Kapitel 32
Leises Hufgetrappel ertönte. Clementine atmete erleichtert auf, als sie zwei bekannte Gestalten durch die erleuchteten Gänge traben sah.
„Skyla, Simon!", wieherte sie ihnen erfreut zu.
Der kleine, zottige Schecke war der erste, der sie erreichte. Mit dem Handy im Maul blickte er zu ihr auf. „Erstaunlich, wie gut dieses Ortungssystem funktioniert..." Nachdenklich sah er sich um.
Da kam auch Skyla neben ihm zum Stehen. „Hier unten ist es ja wirklich grässlich", merkte sie an.
Clementine nickte. „Wie seid ihr überhaupt hier rein gekommen? Es ist doch alles abgeschlossen", wollte sie wissen.
Triumphierend hob Simon einen kleinen, silbernen Schlüssel hoch. „Haben wir Charlson abgeluchst", grinste er. Erstaunt riss Clementine die Augen auf.
„Ja, sie ist vollkommen aufgelöst durch die Uni geprescht", erklärte Skyla belustigt. Es war offensichtlich, wie unwohl sich die Palominostute in diesem engen Gang fühlte. Ständig sah sie sich um, als erwarte sie jeden Moment einen Feind hinter der nächsten Ecke lauern. Den anderen beiden ging es nicht anders. Sie alle standen unter permanenter Grundspannung.
„Charlson?" Mit gerunzelter Stirn starrte Clementine ins Leere. Diese Dozentin war schon immer ein etwas hektisches Wesen gewesen, doch die Tatsache, dass sie sich zusammen mit Feivel in dem Raum befunden hatte, in dem die seltsame Zeremonie durchgeführt werden sollte, beunruhigte die Schimmelstute.
„Hast du Mallorys Handy noch auf dem Radar?", fragte Skyla an Simon gewandt.
Dieser nickte knapp. Mit konzentriert zusammengekniffenen Augen, tippte er auf seinem Handy herum. „Das Signal ist zwar nicht mehr aktiv, aber ich habe den Standort vorhin zum Glück abspeichern können."
„Das bedeutet?", harkte Clementine verwirrt nach. Mit Computerjargon konnte sie nicht allzu viel anfangen.
Daraufhin erntete sie nur ein genervtes Schnauben von Seiten des Isländerhengstes. „Ihr Handy ist zwar aus, kaputt oder sonst was, aber wir können sie trotzdem finden."
„Sehr gut." Erleichterung machte sich in Clementines Brust breit. „Mallory, wir kommen", schnaubte sie mit hoffnungsvoller Entschlossenheit.
Im Gleichschritt trabten sie los. Simon mit seinem blinkenden Handy vorneweg, dahinter die Stuten. Stetig seiner Navigation folgend, bewegten sie sich vorwärts, drangen tiefer und tiefer in das Gewölbe ein. Kein Wort wurde gesprochen. Sie alle waren einzig und allein auf den Routenplan vor ihren Nüstern fokussiert. Mittlerweile hatte es Simons Programm geschafft, die grobe Struktur der Gänge zu erfassen, was ihnen die Wahl der richtigen Abbiegung erheblich erleichterte. Nur das stetige Atmen der drei Pferde war neben ihren Schritten zu vernehmen. Stumm wie Geister glitten sie durch das Gefüge der unterirdischen Gänge. Obwohl alles um sie herum nahezu identisch aussah, spürten sie doch, dass das Ziel immer und immer näher rückte.
Da war sie. Die Eisentür, die die Suche endlich zum Ende bringen sollte. Wie jede andere der zahlreichen Türen, schlummerte sie verschlossen in einem besonders schmalen Gang vor sich hin. Es war kaum Platz für zwei nebeneinander gehende Pferde.
