4.1. Die Geschichte von Azara
In Gesken saß die Rittergemeinschaft aus Dreldern und Frankobarden inzwischen im Hauptraum des Gasthauses zusammen. Man hatte vier längliche Tische aneinander geschoben und auf diese Weise nahe vor dem Tresen eine große Tafel gebildet, an der alle in einem gemütlichen Kreis beieinander saßen.
Die Wirtin Marie hatte sich selbst übertroffen und aus dem frisch geschossenen Reh einen zauberhaften Braten zubereitet. Im Kamin des großen Schankraumes prasselte ein Feuer und während sich draußen inzwischen die Dunkelheit über ganz Allerlanden gelegt hatte, konnten sich die Grafen und Ritter behaglich im Warmen ausruhen und dabei einen Happen Reh mit einem Schlag Kartoffeln genießen.
Jean de Beauville, der Herzog der Champagne, hatte es sich zudem als ranghöchster Ritter nicht nehmen lassen, einige frankobardische Goldmünzen, sogenannte Philippidors, springen zu lassen, damit alle Anwesenden den ganzen Abend Wein genießen konnten. Heinrich dankte ihm mit ehrlich freudiger Miene. Fast schon beschämt stellte er fest, wie sich eine gewisse stolze Genugtuung in seinem Herzen darüber breitmachte, dass es nun für ihn und seine Leute trotz des verlorenen Feldzuges doch noch zu einem Festessen mit Wein und Braten kam. Das tat seiner Seele ziemlich gut, denn was die weiteren Tage bringen sollten, war momentan schwer abzuschätzen.
Zu Beginn des Beisammenseins war die Atmosphäre untereinander noch ziemlich drückend gewesen. Alle hatten sich noch in einer Art Schockzustand befunden, ausgelöst durch die vielen Verlustmeldungen, die sie gerade erfahren mussten. Daher hatten sich die bewährten Krieger zunächst mit betrübten Mienen über den Feldzug ausgetauscht, insbesondere über dessen Verlauf und Ende.
Jean de Beauville kam es dabei zugute, dass er als gebildeter Mann die Niedersprache gut beherrschte. Zudem verstand sich August von Hegelin aufs Frankobardische und band damit auch die Ritter seines Vetters in die Gespräche mit ein, da diese keinerlei dreldenische Worte verstehen konnten. Auf diese Weise war man schon bald in regelrechte Diskussionen über das weitere Vorgehen verfallen. Hinzu hatte sich kurz darauf auch der Ärger über das Festhalten des Oberpriesters Ancellus am Mediesfest gesellt. Selbst die Frankobarden waren darüber verwundert, schließlich sprach es den Gefallenen Hohn, so kurz nach den grauenvollen Ereignissen einfach mit der Tagesordnung nach Kalender fortzufahren.
Inzwischen war die Stimmung etwas gelöster. Jeder hatte nun schon ein Stück vom Braten genießen können und der zweite oder dritte Becher Wein hatte nicht nur die Zunge gelöst, sondern auch das grauenhafte Geschehen zumindest etwas in den Hintergrund gedrängt.
Einzig Andreas von Hagen wirkte immer noch in sich gekehrt und sprach nur wenig. Angesichts des Verlusts seines Vaters hatten alle dafür Verständnis und hielten sich mit überflüssigen Aufmunterungsversuchen zurück.
August von Hegelin hatte es mittlerweile verstanden, das Gesprächsthema auf den König von Azara zu lenken. Für viele Frankobarden war der Besuch dieses Königs momentan das bedeutendste Ereignis ihrer Tage, schließlich war Henri V. d'Azara zuletzt vor 5 Jahren auf dem Kontinent gewesen. Aber auch für jeden Drelder war die Geschichte von Interesse. Fast alle Länder des Kontinents kannten die sagenhaften Ereignisse um den frankobardischen Krieger Azara, der vor über 300 Jahren mit seinen Getreuen zu einem bisher unbekannten Kontinenten aufbrach, um dort nach allerlei Abenteuer und Gefahren König eines nach ihm benannten Landes zu werden.
