6.11. Ausgetrickst
Inzwischen gelangten Elvira und ihr Meister ungefähr zur gleichen Zeit, in der die Grafen ihr Treffen abhielten, an den Bärenbach. Mühselig waren sie in den letzten beiden Stunden durch den mit Pflanzen überwucherten Moosboden des Waldes gewandert, immer Ausschau haltend nach dem bekannten Gewässer.
Elvira hatte sich dabei zunehmend über ihren Lehrmeister gewundert. Obwohl sie sich ein gutes Stück von dem Waldrand entfernt hatten, schien der Alte wie von Zauberhand stets dieselbe Himmelsrichtung beizubehalten und überdies genau zu wissen, wohin sie gerade unterwegs waren.
Für sie selbst, die aus einem Teil des Heiligen Königreiches stammte, in dem es kaum größere Wälder gab – und schon gar nicht mit diesen Ausmaßen, sah alles nahezu gleich aus. Ihr alter Herr schien aber jeden Strauch und jeden Baum fast schon persönlich zu kennen und führte sie mit unerschütterlicher Sicherheit immer weiter in nördlicher Richtung.
Mit einem Mal änderte sich aber doch etwas. Während sie weiter über Farnkraut und Wildgras steigend ihrem Meister hinterher ging, vernahm Elvira plötzlich ein immer lauter werdendes Rauschen. Kurz darauf sah sie ihren Herrn an einer Art Kluft stehen und gesellte sich neben ihn.
Der alte Mann sah mit freudigem Gesichtsausdruck zu ihr nach rechts und meinte: „Wir haben es geschafft, Elvira. Dies ist der Ursus – der Bärenbach."
Da sie ein wenig außer Atem war, nickte die edurische junge Frau nur und schaute sich den fließenden Bach an, der weit unter ihnen entlangrauschte. Dann sah sie auf das andere Ufer vor sich, das viel höher lag, als auf dieser Seite. Im Prinzip sah man von drüben nicht viel, sondern schaute direkt auf den Abhang, der von der Uferkante geradewegs nach unten führte. Es war, wie ihr Meister gesagt hatte: man konnte von hier aus nicht so ohne Weiteres die andere Seite des Bärenbaches erreichen.
„Zeit für einen kleinen Schwebezauber", sagte der alte Mann schmunzelnd zu ihr und winkte fordernd mit der ausgestreckten, rechten Hand. Elvira verstand sofort, setzte ihr Reisebündel vom Rücken ab und holte den Zauberstein hervor, der das Zeichen des Windes trug. Behutsam legte sie diesen in die immer noch ausgestreckte Hand ihres Meisters.
Ihr Herr schmunzelte nur, nahm den Stein, hielt ihn mit beiden Händen an die Mitte des Oberkörper gedrückt und bündelte seine Gedanken an den Zauber ‚Windsäule', mit dem man davonschweben konnte.
Einen kleinen Augenblick passierte nichts. Der Mann schloss die Augen. Plötzlich hörte man einen klingenden Ton, der einen Moment lang anhielt. Gleich darauf fing der hellweiße Stein zu leuchten an und um den Körper des Mannes bildete sich eine Luftsäule aus feinen, weißen Schwaden, die den Alten sanft einhüllten und um ihn herumwanderten. Man hörte, wie ein Wind wehte. Das Haar und der Vollbart des alten Mannes flatterten leicht.
Der Mann öffnete die Augen wieder, sah Elvira schmunzelnd durch die wirbelnde Luftsäule um ihn herum an und blickte dann hoch zur anderen Seite der Kluft. Im nächsten Moment erhob sich der Körper des Mannes leicht in die Luft und schwebte wie an einer Seilbahn hängend kerzengerade der höheren Uferseite vor ihm zu.
Obwohl Elvira den Zauber schon öfter gesehen hatte, genoss sie das Schauspiel mit leicht geöffnetem Mund. Ihr Meister schwebte nun bereits über der Mitte des Baches. Jetzt sah man deutlich, wie die um ihn herum wirbelnde Luftsäule sowohl nach oben als auch nach unten hin scheinbar unendlich weit ragte.
Geschützt in dieser Windsäule flog der Gelehrte noch ein Stück weiter und setzte im nächsten Augenblick bereits auf der anderen Seite des Bärenbaches auf. Er ließ den Stein sinken und schon war die Luftsäule verschwunden.
„Sehr gut, Herr", rief Elvira lobend hinüber.