„Hier muss es sein", flüsterte Simon nahezu ehrfürchtig. Schleppend kamen sie vor der blickdichten Barriere, die in die weiß geflieste Wand eingelassen war, zum Halt. Der Hengst hielt das Handy prüfend gegen die Tür. Selbst ein Laie erkannte auf der blinkenden Karte auf dem Bildschirm, dass sie das Ziel erreicht hatten.
Aufgeregt scharrte Clementine mit dem Huf am Boden. „Und jetzt?" Fragend sah sie in die Runde.
„Mallory?", rief Skyla zaghaft. Sanft klopfte sie gegen das Metall. Dumpfe Laute ertönten. „Bist du da?"
„Das bringt nichts." Clementine hielt den Huf der kleinen Stute zurück. „Das Ding ist schalldicht."
„Verdammt!", rief Simon aus. „Wie soll sie dann wissen, dass wir hier sind?"
„Kann man das irgendwie öffnen?" Suchend folgen Skylas Blicke über die glatte, glänzende Oberfläche. Sie konnte weder eine Klinke noch etwas ähnliches darauf erkennen.
Mit einer raschen Kopfbewegung deutete Clementine auf ein unscheinbares Schlüsselloch seitlich der massiven Metallplatte. „Wir brauchen einen Schlüssel. Anders funktioniert der Mechanismus nicht."
„Haben wir doch." Klimpernd zog Simon das Schlüsselchen von Charlson hervor und lies es vor den beiden anderen hin und her baumeln.
„Ich glaube kaum, dass der passt." Skeptisch beäugte Clementine das Utensil. „Ich hab den auch, das ist nur ein einfacher Universalschlüssel. Würde mich wirklich wundern, wenn er in der Lage wäre, Schlösser wie dieses zu öffnen."
Simon ging jedoch nicht auf ihre Erläuterung ein und zuckte bloß mit den Schultern. „Einen Versuch ist es wert." Beherzt zückte er den Schlüssel und versuchte ihn in den dafür vorgesehenen Schlitz zu zwängen. Einen knappen Millimeter weit klappte es, doch dann stoppte er abrupt. Genervt rüttelte Simon an der Tür. Es half alles nichts. Der Schlüssel bewegte sich kein Stück weiter. Er lies sich weder in die eine noch die andere Richtung drehen. Resigniert seufzend steckte Simon ihn wieder ein und lies vom Schloss ab. „Du hast Recht", knurrte er unwillig.
Auch Skyla raufte sie die Mähne. „Was wird hier nur gespielt?", wieherte sie aufgebracht. „Wir müssen doch was tun können, um Mallory da raus zu holen ..."
„Stimmt ... Hier muss es doch irgendwo einen passenden Schlüssel geben!" Erregt trat Clementine auf den harten Boden ein. So kurz vor dem Ziel würde sie sicherlich nicht aufgeben.
Auf einmal schnellte Simons Kopf alarmiert nach oben. Seine Ohren waren gespitzt und die Schultermuskulatur trat angespannt aus seinem Pelz hervor. „Da kommt jemand!", zischte er gedämpft.
Jetzt hörten des die anderen beiden auch. Hufschritte. Schleppend bewegten sie sich durch die Gänge, stetig auf Mallorys Tür zu.
„Verstecken." Mit einer raschen Kopfbewegung bedeutete Clementine den Ponys ihr zu folgen. Rasch huschten sie hinter die nächste Biegung, die glücklicherweise nicht weit entfernt war. Und das keine Sekunde zu spät. Schon einen knappen Herzschlag danach, kam eine Gestalt um die Ecke geschlendert.
Vorsichtig lugte Skyla hinter der Abzweigung hervor. Die Tür lag genau in ihrem Blickfeld. Als die kleinen Stute das herannahende Pferd erkannte, sog sie scharf die Luft ein.
Gespannt drängelte sich auch Clementine zu ihr. Ihr Atem stockte. „Oh nein", hauchte sie kaum hörbar. „Es ist Ray."
