1.8. Neue Ankömmlinge
Im Wirtshaus von Gesken sorgte man sich weiterhin um das Wohl der Verletzten. Gerach stand nach wie vor an dem Doppelbett des Gästezimmers, auf dem Hugo und Andreas versorgt wurden. Er redete ihnen oftmals zu, sprach mit ihnen über teilweise belanglose Vorfälle, um sie von ihren Schmerzen abzulenken, während neben dem Bett weiterhin zwei bis drei Mägde ununterbrochen mit Leinentüchern und Wundsalben hantierten.
Gerach ließ sich von dem Treiben um ihn herum nicht anstecken. Seine unerschrockene gelassene und besonnene Art übte tatsächlich eine beruhigende Wirkung auf Hugo und Andreas aus, so dass diese trotz der Schmerzen das Gefühl bekamen, es würde schon alles wieder in Ordnung kommen. Gerade diese besondere Wirkung Gerachs war der Grund gewesen, warum der Kantonat von Golddorf sich dafür eingesetzt hatte, ihn trotz seines jungen Alters zum Glaubensvorsteher von Gesken zu machen. In einer Zeit der Unsicherheiten gab es für die harmonische Glaubensgemeinschaft nichts Wichtigeres, als einfache Priester, die mit ihrer unerschütterlichen Ruhe jeglichen Zweifel über die Richtigkeit des Glaubens als unbedeutend erscheinen lassen konnten.
In Wahrheit war Gerach innerlich alles andere als ruhig. Aufgrund der jüngsten Entwicklungen brannte es regelrecht in ihm. Die Tatsache, dass die Attanen das Geheimnis der Steingolem entdeckt hatten, ließ ihn nicht mehr los. Der Kantonat musste unverzüglich davon in Kenntnis gesetzt werden. Ebenso nahm ihn das Schicksal von Hugo und Andreas mit. Bei aller Zuversicht war ihm nicht entgangen, dass die Beiden schon sehr viel Blut verloren hatten, so dass ihre Aussichten aufs Überleben ziemlich fragwürdig waren. Gerach war sich darüber im Klaren, dass vermutlich nur noch das Mäalström ihnen helfen konnte, aber das würde bedeuten, dass er...
Er verdrängte den aufkeimenden Gedanken. Noch konnte es auch anders gelingen.
Die Wirtin Marie kam zügigen Schrittes ins Zimmer. „So – ich habe alle anderen Zimmer auch soweit hergerichtet!", sagte sie energisch zum Priester.
Der Angesprochene wendete sich ihr leicht erschrocken zu, so als hatte man ihn aus tiefen Gedanken gerissen. Marie schien es, als wüsste Gerach nicht, wovon sie sprach, daher ergänzte sie sogleich: „Falls noch mehr Verwundete kommen."
Gerach warf ihr daraufhin einen dankbaren Blick zu. Marie war eine robuste, stattliche Frau, mit kräftigen Armen und einem freundlichen, runden Gesicht. Ihre haselnussbraunen Augen strahlten Herzenswärme und Energie aus. Gerach schmunzelte innerlich als er bemerkte, dass Marie ganz und gar die Tüchtigkeit in Person war - ihre ganze Erscheinung deutete daraufhin. So wie sie gerade vor ihm stand, mit ihrer großen Schürze, dem weißen Kopftuch, die Hände in die Hüften gestützt, war sie deutlich als eine fleißige und tüchtige Frau erkennbar – immer bereit zu helfen, bei jeder Sache energisch und zügig zur Hand und nie zu schade, sich für jedermann ins Zeug zu legen. So kannte man Marie und so war sie auch Gerach schon immer bekannt.
„Das wird dir Harmon vergelten.", sagte er gütig zu ihr. Da er Marie seit seiner Kindheit kannte, war es für Gerach völlig normal die Wirtin zu duzen.