Auslöser all dieser Ereignisse war der Umstand, dass Azara vom damaligen Frankobardenkönig Philippe III. ins Exil vertrieben wurde, weil der junge Herzog der Lavergne so beliebt war, dass der König ihn als Konkurrent um die Königskrone aus dem Weg haben wollte. Dabei war es gar nicht Azaras Absicht gewesen, jemals nach dem Thron zu greifen. Doch Philippe III. – eifersüchtig auf die Beliebtheit und die strotzende Jugend des Lavergners – blieb hart und verdammte Azara aus Frankobardien.
Weil er aber so beliebt war, wollten alle seine Ritter und Grafen mitsamt ihrem Gefolge bei ihm bleiben und so verließen über 2000 Leute an der Seite Azaras das Land und machten sich schließlich über das Meer nach Westen auf, um den legendären Westkontinenten zu finden, von dem einst die Elder berichtet hatten. Das Unternehmen war gewagt, aber der Mut der Vertriebenen wurde belohnt: der westliche Kontinent wurde entdeckt und Azara ging mit seinen Leuten bei einer kleinen Siedlung an Land.
Die entdeckte Idylle trog aber, denn schon bald gerieten die Ankömmlinge zwischen die Fronten. Die einfachen Volksstämme der Gegend kämpften fortwährend mit überlegenen Besatzern aus dem Süden des Kontinents. Azara erkannte, dass man Stellung beziehen musste, wenn man überhaupt in vernünftiger Weise dort leben und bleiben wollte. Die Frankobarden schlugen sich auf die Seite der Volksstämme, weil denen das Land eigentlich gehörte. Da sie den rücksichtslosen und hinterhältigen Besatzern an Waffen und Kampftechnik gleichgestellt waren, erzielten sie sehr schnell Erfolge gegen diese und schließlich gelang ein großer gemeinsamer Sieg mit den Volksstämmen über die südlichen Agressoren.
Azara und seine Leute erhielten dadurch nicht nur ein kleines Stück Land, sondern hatten sich durch die militärischen Erfolge ein eigenes Königreich erkämpft. Weil Azara so beliebt und ohnehin der Anführer der Frankobarden gewesen war, erhoben seine Leute ihn zum König über dieses Land, was den einfachen Volksstämmen nur recht war, denn einen solchen Anführer hatten sie nicht und auch ihr Beitrag zum Sieg über die Feinde war überschaubar gewesen. Und so entstand die einmalige Situation, dass vertriebene Frankobarden zu Besitzern eines eigenen Landes auf dem Westkontinent aufstiegen.
Schließlich kamen die Getreuen auch noch auf die Idee das gesamte Königreich nach ihrem Anführer zu benennen, da die Volksstämme keinen rechten Namen für das Land hatten und zudem selbst auch unterschiedliche Stammesnamen führten. Obwohl Azara dies zu hochmütig erschien und er dieses Ansinnen ablehnte, konnte er diese Entwicklung nicht mehr verhindern. Das Königreich erhielt seinen Namen und noch zu seinen Lebzeiten wuchsen Frankobarden und die einfachen Stämme zu einem neuen Volk zusammen.
Allerdings war vorherzusehen, dass solche Veränderungen in Frankobardien nicht unbemerkt blieben. Philippe III. schäumte vor Wut, als er davon erfuhr, dass der vertriebene Ex-Herzog nicht nur den Westkontinent entdeckt, sondern sich dort ein eigenes Land geschaffen hatte, in dem er selbst sogar der König war. Diese Anmaßung des Vertriebenen, sich auf dieselbe Rangstufe zu stellen wie er selbst, konnte Philippe keinesfalls hinnehmen. Sogleich ließ er verlauten, dass jegliches eroberte Land eines Frankobarden dem frankobardischen Königreich anheimzufallen hat. Philippe III. vertrat demnach die Ansicht, dass das Königreich Azara höchstens eine Kolonie Frankobardiens sei und Azara demnach, wenn überhaupt, deren Statthalter.
