1.9. Die Bürde als Graf
Heinrich hatte mittlerweile einen großen Teil des Waldes durchquert. Der Weg war hier nicht mehr so eben wie zuvor, da der Wald insgesamt auf einem hügeligen und teilweise von Sümpfen durchzogenem Gebiet lag. Abseits des Weges sah man daher allerlei Kraut und Gestrüpp wild aus dem Boden emporsprießen. Ab und an wichen die Sümpfe festem Boden, auf dessen lehmigen Gelände meist große Eichen, Kastanien und Birken standen, deren Stämme breit und mächtig aus einem Meer von Farnkraut herausragten.
Heinrich genoss den Anblick des Waldes. Da die Tage gerade sehr lang waren, wirkte selbst am Nachmittag alles hier durch und durch farbenfroh – trotz des wenigen Lichtes, das sich den Weg durch die vielen rauschenden Blätterdächer wahrhaft erkämpfen musste.
Das ihm vertraute Heimatgefühl machte sich in Heinrich breit. Der große Wald erstreckte sich über den südlichen Teil seiner Grafschaft und von allen Plätzen in seinem Gebiet gefiel es ihm hier am besten. Es erinnerte ihn an eine Zeit, in der er unbeschwert als kleiner Junge an der Seite seines Vaters zur Jagd mitkommen durfte. Die vielen Gespräche unterwegs, die sie führten – weitaus offener als in Gegenwart seiner Mutter – die vielen Sachen, die er von den Rittern dabei lernen durfte, die gemütlichen Pausen am Bärenbach – all dies waren schöne Erinnerungen an eine andere Zeit, eine Zeit, in der er noch keine Verantwortung für so viele Menschen tragen musste und in der seine Eltern noch bei ihm waren.
Natürlich hatte Heinrich damals nicht jagen dürfen und natürlich hatten die getreuen Ritter seines Vaters ihn oftmals auch mit Sprüchen aufgezogen, aber allein schon, dass er dabei sein durfte – so „unter Männern" – hatte ihn immer unendlich stolz gemacht.
Die Erinnerung an diese Zeit ließ Heinrich ein kurzes und schmerzliches Lächeln aufs Gesicht zaubern. Wenn er damals schon geahnt hätte was es bedeutet ein Graf zu sein – vor allem in einem Gebiet wie Allerlanden – wäre er vermutlich irgendwann vorher bereits vor Besorgnis gestorben.
Denn die einzelnen Grafen von Allerlanden waren keineswegs ihre eigenen Herren, und konnten von sich aus zu Reichtum kommen. Alle Grafschaften waren jeweils an eines der drei benachbarten Königreiche gebunden und unterstanden dort der Aufsicht eines Fürsten oder gar eines Herzogs. Diese konnten nicht nur Abgaben verlangen, sondern bestimmten auch, ob ein Graf seine Stellung behielt oder durch jemand Anderen ersetzt wird.
Zudem mussten die Grafschaften Waffendienste leisten – sprich sie mussten dem Fürstentum, welches die Vormundschaft hatte, bei Feldzügen mit Männern und Material zur Verfügung stehen. Allerdings hatte das auch Vorteile, da man den Grafen aus Allerlanden stets einen Teil der Beute gewähren musste.
Hinter all diesen politischen Bestimmungen stand das südlich gelegene Heilige Königreich von Harmon, welches diese Rechten und Pflichten einst festgelegt hatte, als sie mit den drei anerkannten Königreichen Frankobardien, Austria und Pruzen die Heilige Liga schmiedete.
Denn Allerlanden war nicht irgendein unbekannter Landstrich der Welt. Hier hatten die mächtigen und geheimnisvollen Elder einst geherrscht und gelebt, von hier aus hatten sie die halbe Welt nahezu kampflos und nur mit Hilfe ihres fortgeschrittenen Wissens eingenommen und regiert. Erst den Harmoniern war es gelungen, durch ihr eigenes Wissen den Eldern die Stirn zu bieten und sie nach einem langen Krieg schließlich vom Kontinent zu vertreiben.