Der Alte trat an die Uferkante und rief amüsiert zurück: „Was dachtest du denn?" Dann schaute er etwas ernster und setzte mit dem Zauberstein zu einem Wurf an. „Jetzt du, Elvira."
Kaum gesagt, sah die Angesprochene den Stein in hohem Bogen auf ihre Seite hin zufliegen. Behände sprang sie ein Stück nach links und fing das besondere Utensil beherzt auf. Elvira sagte nichts, lächelte nur und nickte ihrem Herrn zu. Dieser schaute erwartungsvoll, schmunzelte aber in sich hinein, weil ihm mal wieder aufgefallen war, wie flink und geistesgegenwärtig seine Schülerin reagieren konnte.
Elvira, die sich derweil wieder ihr Reisebündel auf den Rücken geschnürt hatte, nahm den Stein wieder in beide Hände, hob ihn sich an die Brustmitte und sammelte ihre Gedanken auf den Schwebezauber. Dass der Zauberstein nun durch den ersten Gebrauch etwas kleiner geworden war, störte sie weniger, konnte sie ihn dadurch besser halten und umfassen.
Kurz darauf hörte man erneut einen klingenden Ton und auch um Elvira erschien eine Luftsäule. Sie blickte hoch zu ihrem Meister, der auf der anderen Seite stand, und stellte sich die gewünschte Flugbahn vor. Im nächsten Moment erhob sich ihr Körper vom Boden und sie schwebte sanft der anderen Seite zu.
Während sie so über den Bach flog, genoss Elvira das Gefühl des erfrischenden Luftstroms, der permanent vom unteren Teil der Säule nach oben wirkte und der ihren Körper die ganze Zeit in diesem Schwebezustand zu halten vermochte. Der Wind fühlte sich dabei keineswegs energisch an, sondern eher wie eine angenehme, stärkere Brise.
Der alte Mann sah gebannt, wie Elvira in der Luftsäule auf ihn zuflog. Er sah durch die fast durchsichtigen Wolkenschwaden, die unentwegt außen an der Windsäule herumschwirrten, wie Elvira's langes Haar ordentlich flatterte. Im nächsten Moment setzte seine Schülerin unweit neben ihm auf dem Boden auf. Schmunzelnd trat der Alte zu ihr.
„Geschafft", schnaufte Elvira, sobald die Luftsäule verschwand. Sie übergab den noch kleiner gewordenen Zauberstein ihrem Meister und richtete sich sogleich ihr Haar wieder her und ihren silbernen Stirnreif, der die dunkelbraune, wellige Mähne vom Gesicht fernhalten sollte.
Der alte Mann nahm den Stein entgegen, schaute aber weiter amüsiert seine Schülerin an. „Und wie geht's deinem Herzschlag?", fragte er mit gespielter Beiläufigkeit.
Elvira sah sogleich zu ihm, atmete einmal laut ein und meinte dann betont locker: „Gut – wirklich gut!" Sie richtete sich nebenbei den Kragen ihres Kleides zurecht und fügte sogleich hinzu: „Ich habe schon solche Schwebeflüge gemacht, Herr." Sie versuchte, möglichst selbstsicher zu klingen.
„Das dachte ich mir schon", meinte der Gelehrte bloß, woraufhin Elvira nur noch schmunzeln konnte. „Komm", sagte ihr Herr dann, „lass uns weiterziehen."
Sie nickte zustimmend und trat an die Seite ihres Meisters, der bereits wieder begonnen hatte, in eine bestimmte Richtung weiterzugehen. Dabei sah er kurz auf den Zauberstein in seiner Hand, der nun klein genug war, dass er ihn selbst bei sich tragen konnte. Er schätzte ab, für wie viele Windzauber der Stein noch taugte, und steckte ihn sich dann in die Seitentasche seines dunkelbraunen Gewandes.
„Wo wollen wir eigentlich nun hin, Herr?", fragte Elvira neugierig, während sie beide über abgebrochene Äste kletterten.
Der Gelehrte brummte nur. Dann sagte er: „Ich kenne ein altes Jagdhaus, das von hier aus recht bald zu erreichen ist. Dort werden wir sicher sein." In Gedanken fügte er hinzu: ‚Hoffentlich...'
___
Etwa zur gleichen Zeit hatte sich Marcus Celerior mit seinen Männern bei der schmalen Brücke aus Lehm postiert, die unweit von dem Ort Gesken über den Bärenbach führte. Wenn Goelius und seine Helferin dorthin wollten, wo er glaubte, konnten sie nur an dieser Stelle den Ursus überwinden.
