1.12. Ein wichtiger Brief
Sobald sein anderer Gehilfe Jakob eingetroffen war, hatte sich Gerach mit ihm in eine ruhige Ecke des Gasthauses zurückgezogen. Wenigsten ein Zimmer war noch vor der allgemeinen Unruhe verschont geblieben.
Jakob saß tief gebeugt über eine rechteckige Truhe, die er als Schreibpult missbrauchte. Vor ihm lag ein großer Papierbogen, den er schon zu einem geringen Teil beschriftet hatte. Gerade tunkte er seine Feder in das Tintenfass und wartete auf die nächsten Anweisungen seines Herrn.
„Darum müssen wir davon ausgehen", sagte dieser diktierend und wartete bis Jakob seine Worte ins Papier verewigt hatte, „dass die Attanen das Geheimnis der Steingolem gelöst haben", vollendete Gerach den Satz.
Jakob hielt inne, drehte den Kopf zur Seite und blickte ihn mit großen Augen an. Er kannte sich in Geschichte bestens aus und wusste, was das hieß. Statt zu schreiben, fragte er erregt: „Golem? – Sie meinen – die Schriftrolle des Arcteus!"
Die Erkenntnis hing folgenschwer im Raum.
Gerach nickte grimmig. „Ja! Anscheinend befindet sie sich im Besitz der Attanen und sie haben sie irgendwie entschlüsseln können", sagte er halb verärgert und halb fassungslos. Seine Theorie klang ihm selbst immer noch unglaubwürdig, war die Schriftrolle doch seit 600 Jahren verschollen gewesen und darüber hinaus in harmonischer Sprache verfasst worden. Es war nur schwer vorstellbar, dass ausgerechnet die wilden Attanen dieses Dokument übersetzt haben sollten.
„Jedenfalls muss der Kantonat davon wissen", sagte Gerach ernst und wies auf das Papier, „daher sollten wir weitermachen."
„Ja natürlich, sofort Herr!", erwiderte Jakob und wandte sich aufgeregt wieder dem Bogen zu. Gerach blickte auf seinen braungelockten Hinterkopf und musste innerlich schmunzeln. Zwar hatte Jakob sich ablenken lassen, aber wenigstens kannte er sich in Geschichte bestens aus und hatte sogleich erfasst, worum es ging.
Er trat hinter ihn und legte fast väterlich seine Hand auf Jakobs Schulter: „Also der Satz war: dass die Attanen das Geheimnis der Steingolem gelöst haben", sagte er dozierend. Jakob nickte und schrieb es eifrig hin.
„Gut! Dann jetzt weiter!", meinte der Priester mehr zu sich selbst, ließ Jakob los und ging wie zuvor erneut ein paar Schritte durch den Raum hin und her, um sich auf die Worte seines Diktats zu konzentrieren. „Zweifellos besitzen diese Barbaren daher", sagte er und wartete auf das Kritzeln der Feder, „die Schriftrolle des Arcteus", beendete er den Satz.
„Die Schriftrolle des Arcteus...", murmelte Jakob beim Aufschreiben ehrfürchtig. Für ihn war das Ganze so ungeheuer, dass er es einfach noch mal auf der Zunge zergehen lassen wollte. Aber er verdrängte gleich jeden Gedanken, denn sein Priester sprach ja schon den nächsten Satz!
„...behaupten kann", vollendete Gerach gerade seinen Gedanken.
Jakob erschrak leicht. Er drehte sich zerknirscht um und fragte kleinlaut nach dem Satz.
Gerach blieb stehen, atmete einmal schwer durch und sah ihn leicht vorwurfsvoll an. Aber angesichts der Situation konnte er die Aufgeregtheit seines Gehilfen schon verstehen. Er räusperte sich hörbar und sagte dann: „Angesichts dieser Sachlage...". Jakob nickte dankbar, und schrieb drauflos. „Sollten Maßnahmen ersonnen werden", fuhr Gerach fort, während er nun wieder auf und ab ging, „mit denen man sich dagegen behaupten kann", beendete er erneut diesen Satz.
Jakobs Feder flog und kritzelte. Es folgten noch eine Reihe weiterer Sätze, insbesondere erbat Gerach den Kantonat, alles Weitere zu veranlassen, um Benachrichtigung des Oberpriesters und um Beistand aus der Hand Harmons.
„Verbleibe ich ehrfürchtig euer Priester Gerach aus Gesken", beendete er schließlich das Diktat. Nachdem Jakob damit fertig war, zeigte er Gerach den Bogen. Der überflog alles, bewunderte die gerade und saubere Schrift seines Gehilfen, wobei er zufrieden nickte.
Er ließ sich die Feder geben und fügte unter dem letzten Satz noch die Grußformel „Honor Harmoni!" ein. Direkt daneben setzte er in geschwungenen Buchstaben seine Unterschrift.
„So, jetzt noch das Siegel und dann müssen wir das schleunigst nach Golddorf schaffen", gab er mehr zu sich selbst gewandt von sich.
Jakob zögerte kurz und sagte dann unternehmungslustig: „Wenn ihr wollt, Ehrwürden, kümmer' ich mich darum!"
„Sei nicht albern", kam prompt die Antwort. „Man braucht einen ganzen Tag bis nach Golddorf – wenn man schnell ist und ohne Pause. Das ist keine Sache für einen Burschen wie dich, sondern für gestandene Männer aus dem Dorf und für die Nuntii!"
Die nuntii waren Nachrichtenkuriere, die in eingerichteten Stationen dafür eingesetzt wurden, Meldungen oder Weisungen an alle Ortschaften weiterzutragen oder auch um Briefe zu übermitteln. Diese Kurierstationen nannte man Nuntiaturen und sie waren immer in einem Abstand von 10 Milen auf dem gesamten Kontinent verteilt. In der Nähe des Ortes Bernstein befand sich die nächstgelegene.
Jakob zuckte mit den Achseln, so als wollte er sagen ‚Na dann eben nicht', wandte sich wieder dem Schreiben zu und nahm das große Siegel des Priesters zur Hand, das er in weiser Voraussicht mit hergebracht hatte. Er tauchte einen runden Stiel mit einem kleinen Schwamm an seinem unteren Ende ins Tintenfass und befeuchtete damit gewissenhaft das Siegel. Nach drei Mal bestreichen war es gut so.
Jakob drückte das Siegel auf. Schon prunkte bei der Unterschrift plötzlich der Hirtenstab Harmons mittig auf dem unteren Briefbogen. Jakob wartete kurz, pustete dann vorsichtig über das Papier und faltete den Brief schließlich zusammen. Er übergab ihn Gerach, der ihn in einen dafür vorgesehenen Umschlag steckte. Während er dies tat, vernahm er aufgeregtes Stimmengemurmel auf dem Flur. Scheinbar war jemand Neues angekommen.
„Danke Jakob – das wäre dann alles", sagte der Priester zu seinem Gehilfen.
„Soll ich noch bei den Verwundeten helfen?", fragte dieser pflichtbewusst.
„Nein, das ist nicht nötig", sagte Gerach liebevoll, „du hast genug getan."
Jakob stand auf, verbeugte sich leicht und packte seine Schreibsachen wieder in die dafür vorgesehene Handkiste. Dann verließ er eilig das Zimmer.
Gerach sah ihm schmunzelnd nach. Was sollte Jakob jetzt bei den Verwundeten. Er würde ja doch immer nur an die Schriftrolle denken und wäre daher keine große Hilfe. Gerach betrachtete den Briefbogen in seiner Hand und atmete einmal hörbar durch. Nach einem kurzen Innehalten verließ auch er den Raum.
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