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