Marie wehrte seinen frommen Spruch mit einer schneidigen Handbewegung ab. „Der soll erst mal den Verwundeten helfen, alles andere kann warten", antwortete sie in ihrer energischen Art. Dann rückte sie näher an Gerach heran: „Wie steht's eigentlich um die Beiden?", fragte sie ihn flüsternd, wobei sie kaum merklich mit dem Kopf seitlich in Richtung des Doppelbettes nickte.
Gerach nahm sie sanft am Arm und führte sie aus dem Zimmer hinaus auf den Flur. „Es sieht nicht gut aus", begann er in besorgtem Ton, „wir sollten den Medicus holen."
„Johanna ist bereits unterwegs", erwiderte Marie schwungvoll, so als habe sie nur auf dieses Stichwort gewartet.
„Gute Arbeit!", lobte Gerach sie, allerdings war er sich darüber im Klaren, dass auch der Medicus nicht mehr sehr viel zur Besserung der Verwundeten würde beitragen können.
Vom Hof vor dem Wirtshaus war auf einmal Pferdegetrappel zu hören, begleitet vom Stimmengemurmel mehrerer Menschen. Gerach und Marie wurden zugleich darauf aufmerksam und gingen gemeinsam an das nächste Fenster im Flur, welches halboffen stand.
Sie erblickten eine kleine Kolonne, bestehend aus vier einzeln trabenden Pferden und zwei Pferden mit einem Karren, die von einer aufgeregten Menschengruppe begleitet wurde. Auf dem Karren lagen mehrere Ritter, denen man an der Art, wie sie sich stöhnend krümmten, sofort ansah, dass sie verwundet waren.
Just in dem Moment, als Marie und Gerach aus dem Fenster blickten, hielt die ungewöhnliche Kolonne vor dem Wirtshaus an und die Begleiter des Zuges machten sich mit gegenseitigen Rufen und Hinweisen daran, die Verletzten vorsichtig abzuladen und ins Haus zu bringen.
Ohne ein weiteres Wort zu Gerach zu sagen, riss sich Marie sofort von dem Anblick los, eilte den Flur entlang und ging die Treppe hinunter. Gerach folgte ihr einen kurzen Moment später, allerdings mit gemächlicherem Schritt. Noch auf Treppe klatschte Marie zweimal laut in die Hände und rief mit kräftiger Stimme: „Sie kommen!" Ihr Tonfall hatte fast etwas Freudiges an sich, so als hatte sie geradezu auf die Ankömmlinge gewartet.
Gleich darauf erschienen vier ihrer Mägde eilig im Hausflur und gesellten sich am Treppenabsatz an Maries Seite. Im nächsten Moment wurde die hölzerne Eingangstür aufgestoßen und ein Teil der Gruppe, die Gerach und Marie draußen gesehen hatten, brachte die Verletzten nacheinander hinein. Drei der vier Ritter mussten dabei sogar getragen werden, nur einer konnte seine Beine selbst noch einigermaßen gebrauchen und musste lediglich gestützt werden.
Marie fing jeden kleinen Trupp mit ihrem Verletzten ab und dirigierte ihn in ein anderes, vorbereitetes Zimmer, wobei sie jeweils eine ihrer Mägde mit einem Wink dem Trupp zur Seite stellte. Auf diese Art und Weise bekam jeder Verletzte binnen weniger Augenblicke ein Krankenlager und die dazu nötige Grundversorgung, denn in jedem der Zimmer standen bereits genauso wie bei Hugo und Andreas Wasserschüsseln, Leinentücher und Wundsalben bereit. Es war ein Glück, dass das Wirtshaus von Gesken zugleich auch ein Gasthaus war, so dass es für eine Situation wie diese beste Voraussetzungen bot.
Gerach sah dem Treiben nachdenklich auf der Treppe stehend zu. Der Anblick der neuen Verwundeten ließ ihn erschaudern, denn sie sahen ziemlich geschunden aus. Andererseits fühlte er eine Erleichterung, denn anscheinend gab es doch noch Hoffnung auf weitere Überlebende.