Der Securio beobachtete hinter einem Gebüsch gebückt die Lehmbrücke. Seine Untergebenen waren auf die gleiche Weise in der Nähe des Übergangs entweder hinter einem Baum oder einem Busch postiert. Zwei Leute waren auf der anderen Seite des Flussufers und hielten hinter einem großen Wacholderbusch die Pferde des Trupps sanft am Zügel beisammen. Sie sollten auf ein Zeichen von Marcus Celerior die Pferde auf den Weg treiben, um den zu erwartenden Flüchtlingen auf der anderen Seite sofort den Weg abzuschneiden.
Eine Zeitlang passierte nichts. Serpentius, der ein paar Schritte neben dem Securio im Gebüsch saß, murmelte leise: „Immer noch nichts, Herr. Dabei müssten sie doch langsam mal auftauchen."
„Wirst du wohl ruhig sein", zischte Celerior flüsternd. „Halt die Klappe und beobachte weiter. Das ist nun mal dein Auftrag, Soldat."
Marcus sah unverändert zur Lehmbrücke und schüttelte den Kopf. Was sind die harmonischen Soldaten von heute nur verweichlicht! Da können sie einmal ein paar Stunden lang nicht miteinander erzählen, wie die Waschweiber, und schon jammern sie rum. Manchmal ist es nun mal die Aufgabe eines Soldaten, stundenlang auf der Lauer zu liegen. Natürlich ist das mühevoll, doch wie oft hatte man mit derartigen Hinterhalten schon zu einem überraschenden Schlag austeilen können, der dann den großen Sieg brachte? Wenn dies gelang, war doch jede Mühe davor nur gerechtfertigt. Doch mit den Jammerlappen von heute ist es ja kein Wunder, dass der Kampf gegen die Carther im Süden sich seit Jahren dahinschleppte...
Marcus brummte in sich hinein und beobachtete weiter.
Die Momente flossen dahin. Ab und an sahen sie ein paar Rehe herumtraben oder hörten weiter weg das Rascheln und Grunzen von Wildschweinen. Seine Männer verhielten sich aber im Großen und Ganzen vorbildlich still. Hier und da hörte Celerior mal ein kurzes Flüstern, verbunden mit einem Rascheln. Vermutlich wenn einer der Kämpen kurz pinkeln ging, argwöhnte Marcus. Auch das konnte man eigentlich auf Stunden abtrainieren, aber er wollte ja auch nicht zu viel verlangen. Auf der anderen Seite musste er auch bedenken, dass seine Männer bisher kaum derart tiefe Wälder gesehen hatten – anders als er. Für einen unerfahrenen Harmonier war diese seltsame Welt aus Bäumen und Pflanzen stets etwas Unheilvolles...
Nach einer Weile wurden die Soldaten allmählich doch unruhig. Sie bewegten sich leicht umher, suchten Blickkontakt zu ihrem Vorgesetzten. Auch Serpentius schielte immer wieder zum Securio, traute sich aber nicht, erneut etwas anzumerken.
Schließlich wurde auch Marcus von einer gewissen Unruhe ergriffen. Er betrachtete den offenen Waldboden vor sich und erkannte an den Schatten, dass die Sonne schon erheblich weitergeschritten war. Er verzog das Gesicht, sah unruhig hin und her.
Serpentius bemerkte dies. Der Securio schien etwas abzuschätzen.
Im nächsten Moment brummte Marcus verdrossen, erhob sich und sagte laut: „Irgendetwas stimmt nicht." Dabei trat er aus dem Gebüsch hervor und winkte seinen Männern per Handzeichen zu sich. Schließlich stand er direkt vor der Brücke und rief laut: „Sammeln!"
Nach und nach tauchten immer mehr Menschen mit harmonischer Rüstung aus den Büschen auf und stellten sich beim Securio hin. Dieser zeigte sogleich mit seinem Finger auf einen, der gerade dazu trat, und gab ihm den Auftrag: „Sag den Beiden auf der anderen Seite, die Sache ist erledigt. Sie können mit den Pferden zu uns kommen."
Der Angesprochene nickte und eilte gleich über die Brücke. Der Securio schnaufte indes einmal durch und sah von einem zum Anderen. „Warum brechen wir das ab?", fragte ein älterer Soldat mit schwarzen lockigen Haaren und einem Schnurrbart. „Meint Ihr, sie kommen doch nicht hier lang?"
