Erkenntnisse
„Lily!", schallte es quer durch den Krankenflügel. Erschrocken von der plötzlichen Lautstärke, die in dem stillen Saal wiederhallte, drehte sie sich in Richtung Tür, wo sie den Verursacher ausfindig machte.
Kate und Remus kamen auf sie zugestürmt und strahlten sie fröhlich an.
„Wie geht es dir denn?", fragte Remus.
„Viel besser", antwortete Lily und lächelte ihre Freunde an. Es tat so gut, die zwei zu sehen. Und diese gute Laune, die beide in den tristen Krankenflügel brachten, war ihr mehr als willkommen. Vorsichtig klappte sie ihr Buch zu, an dem sie zuvor gelesen hatte, und legte dieses langsam auf ihren Nachttisch. „Ich muss noch eine Nacht zur Beobachtung hier bleiben. Habe etwas schlecht geschlafen, aber James..." – Sie stockte, als ihr Blick bei den Händen ihrer beiden Freunde hängen blieb, welche fest ineinander verschlungen zwischen den beiden hinunter hingen.
„Was... habe ich verpasst?", fragte Lily verwundert und konnte sich ein wissendes Schmunzeln nicht unterdrücken.
„Eigentlich nicht viel", begann Kate. „Wir hatten gestern ein Gespräch mit Dumbledore wegen dem Orden. Er möchte uns ein Klassenzimmer zu Verfügung stellen, welches wir zu Übungszwecken nutzen dürfen. Und Delvaux wird zur Aufsicht dabei sein, dass nichts schief geht..." – „Ich glaube, sie meint uns beide", flüsterte ihr Remus zu und Kates Augen wurden plötzlich groß. „Oh", hauchte sie. Mit geröteten Wangen senkte sie ihren Kopf und verzog ihren Mund zu einem Grinsen. „Laura", antwortete Remus zögernd. Seine Augen huschten mit einem Grinsen zu Kate. „Sie hat uns etwas ins Gewissen geredet, nachdem wir dich und James dort haben liegen sehen..."
Lilys Kopf schnellte mechanisch zu James' Bett, doch es war leer. Er wurde erst eine halbe Stunde zuvor entlassen. Lily selbst musste noch eine Nacht zur Überwachung bleiben und mit Bedauern stellte sie fest, dass sie nun wohl allein die Zeit totschlagen musste.
„Vielleicht redet ihr zwei nochmal miteinander", raunte Kate und löste sich von Remus, um sich zu Lilys Rechten setzen zu können. „Gib ihm doch bitte eine Chance." Ihre blauen Augen sahen sie eindringlich an. „Kate, bitte", antwortete Lily. „Ich kann das nicht mehr hören. Eigentlich hatte ich gehofft, dass ihr mittlerweile verstanden habt, wie ich zu James stehe. Es wird nie mehr als Freundschaft zwischen uns sein."
„Das glaube ich nicht", funkte Remus dazwischen und trat hinter Kate. „Sieh doch – es muss doch auch einen Grund gegeben haben, warum du plötzlich angefangen hast, ihn mit seinem Vornamen anzusprechen." „Er ist mit mir Schulsprecher...", rechtfertigte sich Lily, doch Remus beließ es nicht dabei. „Wäre es ein Slytherin gewesen, den du nicht magst, hättest du es sicher nicht einfach so gemacht. Wir möchten nur, dass du fair zu ihm bist, Lily."
„Ich bin fair zu ihm!", empörte sie sich. Kate schüttelte den Kopf. „Lily, wäre James nicht gewesen, würdest du vielleicht gar nicht mehr hier sein", sagte sie und strich sich eine blonde Strähne vom Gesicht. „Er hat dir quasi das Leben gerettet!"
„Und ich soll mit ihm ausgehen, weil er mir das Leben gerettet hat?"
