Kapitel 3
Die strahlend helle Morgensonne tauchte das kleine Städtchen in ein güldenes Licht. Gemächlich rollte ein klappriger Linienbus über die glatte Fahrbahn und kam schließlich zischend vor Feivels Hufen zum Stehen.
Um sich die nervige Abschiedspredigen seiner mit ihm wartenden Eltern zu ersparen, packte er schnell seinen Koffer und begann ihn nach zwei raschen Umhalsungen in den Bus zu hieven. Doch ehe er vollends in dem Fahrzeug verschwinden konnte, vernahm er ein helles Wiehern, das ihn augenblicklich innehalten ließ.
„Feivel!"
Überrascht schnellten seine Ohren in die Richtung, aus der er die Stimme vermutete. „Mallory!" Ohne weiter darüber nachzudenken, ließ er von seinem Gepäck ab und stürmte auf sie zu. „Was machst du denn hier?" Das breite Lächeln, das sich beim Anblick der kleinen Dunkelfuchsstute in seinem Gesicht ausbreitete, war unmöglich zu unterdrücken.
Mit wehender Mähne bremste Mallory vor ihm ab und sah ihn aus ihren lebhaft funkelnden Bernsteinaugen an. „Ich dachte, ich schau nochmal schnell vorbei, bevor du auf unbestimmte Zeit in den Laboren der W.A.S. verschwindest." Ein freches Schmunzeln huschte über ihre weichen Züge.
„Musst du heute nicht an deine eigene Uni?" Neckisch fragend zog Feivel eine Augenbraue hoch.
„Ach." Augenrollend winkte Mallory ab. „Die kann warten. Dich zu verabschieden erschien mir wichtiger."
Bei diesen Worten breitete sich ein wohlig warmes Gefühl in Feivels Brust aus. Es war erstaunlich, wie schnell die Freundschaft zwischen ihm und Mallory gewachsen war. Binnen weniger Monate waren sie nahezu unzertrennlich geworden. In ihrer Schulzeit hatten beide keine wirklichen Freunde gehabt. Es war ein Wunder, dass sie sich nicht bereits früher angenähert hatten. Doch das Schicksal schien es genau so gewollt zu haben.
Feivel beugte sich leicht nach unten und legte seine Stirn an Mallorys. Ein letztes Mal sog er ihren blumig leichten Duft ein, ehe er sie wieder von ihr löste und den bereits ungeduldig wartenden Bus betrat. Seine Blicke trafen sich mit Mallorys.
Kurz bevor sich die Türen zwischen ihnen schließen konnten, schnellte die Stute vor und drückte ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange. „Ich werde dich vermissen, Kumpel."
„Ich dich auch", wollte er erwidern, doch da hatte sich die Durchsichtige Wand bereits zischend geschlossen. Zurück blieb eine pochende Hitzequelle an seiner Wange.
Mit gemischten Gefühlen winkte Feivel seinen Eltern und Mallory durch das verdreckte Busfenster hindurch zu.
Unruhig mit den Ohren wackelnd, blickte er nach unten, wo das Licht strahlende Muster auf seinen Pelz zeichnete. Zum einen umfing ihn die Freude darauf, mit seinem Aufbruch zu der Uni heute endlich einen neuen Lebensabschnitt beginnen zu können, doch zum anderen war die alte Furcht vor der Veränderung noch immer in seinem Geist verankert. Alles würde vollkommen anders sein, als es es zuvor gewohnt war. Statt bei seiner Familie würde er in einer Art Internat an der W.A.S. leben und keine bekannten Gesichter mehr um sich haben. Bereits jetzt wurden ihm die Knie weich, wenn er an all die neuen Personen dachte, mit denen er mit einem Schlag konfrontiert werden würde.
„Das tut dir sicher mal gut", hatte Mallory nur lachend gemeint, als er ihr von seiner Sorge berichtete. Ein Satz, der genauso gut von seiner Mutter hätte kommen können. Feivel musste schmunzeln. Die beiden Stuten waren sich in ihrem Verhalten doch ähnlicher, als der erste Eindruck vermuten ließ.
