01| Konservendosen und Großmäuler
"Du machst was?" Alenas Stimme klang schrill, als sie die Frage förmlich ins Telefon brüllte. Ich hielt den Hörer einige Zentimeter von meinem Ohr entfernt, um keinen Hörschaden zu riskieren, ehe ich antwortete: "Ich wandere mit drei fremden Studenten in die Niederlande." Ich grinste in mich hinein. So bescheuert die Idee vielleicht auch klingen mochte und so spontan sie auch gewesen war, so sehr freute ich mich doch auf die Zeit abseits der Uni. Es waren Semesterferien und wenigstens dann hatte ich die Zeit, Abenteuer zu erleben.
Ich konnte mir fast schon bildlich vorstellen, wie Alena am anderen Ende den Kopf schüttelte, denn für einen Moment blieb sie still, ehe sie leicht kindisch motzte: "Und du nimmst MICH, deine beste Freundin, einfach nicht mit und ziehst lieber mit ein paar Wildfremden los? Das können Serienmörder, Vergewaltiger und Kannibalen sein, das ist dir schon klar?" "Jetzt reg dich mal ein wenig ab! Ich mache das extra mit Fremden, wo bleibt denn sonst der Adrenalinkick? Und natürlich kann das sonst wer sein, aber ich lasse es einfach auf mich zukommen. Es muss ja nichts für dich sein, aber ich habe besseres zu tun, als meine Semesterferien ausschließlich mit Büffeln zu verbringen." Meine beste Freundin seufzte theatralisch, ehe sie zu einem Abschiedssatz ansetzte: "Na gut, dann mach, was du willst. Aber pass bitte auf dich auf!" Lachend erwiderte ich: "Seit wann führst du dich auf wie meine Mutter? Aber ja, ich passe auf mich auf. Mach's gut, ich muss noch zu Ende packen. Viel Spaß beim Lernen."
Nachdem ich das Telefonat beendet hatte, stopfte ich weiter planlos Gegenstände in meinen Wanderrucksack. Einige Kleidungsstücke, Konservendosen mit Fertigfraß, ein Dosenöffner, Hygieneartikel, ein Feuerzeug, eine überdimensionale Wasserflasche und ein klitzekleiner Gaskocher befanden sich schon darin und der Rucksack war noch immer nicht ganz voll. Ich legte noch eine Taschenlampe dazu und quetschte einen Topf mit hinein. Dann fiel mir ein, dass mein Gepäck nun völlig unsortiert in meinem Rucksack herumflog und ich mir die Arbeit um einiges leichter machen konnte, wenn ich alles ordentlich sortierte und platzsparend einpackte. Mit einem genervten Seufzer kippte ich den Inhalt des Rucksacks auf den Boden, nur um ihn kurz darauf wieder einzupacken. Hätte ich mir doch besser vorher alles rausgesucht und es dann eingepackt und nicht andersherum, dachte ich.
Als ich wieder alles in dem Monstrum von Tasche verstaut hatte, schlich sich ein hämisches Grinsen auf meine Lippen. Philip und Elian hatten sich dazu bereiterklärt, jeder ein Zelt für zwei Personen mitzunehmen, sodass wir Frauen in einem Zelt schlafen konnten und die Männer im anderen. Wenn sie dem typischen Klischee eines Mannes entsprachen, hatten sie sowieso so wenig Kleidung dabei, dass die Zelte ohne Probleme in die Rucksäcke der beiden Kerle passen würden. Was ein Glück, dass ich nur noch ein großes Zelt von damaligen Familienurlauben im Keller hatte und dass es mit seinen über 12 kg so schwer und unhandlich war, dass wohl niemand von uns es die Strecke unserer Reise über tragen wollte. Und ob ich unbedingt mit drei Fremden auf einem so kleinen Raum schlafen wollte, war auch so eine Frage. Denn so geräumig solche Familienzelte für vier Personen laut Beschreibung auch waren, so eng war es in der Realität leider doch. Man hatte kaum Platz, sich auch nur auf die Seite zu drehen und mit drei Wildfremden jede Nacht eine Kuschelorgie abzuhalten, gehörte dann doch nicht zu meinen Lieblingsbeschäftigungen. Denn Alena hatte schon Recht, natürlich konnten meine Mitreisenden sonst wer sein, ich hatte sie noch nie gesehen, aber das würde ich heute nachholen.