„Nein!", verteidigte sich Kate. „Wir möchten nur, dass du
Wütend zog Lily ihre Augenbrauen zusammen. Was war das hier?! Gerade wollte sie noch etwas dazu sagen, als Madame Pomfrey hergeeilt kam. „Müsstet ihr nicht in den Unterricht?", fragte diese forsch. Hastig nickten die zwei und verabschiedeten sich von ihrer Freundin.
Seufzend nahm sie ihre Medizin ein und griff anschließend zurück zum Buch, welches sie zuvor auf dem Nachttisch gelegt hatte. Es war ein schönes Buch, gebunden in Leder und mit einer schnörkeligen Prägung eines Baumes in der Mitte. Vorsichtig fuhr sie mit den Fingern über das weiche Leder, ehe sie das Buch an der Seite öffnete, an der sie zuletzt zu lesen angefangen hatte.
Die Geschichte vom Brunnen des wahren Glücks
Sie schmunzelte. Zwar wusste sie nicht, wer ihr dieses Buch hingelegt hatte, doch sie hatte eine Ahnung. Gedankenverloren betrachtete sie die Initiale, die den Anfang der Geschichte gezeichnet war. Während ihre Augen den zierlichen Linien und Bögen folgten, dachte sie über Kates und Remus' Worte nach.
Sie würde ihm gerne eine Chance geben, doch irgendwie schafften sie es nicht wirklich, für längere Zeit allein zu sein, ohne dass etwas passierte. Doch wenn sie ihn jetzt erneut fragen würde, käme das nicht irgendwie armselig? Sie wollte es sicherlich nicht, weil er ihr das Leben gerettet hatte – und sie wollte bei ihm auch nicht den Eindruck wecken, dass sie ihn deshalb plötzlich interessant fand.
Doch allein der Moment, als er ihr in Hogsmeade so nahe war, dieses Gefühl, wie er ihre Sinne benebelte, einfach nur durch seine Worte, durch seinen warmen Atem im Nacken. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Doch gar nichts zu tun, war erst recht nicht die Lösung. Nervös trommelte sie mit ihren Fingern auf das Buch, als sie immer mehr für sich entschied, auf Ramus und Kate zu hören und James anzusprechen. Was war denn schon so schwer daran? Vor ein paar Wochen hatte sie nicht so ein Problem damit, ihn zu fragen. Warum fühlte es sich nun so anders an? Warum glaubte sie, allein bei dem Gedanken daran, ihm gegenüber zu treten, beinahe in Ohnmacht zu fallen?
Sie erschrak, als sie spürte, wie neben ihr die Matratze nachließ. So versunken in ihren Gedanken wie sie war, hatte sie gar nicht bemerkt, wie Laura an ihr Bett geschlichen kam.
„Hey", raunte diese und legte ein paar Bücher, sowie eine Feder und Pergament auf den Nachttisch. „Ich dachte, ich bringe dir deine Hausaufgaben."
„Danke", antwortete Lily sanft und beobachtete, wie Laura nervös an ihren langen, schwarzen Haaren herum nestelte.
„Wie geht es dir denn heute?", fragte Laura vorsichtig und sah ihre Freundin besorgt an.
„Gut", erwiderte Lily. „Ich darf morgen gehen, wenn alles gut ist."
„Sehr schön." Mittlerweile hatten ihre Hände von ihren Haaren abgelassen und Gefallen an den eigenen Fingern gefunden, an denen Laura nun zu knubbeln anfing. Lily schaute ihre Freundin mit einer ungewohnten Ruhe an. Irgendwann atmete Laura tief durch und sah auf.
„Er ist wirklich ein besserer Mensch als du glaubst", sagte sie dann bestimmt und Lily schreckte auf. „Wer?", fragte sie eine Spur zu schnell. Innerlich hoffte sie, dass Laura nicht auch noch auf James herumhackte. Doch Laura merkte nichts, sondern legte ihren Kopf schief und sah Lily hoffnungsvoll an.