Ohne sich auch nur umzusehen, hielt der Fuchsschecke auf die Tür zu. Geradlinig und zielstrebig setzte er seinen Weg fort. Seine Schritte waren bestimmt und hallten unnatürlich verzerrt von den kahlen Wänden wieder. Der stechende Blick fixierte das winzige Schlüsselloch, das am Rande des metallenen Blocks angebracht war.
„Glaubt ihr, er wird ihr was antun?", fragte Skyla gedämpft.
„Darauf kannst du Gift nehmen ...", murmelte Clementine abwesend. All ihre Gedanken sponnen sich um die Suche nach einem geeigneten Plan, wie sie Ray ausschalten konnten. Sich einfach so auf ihn zu stürzen war wahrscheinlich zwecklos. Aus sicheren Quellen wusste sie, dass er regelmäßig trainierte, was man ihm definitiv ansah. Markant zeichneten sich drahtige Muskeln unter seinem glänzenden Pelz ab. Gegen diesen Hengst hätten zwei Islandponys und eine desorientierte Andalusierstute wohl kaum eine Chance. Aber was sollten sie nur tun, um zu verhindern, dass er Mallory etwas antat?
In diesem Moment fiel die Tür scheppernd ins Schloss. Ohne dass ihnen auch nur ein winziger Blick ins Innere gewährt worden war, war Ray von ihr verschluckt worden. Sie hatten den Moment verpasst. Der Raum war wieder verschlossen.
„Verdammt!", entfuhr es Simon.
„Wenn wir ihn aufhalten wollen, müssen wir da irgendwie reinkommen." Schnaubend scharrte Skyla mit dem Vorderhuf am Boden.
„Glaubt ihr wirklich, das würde was bringen?" Noch immer skeptisch starrte Clementine die weiße Wand an. Sie war hin und her gerissen zwischen der Sorge um Mallory und der Aussichtslosigkeit der Situation.
„Den Schlüssel zu suchen ist wenigstens eine bessere Alternative, als nur nutzlos hier herumzulungern", stellte Simon mit einem Knurren klar. Auch ihn machte das Ganze langsam nervös. Niemand wusste, was dort drinnen vor sich ging. Sicher war nur, dass Mallory dort stecken musste und womöglich Höllenqualen erlitt.
„Du hast Recht." Clementine nickte. Entschlossen zogen sich ihre Augenbrauen zusammen.
„Am besten einer von uns bleibt hier und hält die Stellung. Für den Fall, dass Ray wieder öffnet", schlug Skyla zustimmend vor.
„In Ordnung."
„Dann sucht ihr zwei den Schlüssel." Skyla deutete auf Clementine und Simon. Diese sahen sich verwirrt an. Wirklich viel hatten sie bisher nicht miteinander zu tun gehabt. Außerdem war es Clementine ziemlich schleierhaft, warum Skyla nicht mit ihrem Freund zusammen hier unten herumlaufen wollte. Aber ehrlich gesagt war ihr das gerade auch relativ egal. Hier ging es einzig und allein um Mallory.
„Alles klar", wieherte Clementine. Ohne weiter unnötig Zeit zu vergeuden, schnappte sie sich Simon und zerrte ihn um die nächste Ecke. Als Navigator könnte er sicherlich nützlich sein.