Dann wuchtete ich den überdimensionalen Rucksack vom Boden und trug ihn in den Flur. Dort blickte ich auf die Uhr meines Handys. Es war bereits 9 Uhr am Vormittag, ich musste mich ein wenig sputen, wenn ich um 10 Uhr am Hauptbahnhof stehen wollte. Also schnappte ich mir die Schlüssel und mein Portemonnaie von der Flurkommode und schlüpfte in meine Wanderschuhe, ehe ich vollgepackt das Haus verließ. Gerade als ich den Schlüssel im Schloss umdrehte, wurde mir bewusst, dass ich das Fenster im Bad offen gelassen hatte und schloss fluchend wieder auf, um es zu schließen.
Wieder draußen setzte ich mir mein Gepäck auf den Rücken und wusste, dass ich nun aussah, wie ein wandelnder Rucksack, während ich die Wege zur Straßenbahn entlanglief. Während ich vor mich hin lief, ging ich im Kopf immer wieder die Liste der Dinge durch, die ich mitnehmen wollte und sich jetzt hoffentlich unter den Gepäckstücken befanden. Ich beruhigte mich mit der Tatsache, dass ich mir die überlebenswichtigen Dinge auch noch auf unserem Trip kaufen konnte, denn so oder so würden wir das ein oder andere Mal in der Zivilisation Station machen, schließlich handelte es sich nicht um eine Reise durch den Dschungel. Ich wollte nur gleichzeitig sparsam mit meinem Erspartem umgehen, als noch zu Hause wohnende Studentin verdiente ich noch kein eigenes Geld und meine Eltern hatten es nicht eingesehen, mir den völlig spontanen Trip zu finanzieren. Sie hielten es einfach für das Hirngespinst einer jungen Frau ohne einen Plan vom Leben, aber als sie mir ihre Meinung zu der Schnapsidee offenbart hatten, hatten meine Mitreisenden schon zugesagt und ab dort stand für mich fest, dass ich den Trip durchziehen wollte, koste es, was es wolle.
Nur gut einen Kilometer weiter befand sich die Station der Straßenbahn. Ich drängte mich zu den wartenden Menschen und versuchte, niemanden mit meinem Gepäck zu erschlagen, während ich in den einige Minuten später eintreffenden Zug einstieg. Zum Glück waren am hinteren Ende noch einige Sitzplätze frei und so zwängte ich mich durch die nach Schweiß riechenden Menschen, um mich seufzend an einem Fensterplatz niederzulassen und meinen Rucksack auf den Sitz neben mich zu hieven. Um ihn auf dem Schoß zu behalten, war er schlichtweg zu groß und zu schwer, ich hatte wenig Lust bei einer plötzlichen Bremsung des Bahnfahrers den Rucksack in meinem Gesicht zu spüren.
Zwei Haltestellen später stieg eine ältere Frau zu, die nach einem Sitzplatz zu suchen schien und schließlich neben mir stehen blieb, um sich lauthals zu beschweren: "Diese Jugend von heute. Denkt immer nur an sich und meint, das Privileg zu haben, das Gepäck einfach überall hinzustellen, obwohl es noch arme alte Frauen gibt, die auf einen Sitzplatz angewiesen sind." Mit den Augen rollend hob ich meinen Rucksack hoch, setzte mir das schwere Ding auf den Schoß und sah noch aus dem Augenwinkel, wie die Frau sich kopfschüttelnd auf den freien Sitz neben mir fallen ließ. Sie kann sich aber noch ganz schön laut aufregen, dafür, dass sie eine so arme, alte und gebrechliche Frau ist, dachte ich, sprach die Worte aber nicht aus.
Einige Haltestellen weiter musste ich aussteigen, ich war am Kölner Hauptbahnhof angekommen. Viele weitere Menschen drängten sich aus der Bahn und fluteten die Gleise. Auf dem Weg aus dem stickigen Waggon stieß ich einem jungen Mann meinen Rucksack ins Gesicht. Ich entschuldigte mich ehrlich bei ihm und sah, wie auch er ausstieg. Erst dann fiel mir auf, dass auch er ein Monstrum auf seinem Rücken trug, aber Reisende gab es in Köln in Massen, also bildete ich mir darauf nichts weiter ein. Dann ging ich mit dem konstanten Geräusch der anfahrenden und bremsenden Züge im Ohr die Treppen zum Aufenthaltsbereich des Bahnhofs hinunter. Ich hatte mit den anderen besprochen, dass wir uns vor dem McDonald's treffen würden und mein Herz pochte immer schneller, während mich meine Schritte in Richtung des Schnellrestaurants trugen.