Auf der Grundlage dieser politischen Auffassung kam es nun zu einem fast 200 Jahre langen Kräfteringen zwischen dem Westen und Frankobardien. Philippe III. hatte dabei auch geschickt das Heilige Königreich mit ins Boot geholt. Die Harmonier ließen sich durch die Aussicht auf Beute und neue Mäalström-Vorkommen dazu verleiten, gegen Azara zu Felde zu ziehen.
In der Folge erlebte das junge Königreich immer wieder unruhige Zeiten. Besonders in den ersten 100 Jahren musste mehrmals der Ansturm einer frankobardischen Flotte abgewehrt werden, wobei es oft auch zu Kämpfen und Belagerungen an Land gekommen war. Allerdings scheiterten immer wieder alle Versuche der Frankobarden, das ferne Land zu unterwerfen, weswegen die Angriffe der frankobardischen Könige in späterer Zeit immer spärlicher wurden.
Ein Grund für diesen Rückgang war auch die Tatsache, dass die Harmonier nach einiger Zeit ihre Unterstützung zurückzogen. Dies lag einerseits daran, dass Azara in dem neuen Land den harmonischen Glauben eingeführt hatte, der sich neben den Glaubensvorstellungen der einfachen Stämme etablierte und auch rege gepflegt und praktiziert wurde. Das neue Königreich war somit Teil der harmonitas geworden – der harmonischen Glaubensgemeinschaft, die dank Azaras Religionspolitik nun bis auf den Westkontinent reichte. Anderseits aber hatte sich aus Sicht des Heiligen Königreiches das neue Land nach dem Tod Azaras etabliert und Berechtigung erlangt, da die Frankobarden auch nach mehr als 50 Jahren es nicht geschafft hatten, das Land einzunehmen. Eine Eroberung des neuen Landes sei somit nicht mehr der Wille Harmons und werde daher auch in der Zukunft nicht gelingen, hieß es nun in den höchsten harmonischen Kreisen. Ohne die Harmonier ließ sich aber in Frankobardien nur schwer Werbung für einen Feldzug gen Westen machen.
In der Folge ebbte die Auseinandersetzung ab und beschränkte sich auf ein Bekämpfen aus der Distanz heraus, wie z.B. durch Handelsblockaden. Dennoch schien ein Frieden immer möglicher zu werden, allerdings wagte keine Seite, den ersten Schritt zu tun.
Vor 50 Jahren nun fasste sich der damalige azarische König Etienne aber ein Herz und strebte einen dauerhaften Frieden an. Grund war das bevorstehende 250-jährige Gründungsjubiläum seines Landes. Etienne erkannte die einmalige Chance seines Lebens, diesen Festtag noch dadurch die Krone aufsetzen zu können, indem er bis zu diesem Ereignis einen Friedensvertrag mit Frankobardien abschließt.
Dieses Vorhaben konnte der azarische König tatsächlich in die Tat umsetzen. Mit Hilfe besonderer Handelserleichterungen und einer Menge Geld aus dem azarischen Staatsschatz erreichte er den Friedensschluss. Vor nunmehr genau 50 Jahren - ein Jahr vor dem 250-jährigen Jubiläum des Königreichs Azara - unterzeichneten Etienne III. d'Azara und Louis IV. de Francobardie den Friedensvertrag. Im Anschluss lud der azarische König sein Gegenüber offiziell zu den Jubiläumsfeierlichkeiten im Folgejahr nach Azara ein, was Louis gern annahm. Daher kam es im Jahr 604 a.H.r. dazu, dass nach 150 Jahren wieder eine frankobardische Flotte gen Westen aufbrach – diesmal aber im Zeichen des Friedens.
