5.9. Altes Geheimnis, frischer Schmerz
Allmählich konnte Heinrich Augusts Entschlossenheit nachempfinden. Im ersten Moment hatte er einen sehr großen Schreck bekommen wegen all der Dinge, die ihm der Hegeliner gerade eröffnet hatte. Aber auch er empfand einen großen inneren Stolz als Drelder und begriff, dass dies eine einmalige Chance war. Wenn die Chronik tatsächlich auf den Kontinenten Galia zurückgekehrt war, durften die Harmonier sie nicht erlangen. Und auch nicht die Frankobarden. Es waren die Drelder, denen diese Schrift gehörte. Aber das Ganze war natürlich sehr gewagt...
„Begreift doch, Bernstein", wagte August gerade, an seinen Gefährten zu appellieren. „Die Sache wird nicht einfach sein, das steht außer Frage, aber uns bietet sich damit eine einmalige Chance!"
Heinrich nickte, als verstehe er den anderen. Die beiden Grafen warfen sich abwägende Blicke zu.
„Es ist sehr gewagt", meinte Heinrich dann mit möglichst neutralem Tonfall.
„Das ist wahr, aber es ist die Sache wert, findet ihr nicht?", erwiderte der Hegeliner. „Was haben wir uns alles schon von den Harmoniern gefallen lassen müssen! Und wo waren sie, als wir sie brauchten?!"
Diese letzte Bemerkung kam mit ziemlicher Verbitterung über Augusts Lippen. Heinrich sah ihn sofort durchdringend an. August fing seinen Blick ein und zeigte plötzlich eine unerwartete Traurigkeit. Heinrich verstand sofort, worauf der Hegeliner mit seiner letzten Bemerkung anspielte. Er nickte, wobei seine Miene ebenfalls nachdenkliche und traurige Züge bekam. Die beiden Grafen sahen sich mit leicht eingesunkenen Schultern gegenseitig an und dachten zusammen an den gleichen Menschen, der ihnen beiden so sehr am Herzen gelegen hatte und ihnen dann so plötzlich und ungerechterweise genommen worden war. Als sie starb, hatte der eine seine Tochter verloren, der andere seine Verlobte.
Heinrich wagte nun vorerst nichts mehr zu sagen. Er maß August mit mitfühlenden und respektvollen Blicken. Die Umstände, wie Anna von Hegelin ums Leben kam, waren nach wie vor ein gefährlicher Gesprächsstoff, wenn August in der Nähe stand. Denn der Hegeliner hatte nach dem Tod seiner Tochter einen Schuldigen gesucht und war letztlich bei der fixen Idee haften geblieben, dass die Harmonier irgendwie ihre Hände im Spiel gehabt haben mussten, ja dass sie sogar seine Tochter hatten mit Absicht sterben lassen. Das war etwas weit hergeholt, fanden viele, denn Anna starb durch einen Überfall der Goten auf den nördlichen Teil Allerlandens. Da der Überfall auch für die Harmonier überraschend kam, konnte der Oberpriester nicht so schnell eine Truppe von Soldaten schicken, um die Goten zu vertreiben.
Doch August hegte die absurde Vorstellung, dass der Oberpriester Ancellus mit Absicht erst so spät eingegriffen hatte. Auf diese Weise konnte er die Verbindung zwischen den Hegelinern und den Bernsteinern, namentlich zwischen Anna und Heinrich, gewaltsam wieder durch das Schicksal trennen lassen. Denn der alte Ancellus war kein Freund dieser geplanten Ehe gewesen, musste sich aber mit seinem frankobardischen Amtskollegen gut stellen, der darauf bestanden hatte.
Auch Heinrich war nach wie vor betrübt über Annas unerwartetes Lebensende, doch anders als sein Freund und Nachbar sah er keinen Sinn darin, diese Trauer in Groll und Wut umzumünzen und sie gegen irgendeinen Schuldigen zu richten. Stattdessen hatte er sich innerlich zurückgezogen, sich auf die guten Erinnerungen mit Anna besonnen, um auf diese Weise Kraft und Mut für alles Bevorstehende zu erlangen. Es klappte nicht immer, aber er wusste, dass dieser friedliche Weg des Trauerns für ihn einfach besser war. Was sollte er den Goten nachjagen, die sowieso schon wieder in ihre Ländereien verschwunden waren? Abgesehen davon, würde man ja nie erfahren, wer genau von ihnen wirklich damals in Hegelin am Überfall beteiligt war.
Heinrich hatte recht schnell erkannt, dass derartig wütendes Sinnen auf Rache letztendlich nur Zeit und Energie kosten würde. Da war es doch viel besser, dass er nur im Herzen trauerte und sich stark gedanklich mit Anna verband. Tatsächlich hatte er manchmal das Gefühl, dass sie in der Nähe war und seit einigen Monaten hatte er auch diese Träume von ihr, die sich wie die reinste Wirklichkeit anfühlten.
Dass August aber nach wie vor die Harmonier als Mitverantwortliche dieser Ereignisse vermutete, betrübte ihn. Der Hegeliner mochte äußerlich zwar zu allerlei Späßen aufgelegt sein, doch Heinrich war nicht entgangen, wie müde und entkräftet sein Nachbar im Vergleich zu früher oft wirkte. Diese ganze Art des wütenden Trauerns zerrte an August und das Schlimme für Heinrich war, dass er es mitbekam und aber doch nichts zu sagen vermochte, weil er sich sonst in einen Streit mit seinem Nachbarn verwickelt sah.
Daher war er der Meinung, dass erst einmal genug gesagt worden war.
„Vielleicht sollten wir uns fürs Erste mit einem Happen zu essen stärken", sagte Heinrich ruhig, stand dann langsam auf, ging zur Tür und rief in den Flur hinein nach Emma, damit sie ihnen eine Mahlzeit zurecht machte und brachte.
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