Dieser beruhigende Gedanke währte nicht lange, denn Gerach kamen erneut die Umstände in den Sinn, die zu diesen schweren Verwundungen geführt hatten: die Steingolem! Er musste zwingend den Kantonat davon in Kenntnis setzen! Er erblickte seinen Gehilfen Albrecht, der von Marie ohne Rücksicht auf seinen eigentlichen Rang in ihre Versorgungsschlacht einbezogen worden war. Gerade half er den Mägden dabei, eine weitere Schüssel mit Wasser zu füllen, nicht ohne das Gesicht ärgerlich zu verziehen.
Beim Anblick seines Gehilfen fasste sich Gerach wieder, trat von der Treppe in die Mitte des Flures und rief Albrecht zu sich. Das Gesicht des Angesprochenen hellte sich auf und er eilte, ohne Maries Auftrag zu Ende zu führen, zu seinem Priester. „Geh und hole Jakob!", sagte dieser ohne Umschweife.
Albrecht schaute ihn verwirrt an, da er mit allem Möglichen gerechnet hatte, nur nicht damit.
Gerach, dem der begriffsstutzige Blick seines Gehilfen auffiel, ergänzte mit ernstem Blick: „Er soll für mich etwas schreiben. Sag ihm, er soll schnellst möglich herkommen und seinen Schreibbogen samt Feder mitbringen." Albrechts Blick wurde etwas verständiger, doch Gerach sah zugleich wieder jenen trotzigen Ausdruck in das Gesicht seines ungeliebten Gehilfen aufsteigen, was ihm ein wenig die Magensäure hochsteigen ließ.
Die drohende Gefahr erkennend, dass Albrecht im nächsten Moment womöglich wieder einmal seinen Befehl in Frage stellen könnte und ihn vielleicht noch mit einem seiner dümmlichen Sätze, so etwas wie „Warum das denn jetzt?!" kommentieren würde, hielt Gerach kurz die Luft an und sagte dann etwas lauter und bestimmter: „Los jetzt! Das ist sehr wichtig!"
Die Aufforderung wirkte. Albrecht zuckte nur kurz mit den Schultern und eilte dann aus dem Wirtshaus, allerdings nicht ohne sein Unverständnis durch ein deutliches Kopfschütteln auszudrücken. Gerach bemerkte dabei eine Gruppe von Menschen, die im Eingangsbereich standen und anscheinend nur aus reiner Neugier gekommen waren, um etwas von den Verwundeten zu sehen oder etwas Neues zu erfahren.
Mit einem Mal verschaffte sich ein älterer, würdig aussehender Herr einen Weg durch die glotzenden Menschen. In seinem Schlepptau folgten zwei sehr junge Männer, die eine große Kiste schleppten, sowie ein blondes, fast erwachsenes Mädchen, in dem Gerach Johanna erkannte, die Tochter der Wirtin.
Kein Zweifel - der Medicus war gekommen. Gerach hatte ihn bisher nur einmal gesehen – dies war allerdings schon einige Wochen her.
Der ältere Mann blickte sich zunächst unsicher in dem von Hektik erfüllten Raum um. Dann entdeckte er Gerach und kam sogleich auf ihn zu. „Wie ich hörte, werde ich hier dringend gebraucht!", sagte er halb feststellend, halb fragend.
„Oh ja", erwiderte Gerach vielsagend, so als wollte er unmissverständlich klarmachen, dass er hier sogar äußerst dringend gebraucht wird. Tatsächlich bewirkte er daraufhin beim Medicus eine Reaktion, die wie eine Art Aufhorchen erschien.
Gerach zeigte nur nach oben und sagte mit einer weiteren vielsagenden Betonung: „Am besten, ihr fangt erst mal im oberen Zimmer an."
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