Celerior blinzelte ihn leicht wütend an, sagte aber dann ruhig: „Das kann eigentlich nicht sein. Sie müssen hier lang. Die Frage ist vermutlich, wann sie das tun wollen."
Die Söldner schauten nicht überzeugt. Marcus bemerkte dies und ergänzte stichelnd: „Aber ich bin gern für Vorschläge offen. Was denkt ihr, wo sie sind?!"
Erst traute sich keiner was zu sagen. Dann meinte einer: „Vielleicht sind sie wieder umgekehrt." Alle schauten ihn an. „Sie verstecken sich im Wald", erklärte der Mann seine Gedanken, „und nachdem sie bemerkt haben, dass wir Gernsheim verlassen haben, kehren sie wieder um."
„Unwahrscheinlich", brummte der Securio entschieden. „Sie müssten abseits des Weges reisen, was eine Rückkehr ins öde Land bedeuten würde. Das werden sie nicht tun."
„Oder sie verstecken sich immer noch und warten auf die Dunkelheit", rief eine tiefere Stimme von der Brücke kommend. Sofort schauten alle in die Richtung und sahen, wie Gaurion und ein weiterer Kamerad mit den Pferden an der Hand von oberhalb der Lehmbrücke auf sie zukamen.
„Das ist natürlich denkbar, Gaurion", erwiderte Marcus Celerior daraufhin. „Allerdings werden sie kaum freiwillig im Dunkeln hier ausharren. Viele Wölfe treiben sich umher, ganz zu schweigen von den Bären, die in der Dämmerung auf Wanderung gehen. Goelius weiß das. Er wird das mit Sicherheit nicht wagen."
„Vielleicht machen sie auch nur eine Pause und kommen in einer Stunde oder zwei doch noch", meinte der Soldat, der rechts neben dem Securio stand. Als alle ein wenig skeptisch schauten, fügte er hinzu: „Ich meine, er hat doch diese Edura dabei. Daher könnte ich mir vorstellen, dass die erstmal rasten und die Frau derweil neue Zaubersteine herstellt."
Marcus Celerior nickte. Die anderen Soldaten stöhnten auf. „Na klasse, da können wir uns ja beim nächsten Aufeinandertreffen wieder auf was gefasst machen", schnaubte Gaurion maulig.
Am zustimmenden Gemurmel seiner Männer erfasste der Securio sofort, dass keiner eigentlich so recht Lust hatte, wieder in eine Begegnung der magischen Art zu kommen.
„Oh ja, wenn ich an diesen Feuerzauber denke", warf Serpentius in die Runde ein. „Wäre nicht schlecht, wenn wir jetzt einen Windzauberstein hätten, was Securio?", ergänzte er schmunzelnd und sah die Anderen vielsagend an. „Dann könnten die uns mit ihren Feuerzaubern nicht so schlecht beikommen."
Marcus Celerior runzelte die Stirn und hatte nur halbherzig zugehört. Plötzlich dämmerte ihm etwas. „Warte mal, was hast du da eben gesagt, Serpentius?", fragte er den jungen Blondling, der links neben ihm stand. „Windzauberstein???"
Serpentius nickte nur zaghaft.
„Verdammt!", brüllte Celerior plötzlich und schlug sich mit der Hand in die Faust. „Wie konnte ich das nur übersehen!" Unruhig trat er von einem Fuß auf den anderen. Als seine Soldaten ihn verständnislos ansahen, schnauzte er sie an: „Versteht ihr denn nicht? Durch die Edura brauchen sie die Brücke gar nicht mehr! Sie machen sich selbst einen Windzauberstein und fliegen über den Ursus."
Jetzt erkannten auch seine Untergebenen, was gemeint war.
„Verdammt", rief der Securio erneut, „vermutlich sind sie sogar schon längst an uns vorbei." Er blieb stehen, straffte sich und brüllte: „Los – aufsitzen! Auf nach Gescanius!"
Die Aufforderung riss die Männer aus ihrer Erstarrung. Sogleich ließ sich jeder von Gaurion sein Pferd geben und überquerte die Brücke. Marcus Celerior wollte schnell nach Gesken reiten, um erstmal zu prüfen, ob der Gesuchte vielleicht sogar schon dort war. Das musste auf jeden Fall verhindert werden, denn das Dorf bot dem Alten die Gelegenheit, an ein Pferd zu kommen.
Kurz darauf preschte der Trupp auf der anderen Seite des Bärenbachs den Weg entlang. Mit verärgerter Miene galoppierte Marcus Celerior an der Spitze seiner Männer auf das Dorf Gesken zu.
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