„Sirius", antwortete Laura leise. „Ohne ihn wäre ich heute Nacht nicht hier rein gekommen. Als er erfahren hatte, dass du wach warst, hat er mich geschnappt und mir geholfen, hier rein zu schleichen. Er sagt, dass Freunde nie im Streit auseinander gehen sollten. Oh Lily, ich hätte es mir nie verziehen, wenn dir etwas passiert wäre..."
Lily hob behutsam ihre Hand und strich ihrer Freundin eine schwarze Strähne hinter das Ohr, welche sich frech in ihrem Gesicht verloren hatte. Dass die sonst so taffe Laura plötzlich so demütig vor ihr saß, war für Lily eine völlig neue Erfahrung - und am liebsten wollte sie sie nur noch in den Arm nehmen und ihr sagen, dass alles wieder in Ordnung sei. So sehr sie die demütige Laura auch zu schätzen wusste, vermisste sie das Strahlen in Lauras sonst so lebhaften, braunen Augen.
„Weißt du, sie haben eine Wahnsinns-Karte entwickelt, mit der sie sehen können, wer sich im Schloss wo befindet - so konnten wir hierher kommen, ohne dass uns jemand erwischen konnte!"
Kurz blitzte ihr altes Strahlen wieder in den Augen hervor, als sie weiter sprach, doch so schnell wie es kam, war es wieder verschwunden.
Lily jedoch biss sich auf die Lippen. Das war es also, was James bei sich trug und nach dem ersten Treffen des Ordens im Geheimgang studierte.
Dieses seltsam gefaltetes Pergament mit den geschwungenen Zeichnungen und den sich bewegenden Punkten... Als sie versuchte, zu erkennen was genau er in der Hand hielt, tippte er hastig mit dem Zauberstab darauf und faltete es zusammen.
„Erklär ich dir ein andermal", sagte er beiläufig und lächelte sie dann an.
Die Rumtreiber hatten also eine Art Karte.
Ein Schmunzeln wich ihr aus dem Mund, als sie erkannte, wie genial die Jungs waren. Eigentlich hätte sie dies konfiszieren sollen, doch obwohl sie die Jungs jahrelang dafür gehasst hatte, dass sie ständig irgendwelche Streiche spielten, so konnte sie nun nicht umhin, die Rumtreiber für ihre Originalität zu bewundern.
Doch dies schob sie vorzugsweise in die Schublade 'Dinge, die Lily nie einem erzählen wird'.
Sie erinnerte sich daran, wie nah James ihr an dem Abend im Geheimgang war. Mal wieder. Zu viel. Doch seine Nähe nahm ihr den Atem, erst recht, als sie ihn raunen hörte:
„...du hast nicht mal ansatzweise ein Zehntel all meiner Geheimnisse aufgedeckt..."
Seine Worte hallten im ihrem Kopf wider und Lily durchströmte ein wohliger Schauer durch den Körper.
„Naja", sprach Laura weiter und Lily schreckte von ihren Gedanken hoch. „Mit Steve lief es nicht sonderlich gut... Er war etwas eifersüchtig auf Sirius. Und dann wollte er immer nur das Eine. Weil ich nicht wollte, wurde er irgendwann handgreiflich. Ich hab' mich gewehrt - und er hat mich dann von sich gestoßen wie ein Objekt. Meinte, ich würde doch sonst zu keinem so verklemmt sein..." Lauras Stimme würde brüchig und sie schluckte schwer.
„Steve hat dich angepackt? Ohne dass du es wolltest?!" Lily war fassungslos. Als Laura nickte, lief eine eisige Kälte über Lilys Rücken.
„Wir haben uns an dem Abend getrennt. Später hat Sirius mich gefunden... Ich weiß, Steve war eifersüchtig und hat mich immer wieder gefragt, was ich für Sirius empfinde - natürlich hab' ich immer gesagt, dass ich ihn nicht so sehr mag wie Steve. Aber mir war immer mehr bewusst geworden, wie wichtig mir Sirius war - bis zu dem Moment, an dem ich nach der Trennung von Steve in seine Arme gelaufen bin..." Laura schniefte kurz und wischte sich mit ihrem Ärmel ein paar Tränen von der Wange.