Ein letzter Blick wanderte nach hinten, wo die drei noch immer munter winkenden Pferde zu einem immer kleineren und unbedeutenderem Punkt in der Ferne verschwammen, dann bog der Bus um eine Kurve und strahlend grüne Baumkronen nahmen ihm die letzte Sicht.
Wie auf einem Filmband rauschte die karge Landschaft an Feivel vorbei. Schläfrig lehnet er sich an das Fenster des Busses und schloss die Augen. Zwar fuhr er erst seit knapp zwei Stunden, aber um sechs Uhr morgens aufzustehen war ihm dann doch ein wenig zu viel gewesen. Vor allem wenn man bedachte, dass er wegen seinen Aufregung diese Nacht kaum ein Auge zugetan hatte.
Ein leises Seufzen drang über seine Lippen. Obwohl die Verabschiedung von Mallory und seinen Eltern erst vor Kurzem stattgefunden hatte, fühlte er sich jetzt bereits so unglaublich weit weg von den dreien, dass sich seine Brust auf einmal ganz eng anfühlte. Er würde sie wirklich vermissen.
In diesem Moment leuchtete Feivels Handydisplay auf. In Erwartung einer mehr oder weniger besorgten Nachricht seiner Mutter, ob er bereits angekommen sei, warf er einen raschen Blick darauf, doch er irrte sich. Als er den Namen über der WhatsApp erkannte, war seine Müdigkeit wie verflogen.
„Vermisse dich jetzt schon." Mallory.
Ohne lange zu überlegen, tippte er: „Ich dich auch. Wie läuft es bei dir so?" Unwillkürlich breitete sich ein Grinsen auf seinen Gesicht aus und die Hitze schoss in seine Wangen.
Eine Weile wartete er aufgeregt wie ein kleines Fohlen auf eine weitere Antwort, doch sie blieb aus. Vermutlich saß Mallory mittlerweile in einer Vorlesung und hatte sich dazu entschieden, ihr Handy wegzulegen und sich lieber auf den Stoff zu fokussieren. Eine gute Wahl, wie Feivel fand.
Mallory war in eine WG in der Nähe der Jefferson High gezogen, wo sich auch die familiäre Uni ihrer Kleinstadt befand. Dort hatte sie heute ihren ersten Tag als Lehramtsstudentin. Irgendwie gefiel Feivel der Gedanke noch immer nicht sonderlich gut, dass sie eines Tages Klassenarbeiten von Fohlen korrigieren würde, während er spannende naturwissenschaftliche Experimente durchführte. Aber wenn ihr das zusagte, war es Mallorys Sache. Sie würde bestimmt eine ganz passable Lehrerin abgeben.
Die Bustüren zischten. Noch zwei Haltestellen bis zur WAS. Ein aufgeregtes Kribbeln stieg in Feivel auf.
Einige wenige junge Pferde betraten den Bus. Es waren nicht sonderlich viele, nur gut ein Duzend. Dennoch füllte sich das kleinräumige Transportmittel beträchtlich. Zuvor waren neben Feivel nur ein paar stumm in ihren Handys versunkenen Gestalten verstreut in ihren Sitzen gekauert, doch nun schwoll aufgeregtes Stimmengewirr an. Wohl handelte es sich bei den soeben eingestiegenen ebenso um neue Studenten der W.A.S. Auch sie hatten schwere Taschen bei sich.
Ein kleiner, dunkelbraun gescheckter Isländer, lief mit schlurfenden Hufen durch den Gang. Obwohl noch genug andere Plätze frei waren, steuerte er unmittelbar Feivels Sitzreihe an.
„Ist hier noch frei?", fragte er mehr aus Höflichkeit und zog seine buschigen Augenbrauen nach oben.