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Bei jeder noch so kleinen Bewegung schoss unsagbarer Schmerz wie tausende messerscharfe Nadeln durch Mallorys Nacken. Die steife Position, in der sie auf der Liege fixiert war, machte ihr definitiv langsam zu schaffen. Wenigstens hatte sie es mittlerweile dank ihrer aufgebauschten Mähne geschafft, die Fesseln um ihren Hals zu lösen. Zwar war der Rest ihres Körpers noch immer an dem kalten, mehr als nur unbequemen Seziertisch angekettet, doch es war immerhin ein Anfang. Mit halb geschlossenen Augen stierte die Stute auf die nahegelegene Wand. Es war die einzige, die nicht vollkommen weiß war. Die silbrige Tür setzte einen unangenehm glänzenden Akzent. Ständig hoffte Mallory darauf, wenigstens ein winziges Geräusch hinter ihr hervordringen zu hören, doch es blieb vollkommen still. Als hätte man ihr Kopfhörer aufgesetzt, vernahm sie lediglich ihren eigenen Herzschlag und das eintönige Rauschen ihres adrenalindurchfluteten Blutes. Der Raum war garantiert schalldicht. Nicht einmal Schreien konnte ihr noch Hoffnung auf Befreiung bieten. Dank ihrer mittlerweile staubtrockenen Kehle hatte sie das ohnehin bereits seit geraumer Zeit aufgegeben. Sie wusste nicht einmal, wo genau sie sich hier überhaupt befand. Scheinbar in einer Art Keller in Feivels Uni. Aber was hatte das alles zu bedeuten?
Plötzlich tat die Tür einen geräuschvollen Ruck. Mallory zuckte zusammen. Sofort war ihr Puls wieder auf 180. Metallisch quietschend und beängstigend langsam wurde die Tür beiseite geschoben. Aufgeregt und zugleich voller Angst reckte die Stute ihren schmerzenden Hals. Als sie das eintretende Pferd erkannte, klappten sich ihre Ohren abwehrend nach hinten. Natürlich war es wieder dieser Fuchsschecke mit den blauen Augen. Sie konnte sich deutlich angenehmere Zeitgenossen vorstellen. Lieber wäre sie alleine hier verrottet, als ihrem Entführer erneut gegenübertreten - oder besser liegen - zu müssen.
Bedrohlich grinsend kam er auf sie zu. Ihr entging nicht, wie schnell er die Tür wieder hinter sich zuknallen ließ. Sehnsuchtsvoll verharrte ihr Blick für einen Moment auf dem einzigen Ausgang aus dieser weißen Hölle. Doch die Sekunden verstrichen und die Tür war wieder verschlossen. Statt einer Rettung stand sie nun wieder unter der vollen Gewalt des Schecken. Das konnte nichts Gutes bedeuten.
Mit einem Ruck presste Ray die hilflose Stute noch dichter gegen das kalte Metall ihrer Liege. Wut und Erregung blitzte in seinen Augen auf. Nie zuvor in seinem Leben hatte er eine solche Macht besessen, wie er es jetzt gerade tat. Wie ihm Wahn hielt er sein eigens gebrautes Mittel fest im Griff. Niemand würde ihm diese Errungenschaft je wieder nehmen können. Monate hatte er an dem Serum gesessen und jetzt war es endlich vollendet. Dank seines unermüdlichen Ehrgeizes und der Disziplin, die er von seinen falschen Eltern in die Wiege gelegt bekommen hatte.
Zornig schnaubend richtete er seinen Blick auf Mallory. „Dein dämlicher Freund glaubt, er könne das, was ich kann, in ein paar Minuten schaffen", zischte er ihr selbstgefällig zu. „Und jetzt hat er sich damit sein eigenes Grab geschaufelt." Gehässig lachte er auf. Zwar war er sich bewusst, dass er laut Kiras Vorstellung eigentlich Feivels Schicksal teilen müsste, doch er hatte sich mit der Geschicklichkeit einer Schlange aus diesem Schlamassel gewunden. Was Kira nicht wusste, konnten weder sie noch dieser gepunktete Schnösel gegen ihn verwenden.
„Mal sehen, wer die bessere Arbeit geleistet hat." Ehrfürchtig zog Ray sein glitzerndes Fläschchen hervor und betrachtete es liebevoll. „Feivel Cooper oder Raymon Winters? Wie immer es ausgeht, dein lieber Freund wird wohl oder übel sterben." Letzteres richtete er gegen die verkrampft unter ihm liegende Mallory.