„Er hat mich getröstet. Er war einfach nur für mich da. Und es hat sich so schön und geborgen angefühlt, in seinen Armen zu liegen... Und da... da... ist es einfach passiert..."
Laura schluchzte auf und Lily rückte etwas näher an ihre Freundin, um ihr ihren Arm um die Schulter zu legen.
War es das gleiche Gefühl, daß auch Lily fühlte, wenn sie in James' Armen lag? In der Besenkammer am Quidditchfeld, im Geheimgang, in Hogsmeade? War sie da nicht auch jedesmal so kurz davor, ihn zu küssen, nur weil es sich gut anfühlte?
Unsicher sah sie ihre Freundin an.
„Ich l...liebe ih-hn..", schluchzte Laura und sah Lily an, als wüsste sie genau, was in Lily vorging.
„Es... fühlt sich einfach... ri-ichtig an..."
Ihre braunen Augen durchforsteten das blasse Gesicht ihrer rothaarigen Freundin.
„Hör nicht auf die anderen, Lily." Behutsam strich sie ihr über die Wange, als wäre Lily diejenige, die man trösten müsse - und nicht Laura selbst. „Wenn es sich bei James nicht richtig anfühlt, dann soll es so nicht sein... Und wenn du dich bei einem anderen geborgen fühlst, dann lass es zu. Irgendwann ist die Chance nicht mehr da - und du bereust, es niemals probiert zu haben. Auch wenn es James weh tun wird. Aber wenn er weiß, dass du glücklich bist, kommt er wenigstens leichter darüber hinweg."
In diesem Moment kam in Lily das dringende Bedürfnis hoch, mit ihrer Freundin über James und ihre sonderbaren und ungewohnten Gefühle zu reden.
Doch Laura lächelte nur schwach und stand auf. „Ich muss dann mal zurück zum Gemeinschaftsraum. Die anderen fragen sich bestimmt schon, wo ich bin."
Lily versuchte, sich die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Stattdessen zwinkerte sie ihrer Freundin frech zu und sagte: „Außer sie schauen auf die Karte."
Laura lachte leise. „Stimmt, da war ja was", antwortete sie grinsend und zwinkerte zurück. Dann stand sie auf und verabschiedete sich.
Selbst als Laura längst aus dem Krankenflügel verschwunden war, lag ein Lächeln auf Lilys Lippen. Ihre Augen wanderten zurück zu dem Buch auf ihrem Nachttisch. Ohne dass es Laura bewusst war oder vielleicht gewollt hatte, hatte sie sie mehr davon überzeugt, James eine Chance zu geben, als all ihre Freunde es je geschafft hatten. Vielleicht war es aber auch eine Überzeugung, die schon lange in Lily schlummerte, und die nun von ihrer Freundin unbewusst herausgekitzelt wurde.
Gedankenversunken fuhr sie mit ihren Fingern über die verschlungenen Prägungen des Einbandes, ehe sie das Buch vom Tisch nahm und fest an sich drückte.
Sie dachte an seine Nähe, seinen Atem, seinen Augen. Sie glaubte, seinen Herzschlag zu spüren, wenn er so dicht vor ihr stand. Sie hörte sein Lachen, dass immer quer durch das Schloss hallte, wenn er umher rannte und sich mit seinen Freunden über irgendwelche Albernheiten lustig machte. Sie sah das Strahlen in seinen Augen und das funkelnde Feuerwerk in seiner haselnussbraunen Iris. Mit einem Mal glaubte sie, mit ihren Fingern an seiner Haut entlang fahren zu können und seine Lippen mit den ihren berühren zu können.
Mit klopfendem Herzen starrte sie auf den roten Ledereinband vor sich und hatte das wohl dümmlichste Grinsen auf ihrem Gesicht, dass je einer gesehen hatte.
„James Potter" , sagte sie leise zu sich selbst, „ich hätte nie gedacht, dass du es schaffst, mir den Kopf zu verdrehen..."
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