Einige Male schaute ich hinter mich, nur um immer wieder festzustellen, dass der Mann die gleiche Strecke zu gehen schien wie ich. Also ist er vielleicht doch einer der Mitreisenden, grübelte ich, während ich fast über einen kleinen Chihuahua stolperte, der mir vor die Füße gelaufen war. Gerade so konnte ich einen Schlenker um ihn machen, sonst hätte ich ihm wohl schlichtweg gegen den viel zu großen Kopf getreten. Irritiert glotzte mich das Tier mit seinen großen Knopfaugen an und lief dann weiter, hätte es mit den Schultern zucken können, hätte es das wohl in genau diesem Moment getan. Vom Besitzer fehlte allerdings jede Spur und als ich mich kurz nach dem Hund umdrehen wollte, war es auch schon in den Menschenmassen verschwunden.
Am Eingang des Schnellrestaurants angekommen war ich die Erste, doch kurz danach traf der Mann ein, dem ich schon im Zug begegnet war. "Wartest du auch auf die anderen für eine Wanderung in die Niederlande?", fragte er und ich konnte mir gut vorstellen, wie doof er sich bei dieser Frage vorkommen musste. "Ja, ich bin Alex und hatte die ursprüngliche Idee zu dem Trip", antwortete ich. Es war ein komisches Gefühl, sich mit einem Wildfremden zu unterhalten und ihm vertrauen zu müssen, dass er wirklich derjenige war, der mit mir und zwei anderen in die Niederlande wandern wollte und kein Stalker, der durch Zufall von meinem Vorhaben erfahren hatte. Aber gleichzeitig mischte sich Glück zu der Unsicherheit, denn das Adrenalin pulsierte in meinen Adern und gab mir den Kick, den ich an diesem Morgen brauchte. "Ach, cool. Dann bin ich ja direkt an die Richtige geraten. Weißt du, wo die anderen bleiben? Es ist schon fünf nach zehn", bemerkte der junge Mann und ein Lächeln schlich sich nun auf sein vorher eher unsicheres Gesicht. "Nein, ich habe leider auch keine Ahnung, wo die anderen beiden sind, aber wenn sie in zehn Minuten immer noch nicht da sind, können wir sie auch anschreiben und fragen, wo sie bleiben. Ach, und Entschuldigung nochm..." Weiter kam ich nicht, denn plötzlich hörte ich eine dumpfe Männerstimme, die einmal quer durch die Empfangshalle des Bahnhofs brüllte: "Ey, ihr da! Wollt ihr in die Niederlande wandern?" Suchend blickte ich mich um und meine Augen trafen zwei Gestalten in einigen Metern Entfernung, von denen eine auf uns deutete. Ich reckte beide Daumen zur Bestätigung hoch und sah, wie die beiden auf uns zukamen.
Gerade, als ich zu einem neuen Versuch ansetzen wollte, mich bei dem Mann mir gegenüber zu entschuldigen, tauchten die beiden anderen Wanderer bei uns auf. Der junge Mann, der eben quer durch den Bahnhof gebrüllt hatte, grinste breit und hatte eine ebenso junge Frau im Schlepptau, die sich nun neben ihn stellte, sodass wir vier einen Kreis bildeten. "Ich habe auf dem Weg hierhin zufällig diese hübsche Dame hier aufgegabelt und gleich mal mitgenommen", erklärte er immer noch lächelnd. Ich sah, wie die "hübsche Dame", wie er sie liebevoll nannte, rot anlief, aber dem nichts weiter hinzufügte. Ich fragte mich, ob die beiden sich schon irgendwoher kannten oder ob der junge Mann einfach nur so eine ziemlich große Klappe hatte. Ich stellte mich den anderen als Alex vor, der Mann aus dem Zug hieß Elian, das Großmaul war mit dem Namen Philip gesegnet und die junge Frau neben mir machte sich mit uns als Sara bekannt.
Während wir so in einem Kreis standen, musterte ich meine neuen Genossen eindringlich. Elian war breit gebaut, wirkte aber eher ruhig, was so gar nicht zu seiner Körperform passte. Philip war dünn wie ein Spargel, ich wusste aber bereits nach nur fünf Minuten, dass er die größte Klappe von uns allen hatte, denn er war derjenige, der die ganze Zeit redete, der Rest von uns schwieg im Gegenzug fast gänzlich. Und Sara war ziemlich klein und wirkte neben Philip durch ihre auch eher ruhige Art völlig fehl am Platz. So waren wir eine völlig bunt gemixte Gruppe und würden uns gemeinsam auf den Weg in die Niederlande machen. Ich konnte es immer noch nicht ganz fassen, obwohl ich seit einigen Tagen an fast nichts anderes mehr hatte denken können. Dass der Traum von ein wenig Freiheit nun tatsächlich wahr geworden war, überraschte mich und jetzt gerade, während ich mit meiner Gruppe vor dem Eingang des McDonald's stand, wurde mir erst wirklich bewusst, auf welches Abenteuer ich mich eigentlich eingelassen hatte. Und es war sicherlich riskant, sich mit ein paar Wildfremden auf einen völlig unbekannten Weg zu machen und auch noch mit ihnen im Zelt zu schlafen, aber es würde großartig werden, da war ich mir sicher. Ich grinste in mich hinein, als mir die Entschuldigung wieder einfiel.