Mit aufgerissenen Augen starrte sie ihn an. Immerhin wusste sie nun, wie dieser brutale Schecke hieß. Raymon Winters. Ihr schwante übles. Das glitzernde Zeug, das er da bei sich trug, war definitiv kein harmloser Schlaftrunk.
„Was meinst du damit, du verdammter..." Angestrengt unterdrückte sie ihre aufkeimenden Aggressionen. Sie musste ihre Kräfte sparen. Statt weiter zu sprechen, biss sie nur knirschend die Zähne aufeinander. Mit loderndem Blick fixierte sie Raymon.
Der beugte sich mit einer hochgezogenen Augenbraue über sie. „Denkst du allen Ernstes, das verrate ich dir?" Hämisch grinsend näherte er sich ihrem Gesicht.
Mit einem Laut der Empörung ließ Mallory ihren Schädel nach oben schnellen. Ein dumpfer Schmerz verriet ihr, dass sie ihr Ziel nicht verfehlt hatte.
„Was soll das, du Mistvieh?", brüllte Ray sie an. Er war ein paar Schritte nach hinten getaumelt und rieb sich empört den Nasenrücken. Mallory entging dabei nicht, wie sicher das Glasfläschchen noch immer in seiner Obhut weilte. Egal was sie tun würde, er würde es nicht loslassen.
„Warum stirbt Feivel?", schoss die Dunkelfuchsstute zurück. Dabei wand sie sich und rüttelte an ihren Fesseln, sodass der Tisch bedrohlich quietschend schwankte. Leider gelang es ihr kaum, die Verzweiflung in ihrer Stimme zu verbergen.
Grimmig sah Ray gen Decke. „Weil es die Welt so will", knurrte er verächtlich. „Und mit Welt meine ich meine vermeintliche Mutter."
„Was?" Verwirrt richtete Mallory ihren Blick auf den Hengst. Sie verstand wirklich kein Stück von alledem, was er da von sich gab. „Und was habe ich damit zu tun?" Voller Ungeduld schwenkte sie ihren einigermassen befreiten Hals hin und her. Die Angst, die ihre Glieder hinaufkroch, versuchte sie in den hintersten Winkel ihres Körpers zu verdrängen. Wenn sie lebend hier herauskommen wollte, brauchte sie alle Kraft, über die sie verfügte.
„Was geht hier vor?, fragte sie wütend. Adrenalin stieg in ihren Adern auf, als Ray nicht sofort antwortete. Schwungvoll hämmerte sie ihren Kopf gegen das Metall unter sich. Ein scheppernder Ton schallte durch den Raum.
Zuckend fuhr Ray zu ihr herum. Für einen Moment schien er vergessen zu haben, was überhaupt seine Mission war. Doch bereits den Bruchteil einer Sekunde später, kehrte die alte Kälte in seine Augen zurück. „Hast du's etwa immer noch nicht kapiert?", spuckte er aus. Mit klackenden Hufen näherte er sich. „Du bist hier, um den Tod zu finden, ganz genau wie es sich für Pferde deiner Abstammung gehört." Aus irgendeinem Grunde klang dieser Satz wie auswendig gelernt. Aber sein stechender Blick sprach für sich. Er meinte es todernst. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Hilflos ruckte Mallory an ihren Ketten. Je näher Ray kam, desto stärker wuchs der Drang zur Flucht in ihr. Schweißperlen standen auf ihrer Stirn und das Blut rauschte in ihren Ohren. Die Tatsache, diesem grausamen Pferd nicht entkommen zu können, machte sie vollkommen verrückt.
Schon wieder drehte Ray sein Mittel zwischen den Hufen und betrachtete es andächtig. Mit einer unglaublichen Eisigkeit in der Stimme, säuselte er gespielt: „Wie hätten sie es lieber? Intravenös oder oral?" Ein verschmitztes Lächeln zog sich über sein Gesicht.