„Natürlich." Feivel rückte ein Stück zur Seite und sah zu, wie der Hengst seinen dunkelgrünen Rucksack in der Gepäckablage verstaute und sich neben ihn auf den Sitz fallen lies.
„Simon." Kurzes Nicken zu Feivel. Dieser brauchte einen Moment, um zu realisieren, dass er sich gerade vorgestellt hatte.
„Ich... bin Feivel", erwiderte er etwas unsicher. Er war es nicht gewohnt, einfach so von Fremden angesprochen zu werden.
„Na, auch auf dem Weg zur W.A.S.?" Als der Schecke sich fragend zu ihm vorbeugte, entdeckte Feivel einen kleinen, silbrigen Stein, der um seinen Hals baumelte.
„Ja, meine Tutorin hat mich vermittelt." Lngsam wurde Feivel lockerer. „Ist meine Traumuni." Dieser Simon schien ganz netter Typ zu sein.
„Ich bin nur wegen meinem Alten hier. Eigentlich würde ich viel lieber was mit IT machen, statt lateinische Pflanzen auswendig zu lernen. Aber er meint es sei das Beste für mich." Ein verächtliches Schnauben verlies seine Lippen.
„Wenn es nach meinem Vater ginge, müsste ich Zahnarzt werden", erinnerte sich Feivel und zog eine unwillige Grimasse.
„Auch?" Simon hielt ihm eine grüne Packung Kaugummi unter die Nase.
„Welche Sorte ist das?"
„Bambus."
Angewidert verzog Feivel die Nüstern. „Das kann man essen?"
„Klar. Machen Koalas doch auch", lachte Simon und stupste ihn gegen die Flanke.
„Okay... Danke." Zögerlich nahm Feivel einen der grünlichen Drops entgegen und stellte sich bereits auf einen ekligen Geschmack ein, doch wieder Erwarten war es gar nicht so schlecht. Zwar ein wenig gewöhnungsbedürftig, aber keineswegs ungenießbar.
„Wir sind da!" Der Schrei einer Schimmelstute riss die beiden neuen Bekannten aus ihrem Gespräch. Sofort sprang ein Großteil der Insassen des Busses auf und einige begannen sogar schon, eilig ihr Gepäck zusammenzuraffen.
Feivels Ohren schnellten aufgeregt nach vorne. Angestrengt versuchte er durch die verdreckten Busfenster etwas zu erkennen. Doch da sie noch fuhren und die Sicht zumeist von umverstolpernden Pferdeköpfen verdeckt wurde, war der hell gesprenkelte Hengst nicht sonderlich erfolgreich. Auch Simon reckte angespannt den Hals in die Höhe, um besser sehen zu können, doch bei seiner Ponygröße bezweckte es noch weniger als Feivels Versuche.
Durch einige Verrenkungen gelang es ihm schließlich, einen Blick nach draußen zu erhaschen. Durch das schmutzige Glas verzerrt, konnte er ein klobiges, dunkelgraues Gebäude ausmachen, das mächtig auf einer Hügelkuppe thronte. Die Außenwand wirkte wie eine massive, undurchdringbare Mauer und auch das große, metallene Flügeltor, verstärkte diesen Festungshaften Eindruck. Von außen wirkte der Klotz nicht unbedingt einladend, aber von Fotos aus dem Internet wusste Feivel, dass die Winters Academy zumindest einen hübschen Innenhof besaß. Von den Experimentierräumen und Laboren hatte er bisher ebenfalls nur das Beste gehört.
„Komm Feivel, lass uns aussteigen!" Simon hatte bereits seinen Rucksack geschultert und war dabei, sich zwischen den anderen Pferden ins Freie zu quetschen. Schnell schnappte auch Feivel seine Tasche und eilte ihm nach.
Bei dem Gebäude handelte es sich tatsächlich um ein burgartiges Gemäuer aus dunklem Beton. Einige unscheinbare, aber massive Metalltüren waren am Fuß der von Witterung verwaschenen Fassade angebracht und führten ins Ungewisse. Zudem war da natürlich noch das riesiges Tor aus silber glänzenden Eisenstäben. Es stand weit offen und gab den Blick in den Innenhof der Winters Academy frei. Zahlreiche Studenten bahnten sich ihren Weg hinein, schubsten sich gegenseitig weg oder machten erste Bekanntschaften. Es ging zu wie in einem Bienenstock. Wiehern, Hufgetrappel und Lachen erfüllte die Luft und die aufgehende Morgensonne tauchte das Spektakel in ein warmes, rötliches Licht.
„Die Studenten bitte zur Rezeption im linken Gebäude!", in dem verzweifelten Versuch, das Chaos irgendwie unter Kontrolle zu bringen, schallte ein Wiehern über den Platz. Ein Rappe, der in einen dunkelblauen Laborkittel gehüllt war und ein Klemmbrett im Maul hielt, eilte geschäftig in der bunten Pferdemasse hin und her.
Feivel war froh, dass Simon sich so zielsicher an den anderen Pferden vorbeischlängelte und er ihm einfach folgen konnte. Anders als er, hatte der Schecke den Gebäudeplan aus dem Internet wohl etwas besser studiert.
„Hey, pass doch auf!" Die Schimmelstute, die Feivel vorhin im Bus gesehen hatte, drängelte sich ungestüm an ihm vorbei und fauchte ihn dabei auch noch barsch an. Ihre lange, hellbraune Mähne wehte ihr stürmisch hinterher, ehe sie in die Masse eintauchte und aus seinem Sichtfeld verschwand.
Etwas eingeschüchtert beeilte er sich, Simon hinterherzukommen. Er hätte den kleinen Schecken schon ein paar Mal fast aus den Augen verloren und war ganz und gar nicht erpicht darauf, alleine in diesem Tohuwabohu zurückzubleiben.
„Komm schon, Feivel!" Lässig lehnte Simon an der Wand des links des Eingangsbereiches gelegenen Gebäudes, von dem der Rappe mit dem Klemmbrett gesprochen hatte.
Feivel, der jetzt schon komplett die Orientierung verloren hatte, trabte so schnell es die schwere Tasche auf seinem Rücken zuließ, auf Simon zu. Dieser hatte es doch tatsächlich geschafft, eine ruhige Ecke zu finden. Von hier aus lies sich das Treiben der umherwimmelnden Pferde in Ruhe von außen beobachten.
Friedlich seufzte Feivel, während seine Augen den vorbeiziehenden Studenten folgten. Der Innenhof war wirklich groß. In der Mitte des mit kleinen Kieselsteine bedeckten Platzes, ragte eine gräulich-beigene Sandsteinstatue in die Höhe. Sie zeigte das Symbol der Winters Academy. Eine liegende Acht. Das Zeichen der Unendlichkeit. Feivel hatte gelesen, dass es dafür stehen sollte, dass die Forschung an der Welt unendlich lange möglich war und es ständig Neues zu entdecken und entwickeln gab.
Die füllige Buche hinter der Skulptur warf hübsch gemusterte Schatten auf deren glatt gemeißelte Steinoberfläche. Der dicke Stamm des Baumes war von einer Bank umrahmt, die bereits von einigen aufgewühlt herumalbernden Studenten belagert wurde. Direkt daneben befand sich eine gläserne Tür, die vermutlich zu den Hörsälen im Inneren des Gebäudes führte. Eine weitere Tür daneben, bildete laut Simon den Eingang zu den Laboren und Büros.
Feivel nahm die warme, sonnige Luft in seinen Lungen auf. Er fühlte sich, als sei er endlich angekommen, wo er immer hingehörte. Alles wirkte so familiär und einladend. Als könne man hier alles erreichen...
„Der Ansturm hat sich etwas gelegt, wollen wir zur Anmeldung gehen?" Simon hatte Recht. Nur noch vereinzelt bewegten sich Pferde auf den gläsernen Kasten zu, der in die Wand des linken Gebäudes eingelassen war und wohl die Rezeption bildete.
Schon war Simon wieder entwischt und stand bereits direkt davor. Feivel folgte ihm rasch.
Hinter der Theke stand eine kleine, zottige Palominostute. Ihre Augen waren konzentriert auf den Bildschirm neben sich gerichtet, während sie gleichzeitig in einem Haufen Unterlagen herumwühlte.
„Entschuldigen Sie?" Simon reckte den Hals über den Tisch und legte einen aufmüpfigen Gesichtsausdruck auf. „Wir würden uns gerne anmelden."
Etwas zerstreut hob die Stute den Kopf und lächelte schief zu ihnen hinüber. „Natürlich. Eure Namen?" Sie schien kaum älter zu sein als die beiden.
„Feivel Cooper", stellte der gepunktete Hengst sich vor.
„Und Simon Sheppard!" Sein Freund deutete einen Diener an und warf danach lässig seine dichte schwarze Mähne zurück.
„Dann lasst mal sehen..." Mit krausgezogener Stirn scrolle sie auf ihrem Computer herum. „Ach ja, hier." Sie schien fündig geworden zu sein und betätigte einen Drucker. Ein surrendes Geräusch ertönte. Feivel und Simon sahen sich an. Sie wussten beide nicht genau, was die Sekretärin da gerade anstellte.
„So. Hier sind eure ID-Karten. Damit könnt ihr das Unigelände betreten und verlassen." Sie schob ihnen zwei einlaminierte Kärtchen zu, an denen je eine Klammer befestigt war. Feivel nahm seines entgegen und begutachtete argwöhnisch das Passfoto. Darauf war seine dunkelgraue Mähne noch bedeutend länger gewesen.
„Außerdem dienen sie als Schlüssel für euer Zimmer", fügte die Stute noch hinzu. „Ihr könnt euer Gepäck schonmal dort ablegen. In einer halben Stunde ist der Treffpunkt für eure Gruppe dann in Saal 2.05, Gebäude B."
Rasch versuchte Feivel, all die eben genannten Informationen in seinem Gehirn abzuspeichern. „In Ordnung, danke." Er wollte loslaufen und das Bauwerk mit den Zimmern betreten, als Simon ihn mit einem Knuff in die Seite aufhielt. Verwirrt wandte er sich wieder zum Tisch der Sekretärin um.
„Jetzt bist du uns aber auch einen Namen schuldig." Mit auffordernd angehobenen Brauen baute Simon sich vor der Palominostute auf.
Sie verdrehte die Augen und deutete grinsend auf die ID-Karte, die sie sich an die Brust geheftet hatte. „Kannst du nicht lesen, Simon?", merkte sie mit freundlich provokantem Unterton an. Durch eine ruckartige Bewegung ihres Kopfes, schleuderte sie sich eine ihrer blonden Strähnen aus dem Gesicht.
Mit zusammengekniffenen Augen entzifferte Feivel die kleine Druckschrift auf der Karte. Skyla Potter.
„Doch, kann ich, Skyla." Lässig zwinkerte Simon ihr zu, ehe er sich auf der Hinterhand umdrehte und Feivel mit sich davon zog.
Ohne die Stute eines weiteren Blickes zu würdigen, traten die beiden Studenten in die Tür ein, die sich direkt neben der Rezeption befand. Darüber prangte ein Messingschild mit der Aufschrift: „Gebäude A".
Im Inneren befand sich eine Art Cafeteria, in die sich bereits die ersten Pferde gesellt hatten. Die Zimmer lagen aller Wahrscheinlichkeit nach im ersten Stock. Zu diesem Schluss war Simon wohl auch gekommen, denn er war bereits dabei, sich und sein Gepäck eine edel wirkende Steintreppe hinauf zu hieven.
„Welche Zimmernummer hast du?", fragte Feivel mit einem Blick auf seine Karte.
„29", wieherte Simon, ehe er den Gang betrat, der sie im ersten Stockwerk erwartete, und sich interessiert umsah.
„Ich auch!", freute Feivel sich. Er war wirklich glücklich darüber, mit seinem neuen Kumpel ein Zimmer teilen zu können.
Mit klappernden Hufen bewegten sie sich durch den Flur. Rechts und links davon, führten zahlreiche, uniforme Türen in die unterschiedlichen Zimmer.
„Hier muss es sein." Simon war vor einer der Türen stehen geblieben. Feivel nickte, denn auf einer kleinen silberne Tafel, die daran angebracht war, entdeckte er die gesuchte Zahl. Daneben befand sich eine unscheinbar graue Platte. Offenbar der Scanner für die ID-Karten, von dem Skyla gesprochen hatte.
Mit einem piependen Geräusch entsperrte Feivel den Raum. Simon huschte sofort hinein und sicherte sich das Bett am Fenster, indem er sein Zeug unachtsam auf die Matratze pfefferte.
Insgesamt befanden sich drei Betten in dem kleinen aber hellen Zimmer. Es musste folglich noch einen Zimmergenossen geben. Der schien allerdings noch nicht angekommen zu sein, denn bis auf eine markante Delle in den Laken, die Simon in seiner Übermut hineingeboxt hatte, war die Schlafstätte unberührt.
„Komm, lass uns ein wenig das Gelände erkunden." Feivel legte seine Tasche vorerst auf dem Bett neben Simons ab.
„Yes!" Eifrig seine dichte Mähne schüttelnd, die sich wie ein Strang Lakritzschnüre um seinen Kopf wand, war der Isländer schon wieder dabei das Gebäude zu verlassen.
Als sie wieder im Freien angekommen waren, konnte der kleine gescheckte Hengst es nicht lassen Skyla, die noch immer in ihrer Rezeptionshöhle hockte und Zettel ausdrucke, einen neckischen Blick zuzuwerfen. Kurz grinste sie ihnen zu, widmete sich dann aber hastig wieder einem aufgeregten Studenten, der scheinbar irgendetwas wichtiges von ihr wollte.
„Wo wollen wir hingehen?", fragte Feivel und scharrte mit dem Huf in den Kieselsteinen herum.
„Der Baum da sieht doch nett aus." Simon machte eine Kopfbewegung in Richtung der Buche, die vor den hinteren Gebäuden aufragte.
Lachend machten sie sich auf den Weg. Leider bemerkten sie zu spät, dass die runde Bank am Fuße des Stammes bereits von wild gackernden Stuten besetzt war, die lautstark über die neusten Schminkprodukte philosophierten.
Simon und Feivel sahen sich an. Keiner der beiden musste aussprechen, dass sie definitiv nicht hier bleiben würden. Also war das Ziel nun das Gebäude hinter dem gigantischen Baum.
Im Schatten der Blätter spähte Feivel durch die verglaste Tür. Darin konnte er einige Photographien von berühmten Wissenschaftlern erkennen, die er selbst aus der Entfernung teilweise mit Namen betiteln konnte.
„Schau mal, da ist Albert Einstein." Simon drückte seine Nüstern gegen die Scheibe. Ruckartig schwang die Tür auf und er stolperte hinein.
Mit einem Schmunzeln trat auch Feivel ein. Tatsächlich. Im Eingangsbereich glotzte ihnen das graue, faltige Gesicht Albert Einsteins höchstpersönlich entgegen. Direkt neben seinem Portrait befand sich das eines Pferdes, das Feivel nicht bekannt war. Es handelte sich um einen „John Winters", wie er der Infotafel daneben entnahm. Der graue Hengst sah noch recht jung aus. Seine Augen hatten einen lebhaften Ausdruck und die kurze, dunkle Mähne fiel ihm frech über die Stirn.
„Kennst du den?" Feivel drehte sich zu Simon um, der sich die vom Zusammentreffen mit der Tür schmerzende Nase rieb.