"Mir ist gerade der Satz, den ich vorhin noch zu Ende führen wollte, wieder eingefallen. Ich wollte mich noch mal dafür entschuldigen, dass ich dich eben im Zug fast mit meinem Rucksack ausgeknockt hätte." Elian lächelte nur und antwortete dann: "Von ausgeknockt war das noch ganz schön weit entfernt und außerdem ist es in einer Straßenbahn auch nicht gerade praktisch, mit so einem Monster auf dem Rücken ein- und aussteigen zu wollen." Er deutete auf seinen Rucksack, der an ihm dann doch um einiges kleiner aussah als bei mir oder Sara. Die anderen nickten nur zustimmend, doch es wirkte so, als hätten sie nicht mal wirklich zugehört.
Plötzlich kam Sara das erste Mal mit einer Frage auf: "Was studiert ihr eigentlich? Wir sind ja alle Studies, soweit ich weiß." Eigentlich wollten wir alle im gleichen Augenblick zu sprechen beginnen, doch Philip riss am schnellsten seinen Mund auf und sagt: "Ich studiere Journalismus, aber ich bin diesen theoretischen Kram einfach total Leid im Moment, deswegen verbringe ich meine Semesterferien jetzt hier, anstatt mich mit dem Finden von ansprechenden Überschriften zu beschäftigen." Elian lachte kurz auf und gab hämisch seinen Senf hinzu: "Dann kannst du ja nach deinem Studium Schreiberling bei der Bild werden, die suchen bestimmt noch nach Journalisten." und klopfte ihm auf die Schulter, woraufhin sich das Großmaul versteifte. Anscheinend sah Elian nicht nur so aus, als hätte er Muskeln, sondern er hatte tatsächlich welche. Philip jedenfalls sah aufgrund seines gequälten Lächelns so aus, als hätte ihm der Muskelberg soeben die Schulter gebrochen, brachte aber trotzdem eine schlagfertige Antwort zustande: "Und wenn schon. Was studierst du denn? Dich könnte ich mir ja super in so einem Kunst Studium vorstellen. Ein richtig grober Klotz wie du mit so einem ganz feinen Pinsel in der Hand, stelle ich mir ganz großartig vor." Elian antwortete prompt: "Ich studiere tatsächlich Kunst, nur leider ist da im Moment nicht viel mit Pinsel in der Hand, sondern nur dieser zermürbende theoretische Kram, der einem nach zwei Tagen aus den Ohren wieder rauskommt. Deswegen bin ich jetzt hier." Der Journalist schaute ihn völlig fassungslos an, ehe er anmerkte: "Der Herr findet wohl den Wohlgefallen daran zu scherzen, oder irre ich?" "Ja, du irrst dich ganz gewaltig, du armer Irrer mit dem Wortschatz eines ausgewachsenen Dudens", lachte Elian und als Philip gerade kontern wollte, ging ich schnell dazwischen: "Wir existieren auch noch, ich glaube, wir würden auch gerne noch sagen, was wir studieren, Jungs."
"Also ich studiere Germanistik und da wir da im Moment nur unheimlich langweilige Texte lesen, gegen die Philips Sprache noch modern ist, wollte ich da einfach mal eine Auszeit von haben", erläuterte ich. Die anderen nickten nur und ich bemerkte, wie das Großmaul sich einen Kommentar verkniff. Dann kam Sara als letzte auf den Punkt, obwohl sie die Frage gestellt hatte: "Ich studiere Anglistik und da ich im Moment merke, wie ich zwischen Deutsch und Englisch immer hin und her switche, habe ich mir mal eine Auszeit vom Lernen genommen und komme jetzt mit euch." "Dann lasst uns doch jetzt auch endlich mal losgehen, ewig rumstehen und Kaffeekränzchen halten bringt uns keinen Millimeter näher zum Ziel", nölte Philip und wir lachten alle, ehe wir uns auf den Ausgang des Bahnhofs zubewegten.
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