Unfähig, diese Frage auch nur zu ihrem Gehirn durchdringen zu lassen, starrte Mallory die glitzernde Flüssigkeit an. Wollte er ihr jetzt allen Ernstes dieses Zeug verabreichen?
„Ich bin mir nicht sicher, was besser funktionieren wird..." Nachdenklich fuhr Raymon mit der Begutachtung des Fläschchens fort. Dann drehte er sich plötzlich zu ihr um und verengte die Augen zu entschlossenen Schlitzen. „Ich finde, beides sollte ausprobiert werden", zischte er hart.
Mallory schüttelte sich krampfartig. Im Normalfall hätte sie in einer solchen Situation angefangen, wie am Spieß zu schreien, doch sie wusste, dass es zwecklos wäre. Wahrscheinlich wusste außer diesem Psycho niemand überhaupt darüber Bescheid, dass sie hier war. Mit vor Furcht bebendem Körper dachte sie an Feivel. Was er wohl gerade tat? Befand er sich ebenfalls in den Fängen dieser Fanatiker und kämpfte um sein Leben? Daran wollte sie gar nicht erst denken.
Hilflos versuchte sie ihre Beine zu bewegen. Jedoch waren sie einfach zu fest an ihren Leib geschnürt. So fest, dass sie sie bereits kaum noch spürte. Leise wiehernd sah sie wieder zu Ray. Der war gerade dabei eine bedrohlich große Spritze aufzuziehen. Zu ihrem Erschrecken schwappte darin sein heiliges Glitzerserum herum. War das das Resultat der scheinbar glorreich verrichteten Arbeit, von der er die ganze Zeit faselte? Ein Mittel zur Tötung von Pferden?
Unaufhaltsam rückte Raymons Körper näher. Die Spritze bereit, mit der Nadel voran direkt auf Mallory gerichtet. Instinktiv versuchte sich die Stute zu ducken und möglichst klein zu machen, doch es gab kein Entrinnen. Blitzend blaue Augen. Schmutziges Grinsen. Das gleißende Licht der Neonröhren, das sich auf dem Metall des Seziertisches spiegelte. Die spitze Nadel, die jeden Moment Mallorys Haut erreichte.
Entsetzt riss sie die Augen auf. Ihre Kehle war wie zugeschnürt und sie war vollkommen unfähig, auch nur einen Versuch des Widerstandes zu starten. Wie gelähmt sah sie die glänzende Nadel näher und näher kommen. Alles um sie herum begann sich wie wild zu drehen und in einem Strom der unglaublichen Angst zu verschwinden. Da waren nur sie, Ray und sein Serum. Niemand, der sie retten konnte. Völlig alleine würde sie hier in diesem Keller der Winters Academy sterben. Ausgeweidet von einem verrückten Hengst. Sie, Mallory Barber, deren ganzes Leben noch vor ihr lag. Es war, als flammten alle Erinnerungen ihres vorherigen Daseins in ihr auf. Wie am letzten Glimmen einer ausgehenden Kerze, versuchte Mallory sich an diesem Schein festzuklammern. Die Gesichter ihrer Eltern tauchten vor ihr auf. Ihre Mutter schemenhaft, ihr Vater lächelnd. Und dann... Feivel. Ob er ihr Schicksal teilte? Würden sie sich im Jenseits wiedersehen?
Schweißperle rannen Mallorys Schläfe hinab, das Wasser quoll ihr aus den Augen. Das eigene Blut rauschte in ihren Ohren und ihre müden Beine zuckten in einem letzten Aufbäumen. All das nahm sie gar nicht mehr wahr. Ihre ganze Aufmerksamkeit war auf die Nadel gerichtet. Jegliche Faser ihres Körpers angespannt, auf den stechenden Schmerz wartend. Quälend langsam näherte sich Ray ihr. Millimeter für Millimeter. Sein Atem streifte ihre zerzauste Mähne. In dem verzweifelten Versuch ihrer Todesangst zu entkommen, kniff die Stute die Augen fest zusammen, wie sie es immer als Fohlen getan hatte, wenn ein Gewitter aufzog. Was sie nicht sehen konnte, konnte ihr auch keine Furcht bereiten.