Allerdings glaubten andere Länder nicht tatsächlich an einen dauerhaften Frieden und vielfach wurden die Bemühungen der friedensschließenden Könige belächelt – sogar von den Harmoniern. Umso bedeutender war daher die Tatsache, dass in diesem Jahr sich der Frieden zum 50. Mal jährte. Allen Ungläubigen zum Trotz war der Friedensschluss von beiden Seiten ernstgenommen und gehalten worden.
Bedenkt man all die vergangenen Ereignisse zwischen diesen beiden Ländern, ist es also kein Wunder, wenn allein die Ankunft eines azarischen Königs in Frankobardien immer für Aufregung sorgte. Allerdings war die Erregung diesmal noch viel stärker, denn beide Könige trafen sich zu dem besonderen Festakt des 50-jährigen Friedensjubiläums.
Daher war die Meldung der Nuntiis über die Ankunft des azarischen Königs in ihrer Hauptstadt Valeria für die Frankobarden von großer Bedeutung. Es war von dem Hegeliner Grafen daher goldrichtig, dieses Thema anzuschneiden – lenkte es doch nicht nur vom misslungenen Feldzug ab, sondern war auch für die Allgemeinheit von besonderem Interesse.
„Das Gefolge des Königs ist bestimmt prächtig", merkte August von Hegelin gerade an und blickte fragend zu seinem Vetter.
Dieser überlegte kurz und zuckte dann mit den Achseln. „Der größte Teil seines Gefolges wird sicherlich in Iberia geblieben sein.", bemerkte Jean de Beauville. Mittlerweile hatte er aufgrund des langen Gespräches so gut Fuß gefasst in der Niedersprache, dass sein frankobardischer Akzent kaum noch zu hören war.
August nickte seinem Vetter wissend zu. Jeder wusste, dass der azarische König schon seit einem Monat auf dem Kontinent weilte, allerdings nicht in Frankobardien, sondern in den Vereinigten Stadt-Staaten von Iberia. Dieses besondere Land, in dem es keinen König gab, befand sich südwestlich von Frankobardien und war schon seit je her ein Verbündeter des azarischen Königreiches gewesen. Sogar Azara selbst hatte sich dort großer Beliebtheit erfreut und war damals auch von dort aus gen Westen aufgebrochen. Daher war es nicht verwunderlich, dass alle azarischen Könige seitdem dort anlandeten, wenn sie den Kontinent besuchten.
„Aber er wird bestimmt auch einiges Prächtiges mit nach Valeria geführt haben", erwiderte August forschend, während seine Ritter an den Lippen des frankobardischen Herzogs hingen.
„Henri d'Azara wird sicherlich noch Einiges dabeihaben, damit er auch ja alle überstrahlt." Die Verächtlichkeit über die Ankunft des Königs war nicht zu überhören. „Es wird sowieso ein zu großes Aufheben darum gemacht." Offensichtlich gehörte Jean de Beauville nicht gerade zu den Frankobarden, die ein hohes Interesse an der Versöhnungspolitik hegten.
„Aber ihr werdet den König treffen?", wagte Hugo den Herzog zu fragen.
Der sah ihn spöttisch an und zog eine Augenbraue hoch. „Als ein getreuer Vasall meines Königs werde ich seine Einladung zur Teilnahme an den Zeremonien natürlich nicht ausschlagen", gab de Beauville in ironischem Unterton von sich. Dann wandte er sich seinem Vetter zu: „Daher habe ich auch die hochhehre Gelegenheit mir sein Gefolge genauestens anzusehen und werde dir bei Gelegenheit davon berichten."
August von Hegelin ließ sich von einer solchen Bemerkung nicht ärgern, sondern schlug seinem Vetter lachend auf die Schulter, als wolle er sagen: ‚Ach komm, so schlimm ist das alles doch nicht!'
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro