Kapitel 19
Schon von Weitem sah Feivel Skyla und Simon an ihrem Stammtisch vor der Cafeteria sitzen. Gemächlich wanderte er über den Hof an der steinernen liegenden Acht vorbei und gesellte sich zu dem Paar. Natürlich klebte auch Clementine an ihm, was ihn dank ihres gemeinsamen Schicksals neuerdings jedoch kaum mehr störte. Vielmehr war er überglücklich darüber, endlich mit jemandem über die ganze Sache reden zu können.
„Auch mal da?" Mampfend sah Simon von seinem Teller auf, auf dem ein einst hübsch drapiertes, von ihm allerdings bereits halb zerstörtes Salatmenü lag.
Unschuldig richtete Feivel seinen Blick auf das duftende Essen. „Wir hatten noch was zu erledigen", gab er geheimnisvoll zurück. Den USB hatte er inzwischen in seinem Rucksack verschwinden lassen. In Gedanken feilte er noch immer an einem Plan, wie er ihn seinem Freund am besten zurückgeben konnte, ohne, dass er Verdacht schöpfte.
„Komm, lass uns was zu Essen holen." Clementine stupste ihn auffordernd in die Seite, was ihnen ein paar vielsagende Blicke von den anderen beiden einbrachte.
Augenrollend folgte Feivel der Stute zum Buffet, wo noch eine ganze Menge Salat und ein paar frischgebackene Brötchen auf sie warteten. Hungrig luden sie sich die Teller voll und trugen sie im Anschluss zurück zum Tisch. Da die Mittagszeit eigentlich schon wieder vorüber war, war es hier draußen relativ leer und angenehm ruhig. Nur vereinzelt lungerten ein paar Pferde vor oder in dem Gebäude herum und starrten auf ihre Handys oder unterhielten sich gedämpft.
„Und?" Skyla sah grinsend von einem zum anderen. „Wo wart ihr so lange?"
Damit keine Missverständnisse aufkamen, hielt Feivel es jetzt für den angebrachten Zeitpunkt, Simon den USB zu überreichen. Er stellte seinen Teller auf der hölzernen Tischplatte ab und begann in seinem Rucksack zu kramen. Als er das kalte Metall ertastete blickte er triumphierend in die Runde. „Schau mal, was ich gefunden habe!" Lachend schwenkte er die Kette vor den Augen des kleinen Schecken hin und her.
Dieser grabschte danach und betrachtete das Stück überrascht. „Wo hast du den denn her?", fragte er verwundert.
Etwas hilflos suchte Feivel Clementines Blick. Er konnte ihm ja schlecht einfach sagen, dass Ray ihn erst bedroht hatte und sie dann auch noch bei ihm eingebrochen waren.
Glücklicherweise ergriff die Schimmelstute geistesgegenwärtig das Wort. „Ich hab ihn vor einer Weile bei den Computern gefunden und wusste nicht, wem er gehört. Heute kamen wir dann zufällig auf das Thema und Feivel hat mir erzählt, dass es deiner ist."
„Ach, tatsächlich?" Skeptisch legte Simon den Kopf schief. Er sah nicht danach aus, als würde er der Geschichte Glauben schenken.
„Die Hauptsache ist doch, dass du deinen Stick wieder hast", meinte Skyla und lächelte ihn an.
„Natürlich, danke." Simons Mundwinkel zuckten kurz nach oben.
Ein unbehagliches Gefühl breitete sich in Feivel aus. Simon schien zu ahnen, dass etwas im Busch war und so wie er ihn kannte, würde er nicht lockerlassen, bis er es herausgefunden hatte.
„Wissen wir eigentlich mittlerweile mehr über die Dokumente, die wir damals entdeckt haben?", fragte der Isländer plötzlich. „Du weißt schon, die mit der Rassenliste und so", versuchte er Feivel auf die Sprünge zu helfen, als dieser unwillig das Gesicht verzog.
Die Erinnerung an die Dateien, die vergraben in einem Ordner namens „Streng geheim" auf Prof. Winters Desktop versteckt waren, ließ eine Gänsehaut in ihm aufkeimen, die ihm eiskalt den Rücken herunter lief. Daran hatte er seit seiner Aufnahme in das Geheimprogramm gar nicht mehr gedacht. Was, wenn es einen Zusammenhang gab?
Mit einem Mal trafen sich seine Blicke mit Clementines. Sie beide dachten haargenau das selbe. War die Krebsforschung eine Lüge? Verfolgten Kira und ihre Crew eigentlich einen ganz anderen, wesentlich finstereren Plan?
Obwohl Clementine eigentlich nicht sonderlich viel über die Dokumente wusste, hatte das Stichwort, das Simon genannt hatte, sofort einen Strom in ihrem Kopf erweckt. Rassen. Es gab so verdammt viele unterschiedliche Pferderassen auf dieser Welt, die sich im Laufe der Zeit entwickelt hatten. Was hatte Prof. Winters mit einer Liste all dieser vor?
Verwirrt sah Skyla von einem zum anderen. „Was habt ihr denn auf einmal alle?"
Die drei übrigen Pferde standen wie erstarrt da. In jedem wütete eine ganz eigene Unruhe, doch sie alle grübelten über die selbe Sache.
Was verbarg sich wirklich hinter dem Geheimnis der Winters Academy?
~ <<>> ~
Vorsichtig näherte sich Ray der nun verschlossenen Türe. Wenn er schonmal hier war, konnte er sich auch anhören, was der eigenartige Hengst, der behaupten, sein Vater zu sein, zu sagen hatte. Tief atmete Ray durch. Auch wenn er es sich nicht eingestehen wollte, hatte er Angst. Angst davor, dass sich sein Leben durch dieses Pferd da draußen für immer verändern würde.
Ein weiterer Atemzug reinigte seine Lungen, dann stieß er die Tür auf.
„Ey, Tyler!", wieherte er dem Grauschecken zu.
Erst zuckte Tyler kurz zusammen, der bis gerade eben noch gedankenverloren auf den kalten Boden gestarrt hatte. Doch genauso schnell fing er sich wieder und hob mit nahezu anmutiger Ruhe den pelzigen Kopf. „Glaubst du mir also doch, mein Sohn?" Fragend verzog er das Gesicht.
Nervös scharrte Ray zwischen ein paar vertrockneten Grashalmen herum. „Du ... Du bist mir eine Erklärung schuldig." Wie zur Betonung hob er ruckartig den Kopf. Es juckte ihn unter dem Fell, die Wahrheit zu erfahren. Hatte er sich all die Zeit für jemanden gehalten, der er nicht war? Zweifel und Unruhe prickelten auf seiner Haut wie Chilikörner.
„Ja." Nickend sah Tyler ihn an und entblößte eine Reihe gelblicher Zähne. „Lass uns doch einen kleinen Spaziergang machen und ich erzähle dir von deiner Vergangenheit. Wundert mich sowieso, dass Kira und John dir nichts gesagt haben." Gemächlich setzte er sich in Bewegung.
„Darüber, dass ich adoptiert bin?" Interessiert spitzte Ray die Ohren. Auch wenn ihm die ganze Geschichte eine gehörige Angst einjagte, spürte er, dass nun die Zeit gekommen war, alles zu erfahren, was ihm seine sogenannten Eltern vorenthalten hatten.
Langsam trotteten sie über den steinigen Boden in Richtung des Waldes.
Tyler hielt seinen Kopf Raymon zugewandt. „Adoptiert wäre das falsche Wort. Damals wusste ich zuerst gar nicht, dass es dich überhaupt gibt. Eines Tages kam einfach diese Stute vorbei, die ich auf irgendeiner Party abgeschleppt hatte und hat mir dich mit den Worten: Deinen Müll kannst du selber aufräumen, übergeben. Ich war noch ein Teenager, musst du wissen." In Erinnerungen schwelgend ließ der inzwischen ergraute Hengst seinen Blick nach oben in die Baumkronen schweifen. „Natürlich hatte ich keine Ahnung, was ich mit einem Fohlen wie dir anstellen sollte, also habe ich dich einfach neben einem Supermarkt abgestellt und gehofft, dass dich eine nette Familie finden und großziehen würde." Mitleidig sah er Ray an, der stumm und in eine Art Schockstarre verfallen neben ihm her trottete.
„Es tut mir leid, das war rückblickend ziemlich bescheuert von mir ...", entschuldigte sich Tyler mit sichtlicher Reue.
Angestrengt biss Ray die Zähne zusammen, um ihn nicht anzubrüllen. Was hatte sich dieser Kerl nur dabei gedacht? Er hätte jetzt tot sein können.
„Das war es. Definitiv", presste Ray hervor und richtete seinen Blick stur auf den grünbraunen Boden, der schleppend unter seinen Hufen vorbeizog.
„Ich hatte ein ziemliches Alkoholproblem in dieser Zeit", führte sein Vater die Erzählung weiter.
„Was du nicht sagst." Mit gerümpften Nüstern schielte Ray zu ihm hinüber.
Seufzend ließ Tyler den Hals fallen. „Ich weiß, ich bin ein schreckliches Pferd. Du kannst dich glücklich schätzen, dass Kira und John dich gefunden haben."
„Woher weißt du eigentlich, dass ich hier bin?", fragte Ray mit angespannter Miene, ehe er ausspuckend hinzufügte: „Es gab ja keine ... öffentliche Übergabe oder sowas."
Tylers dichte Augenbrauen zogen sich traurig nach oben. „Es hat mich Jahre gekostet, dich zu finden." Er stockte. „Erst als ich endlich mehr oder weniger trocken war, habe ich mich an dich erinnert." Eindringlich musterte er ihn. „Du bist das einzig Gute, das ich je hervorgebracht habe." Mit einem Mal wurden seine Züge weicher, fast liebevoll. „Du bist der Grund, weshalb ich mein Leben noch nicht aufgegeben habe ... Ich musste einfach wissen, was aus dir geworden ist, Raymon."
Rays ganzer Körper rebellierte gegen den Gedanken, dass dieses Pferd tatsächlich sein leiblicher Vater sein sollte. Schnaufend sah er Tyler an. Überforderung und Angst erfüllte ihn. Aber auch etwas anderes. In einer ganz versteckten Zelle seiner Hirnwindungen flammte so etwas wie ... Erkenntnis auf.
Schweigend lauschten die beiden Pferde ihren Hufschlägen, die gedämpft durch den Wald hallten. Äußerlich ein friedliches Bild, doch in Rays Innerem arbeitete es auf Hochtouren. Fragen, die sich ihm zuvor nie gestellt hatten, brachen nun wie ein Wasserfall auf ihn ein. Hatten Kira und John ihn je wirklich geliebt? Hatten sie ihn überhaupt als ihren Sohn betrachtet oder nur als Ballast, den sie plötzlich dank eines idiotischen Alkoholikers am Hals hatten? Vielleicht war er mal ein ganz süßes Fohlen gewesen, doch heute merkte er ganz deutlich, dass seine Adoptivmutter ihm mit Kälte und Distanz begegnete. Zuvor hatte er sich darüber keine Gedanken gemacht. Er war der Meinung gewesen, einfach nicht gut genug für die ambitionierte Stute zu sein - anders als dieser dahergelaufene Feivel. Doch jetzt sah er die Situation mit anderen Augen. Kira hatte ihn nie als ihren Sohn betrachtet. Er war ihr immer schon nicht so wichtig gewesen wie beispielsweise John, der sich wenigstens bemüht hatte, Ray ein Gefühl der Heimat zu bieten.
Außerdem ... Schweren Herzens warf Ray einen Blick auf Tylers lange Ohren, die neben ihm fast ulkig auf und ab wippten. Außerdem hatte er offenbar Maultierblut in sich. Wenn Kira das herausfand, würde sie ihn ganz sicher vollkommen aus ihrer Forschung ausschließen - wenn nicht sogar Schlimmeres.
Nahezu niemand kannte das wahre Ziel, das hinter ihren sogenannten Krebsstudien steckte. Weder Feivel noch Clementine, nichtmal die Dozenten. Doch Ray, als Adoptivsohn des fanatischen John Winters, wusste ganz genau, warum es die unterirdischen Geheimlabore wirklich gab. Er kannte das dunkle Geheimnis, das sich um die Winters Academy rankte - und wusste auch, was es für ihn dank seiner wahren Abstammung bedeutete. Ab jetzt musste er noch härter um Kiras Respekt kämpfen. Härter als je zuvor.
Entschlossen warf Ray seine zweifarbige Mähne zurück. Plötzlich war es nichtmehr nur der bloße Kampf gegen Feivel, der ihn vorantrieb. Es ging um weitaus mehr und Raymon hatte keine Wahl. Er musste Kira einen Beweis bieten. Einen Beweis dafür, dass er es wert war, zu leben.
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