Doch diesmal war es kein harmloses Gewitter, das über sie rollte. Das hier war reale Gefahr, keine bloße Einbildung eines unerfahrenen Fohlens. Mallory wagte kaum, daran zu denken. Dieses Mittel in der Spritze könnte sie tatsächlich umbringen.
Kalt setzte Ray die Nadel an Mallorys Halsvene an. Vor Anspannung und Adrenalin pulsierend trat sie aus dem dichten, gelockten Fell hervor. Ein letztes Mal atmete Ray tief durch. Seine Hufe waren bereit, das Serum in dem hilflosen Körper zu versenken.
Einige Sekunden, die sich wie Stunden anfühlten, starrte er die scharfe Nadel nur an, bewegte sich nicht mehr. Doch dann schüttelte er mit einem Ruck alle Zweifel ab. Er tat das für Kira, die zwar nicht seine Mutter war, ihn aber Jahrelang aufgezogen hatte. Und für John. Für das Erbe der Winters Familie.
Leichter Druck. Mühelos versank die Spitze in Mallorys Fleisch. Jetzt gab es kein Zurück mehr.
Als sie die Nadel in ihrem Hals spürte, hätte Mallory Raymon am liebsten von sich gestoßen und wäre so schnell sie konnte von diesem grässlichen Ort verschwunden, doch ihre Fesseln ließen kaum eine Bewegung zu.
„Darf ich wenigstens meine Organe spenden?", fragte sie mit brüchiger Stimme. Vorsichtig wagte sie es, die Augen einen Spalt weit zu öffnen. Noch war das Mittel nicht in ihren Blutkreislauf gelangt. Noch verharrte es in der Spritze. Noch hatte Ray nicht abgedrückt.
Gehässig stach der Schecke die Nadel noch ein Stück tiefer in ihren Muskel. Es brannte. „Wenn alles glatt läuft, dürfte von deinen Organen nach dieser Prozedur nichts mehr übrig sein", wieherte er fast schon gleichgültig. „Um sicher zu gehen werde ich natürlich alles überprüfen", fügte er mit einem schelmischen Lächeln hinzu und richtete seinen Blick wieder auf die noch immer aufgezogene Spritze, in der das Serum bedrohlich schimmerte.
Mallory wagte nicht zu atmen. Sie befürchtete, dass auch nur die kleinste Bewegung zur Aktivierung des Austritts des Serums führen könnte. Verängstigt schielte sie zu dem Behältnis. Noch immer funkelte der flüssige Inhalt bedrohlich ruhig vor sich hin.
„Dein letztes Stündlein hat geschlagen", knurrte Ray zischelnd wie eine Schlange. Mit einer kräftigen Stoßwelle, beförderte er das Serum in Mallorys Kreislauf.
Für einen Moment wollte sie vor Schmerz und Entsetzen aufschreien, doch kein Ton drang aus ihrer ausgedörrten Kehle. Da breitete sich auf einmal eine schleppende Leere in ihr aus. Ihre Sinne schwanden und ihre Lider drohten zuzuklappen. Verzweifelt versuchte Mallory dagegen anzukämpfen. Sie wollte noch nicht sterben. Nicht so. Nicht ohne Grund. Und nicht, ohne Feivel gesagt zu haben, was sie für ihn empfand ...
Seicht zuckend warf Mallory den Kopf zur Seite. Das war ihre letze Regung, bevor sie den Kampf gegen die Substanz in ihrem Körper verlor und mit schwindelerregender Geschwindigkeit in einer Woge aus undurchdringbarer Dunkelheit versank.
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