So die offizielle Auslegung der harmonischen Glaubensgemeinschaft. Bis heute ist der wahre Grund für das Verschwinden und Fortgehen der Elder aber unbekannt. Einzig ein verstreuter Stamm von Wenigen, in denen zwar das Blut der Elder floss, die aber dennoch nur einfache Menschen waren und die weder das hehre Aussehen, noch das mächtige Wissen der Elder besaßen, war im Stammland der Elder zurückgeblieben – in dem Landstrich, der nunmehr als Allerlanden bezeichnet wurde. Da sie denselben Gott mit Namen Dreld anbeteten, den auch die Elder verehrt hatten, nannte man sie einfach Drelder. Dies war nicht nur wegen des Gottes erfolgt, sondern auch um sie von den Eldern deutlich abzugrenzen. Denn die Drelder hatten mit der Hochkultur der Elder nichts mehr gemein, sondern waren nur einfache Barbaren – erst Recht in den Augen der Harmonier.
Aber das Heilige Königreich wollte natürlich dennoch den Reichtum aus dem Stammland der Elder – insbesondere den Zugriff auf das Mäalström, das hier im Norden des Kontinents sehr reichhaltig vorhanden ist und auf welchem sich die Macht der Harmonier gründete. Das Königreich sah sich daher weiterhin als Schutzmacht dieser Region an und wollte im Stammland der Elder die Oberhoheit behalten. Wegen der allerdings schwer überwindbaren Entfernung zu diesem Landstrich kam man in Harmonia schließlich zu diesem Ergebnis: die Drelder sollten sich selbst verwalten, durften sich aber nicht zu einem eigenständigen Königreich erklären. Stattdessen sollte es nur Grafschaften geben, die von den drei benachbarten Monarchien aus kontrolliert werden. Diese wiederum durften nicht ins Land der Elder einfallen, um sich den hinterlassenen Reichtum der Elder anzueignen, sondern mussten sich mit der Vormundschaft über die dreldenischen Grafschaften zufrieden geben. Damit sollte ein Gleichgewicht im Norden des Kontinents geschaffen werden, durch das keines der drei anerkannten Königreiche ein Übergewicht gegenüber seinen Nachbarn erzielen konnte.
Im Gegenzug durfte sich jedes Königreich aber bis zu einem gewissen Grad am Stammland der Elder bereichern, indem sie den untergebenen Grafen Tribute abfordern konnten oder ihre Ritter zu Feldzügen heranziehen durften. Bei alldem behielten die Harmonier als stärkste Macht auf dem Kontinent natürlich die Oberhand. Sie waren es auch, die der Region einen neutralen Namen gaben, in dem weder das Wort „Elder" noch die Bezeichnung „Drelder" zum Ausdruck kommt. Sie belegten das Stammland der Elder einfach mit dem harmonischen Begriff terra omnium, was so viel wie „Land Aller" oder auch „Land von Allen" bedeutet – woraus in der Niedersprache schließlich der vereinfachte Begriff „Allerlanden" wurde.
Diese Bezeichnung sollte verdeutlichen, dass alle benachbarten Länder von dort Reichtümer erwerben können, dass aber kein Reich für sich das gesamte Land in Besitz nehmen darf. Das Heilige Königreich behielt sich hierbei natürlich eine Sonderstellung vor, indem es sich zur überwachenden Schutzmacht über diese Regelungen erklärte, was die anderen drei Königreiche mehr oder weniger anerkennen mussten. Leidtragende dieser Bestimmungen waren natürlich die Bewohner Allerlandens – die Drelder – da sie letztendlich damit der Ausbeutung von insgesamt vier Königreichen preisgegeben wurden.
Dies waren die Umstände, mit denen Heinrich von Bernstein als einer der dreldenischen Grafen zu kämpfen hatte. Auch der Feldzug gegen die Attanen stand unter dem Kennzeichen dieser politischen Verwicklungen. Die Grafen waren verpflichtet gewesen teilzunehmen. Wegen der Aussicht auf Beute hatten dies aber viele freiwillig getan – denn die Fürsten waren ja laut dem Allianzvertrag mit Harmonia dazu verpflichtet, ihre bevormundeten Grafschaften mit einem Sechstel der Beute zu beteiligen.
Kein Wunder also, dass viele der dreldenischen Edelherren bereit gewesen waren, in den Kampf zu ziehen. Wie es aber nun nach dem Scheitern der Unternehmung weitergehen sollte, war völlig ungewiss.
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