„Das ist der Gründer der Winters Academy, du Eumel!" Empört und zugleich belustigt knuffte der Isländer ihn in die Seite. „Das weiß sogar ich!"
„Echt?" Vielleicht hätte Feivel sich im Vorfeld ein bisschen besser über seine Uni informieren sollen. Doch dank dem so kurzfristig ausgestellten Stipendium von Miss Steel, war die Zeit dafür einfach zu knapp gewesen.
„Ja. Der ist vor ein zwei Jahren oder so bei einem Experiment gestorben." Offenbar wahr Simon Feuer und Flamme für die Geschichte des verunglückten Mr. Winters. Sein Kopf wippte auf und ab, wodurch der Anhänger an seinem Hals wild umher schwang.
„Das muss ein ziemlich gefährliches Experiment gewesen sein...", überlegte Feivel.
Sein Kumpel wedelte abwinkend mit dem Schweif. „Er hat wohl absichtlich irgendeine Säure getrunken oder sowas." Schulterzucken. „Was verrückte Wissenschaftler eben so machen."
„Aber warum sollte jemand so dämlich sein? Dieser John Winters muss sich doch mit solchen Dingen ausgekannt haben." Mit argwöhnisch zur Seite geklappten Ohren musterte der gepunktete Hengst das Foto des Gründers.
„Keine Ahnung, vielleicht hat er ja was verwechselt", schlug Simon mit schief gelegtem Kopf vor. Doch er schien selbst nicht sonderlich überzeugt von dieser Annahmen zu sein.
Die beiden einigten sich darauf, dass definitiv mehr hinter dem Tod dieses Pferdes stecken musste, als einfache Schusseligkeit. Eventuell wollten sie später sogar ein paar Nachforschungen darüber betreiben.
Doch jetzt ging erstmal die Erkundungstour weiter.
Wenn man den Gang geradeaus weiterlief, kam man zu den Büros der Dozenten. Für diese interessierten sich Feivel und Simon jedoch eher weniger, weshalb sie schnell daran vorüber zogen. Schließlich mündete der Korridor, der ähnlich wie der Eingangsbereich ebenfalls mit schwarz-weißen Photographien gesäumt war, in eine Art Garten. Vereinzelte Bäume umrahmten eine weitläufige Wiese. Wie bereits im Innenhof, tummelten sich auch hier zahlreiche Pferde.
Ein Fuchsschecke beschwerte sich angeregt bei einem Apfelschimmel, dass er absolut keinen Bock auf seinen Studiengang hatte. Sofort startete eine hitzige Diskussion zwischen dem Duo. Beide schienen absolut ungewollt in der Winters Academy gelandet zu sein. Kopfschütteln wendete Feivel sich ab. Wieso waren sie dann überhaupt hier?
„In ein paar Minuten sollen wir uns in diesem Raum treffen", fiel Simon mit einem Blick auf seine Uhr auf.
Nickend wandte Feivel seinen Blick von den meckernden Hengsten ab. „Dann lass uns den mal suchen."
So trabten sie den Gang zurück. Der gepunktete Hengst wäre gerne in die Tür abgebogen, deren Aufschrift „Experimentierlabore" versprach, aber zu spät kommen wollte er auch nicht.
Diesmal ohne Unfall, stieß Simon die Eingangstür auf. Die helle Morgensonne strahlte ihnen unangenehm hell ins Gesicht. Im Garten war sie nicht so kräftig gewesen, da er im Schatten der Bauwerke lag.
Flink huschten sie in Gebäude B, dessen Zugang direkt in der Nähe lag. Kaum hatten sie auch dessen Tür passiert, blieb Simon wie angewurzelt stehen. Scharf sog er die Luft ein und starrte mit gespitzten Ohren in den Innenraum. Von seinem Gesicht konnte Feivel so etwas wie Freude ablesen. Verwundert folgte er seinem Blick.
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