Der Auror
Sie wusste nicht, wie lange sie da lag, eine Hand fest um die ihres Vaters geklammert, den anderen Arm zitternd um den kalten Körper ihrer Mutter geschlungen.
Ihre letzte Träne klebte noch an der Haut und wie in Trance starrte sie in die Leere. Nein, nein, nein.
Dass sie Menschen mit anderen Ansichten als die ihren folterten, wusste sie. Aber dass sie dabei auch so skrupellos waren, unschuldige Muggle umzubringen, hätte sie nie gedacht. Ihre Eltern haben nie auch nur einer kleinen Fliege etwas zuleide getan...
Wäre sie nur früher hier gewesen. Vielleicht hätte sie sie verteidigen können. Oder mit ihnen flüchten. Oder sich opfern für sie. Vielleicht hätten sie ihre Eltern am Leben gelassen, wenn sie gekriegt hätten, was sie wollten. Vielleicht würden sie jetzt noch hier stehen und atmen und nicht so kalt und leblos hier liegen wie sie es jetzt gerade taten.
Lilys Magen brannte fürchterlich und sie wusste, sie sollte etwas essen. Sie hatte seit dem Abschied von ihren Freundinnen nichts mehr gegessen. Doch sie spürte keinen Appetit - am liebsten würde sie nie wieder etwas essen wollen. Solange nicht, bis ihre Eltern aufwachten und sagten, dass das hier alles nur ein sehr schlechter Scherz sei. Aber sie wachten nicht auf, das wusste Lily. In ihr fing der Magen an, laut zu rumoren und sie zog ihre Beine zu sich hoch. Sie würde ihre Eltern nicht loslassen.
Niemals.
Dass Lily so nicht ewig liegen bleiben konnte, wusste sie. Aber sie konnte nicht aufstehen. Sie konnte ihre Eltern so nicht liegen lassen. Allein und... Tot...
Der Gedanke weckte die Emotionen wieder auf und alles in ihr schüttelte sich. Sie waren... Tot...
Es war wie ein Schlag tief in den Magen. Bis gerade waren ihre Eltern leblos, aber zu realisieren, dass sie wirklich tot sind, war dennoch eine schmerzhafte Erkenntnis.
Ihr war zum Brechen zumute. Nein, dachte sie. Nein, nein, nein.
Vor ihr erschien ein Paar Schuhe. Alt, braun vor Schlamm und klobig. Sie hätte schreien sollen, hätte aufstehen und reflexartig ihren Zauberstab zücken und sich verteidigen sollen. Doch sie blieb regungslos liegen. Ihr Zauberstab lag neben ihr auf dem Boden. Selbst als sich die fremde Person über sie hinüber beugte, um ihren Zauberstab aufzuheben, regte sie sich nicht.
Töte mich doch, dachte sie. Es gibt sowieso keinen Grund mehr für mich zu leben. Die Person lachte. Es war ein tiefes, grölendes, aber dennoch herzliches Lachen. "Keine Sorge Püppchen, ich bin nicht hier, um dir weh zu tun."
Er hob sie mit seinen Armen hoch als wiege sie nur drei Kilo und sie ließ es über sich ergehen. Zu schwach, um sich zu wehren, zu leer, um zu verstehen.
Vor ein paar Stunden hätte man sie nicht von ihren Eltern reißen können, aber jetzt war sie einfach nur noch schlaff.
"Nein, dir haben sie schon genug weh getan."
Wann sie einschlief, wusste sie nicht. Doch als sie aufwachte, sah sie sich in einem Himmelbett wieder. Der Baldachin war feuerrot und der Stoff sah schwer aus. Das alte, dunkle Holz der Bettpfosten hatte schon einige Risse und die Wände waren leicht gelblich und schmutzig. Vage erinnerte sie sich, was sie gestern sah. Der Anblick der Leichen ihrer Eltern auf dem Boden, ließ sie erstarren und sie merkte, wie ihr eine heiße Träne die Wange herunter kroch. Sie wollte sie nicht wegwischen. Es wäre, als würde sie ihren Eltern ein Stück Würde verwehren.
Jemand trug sie gestern aus dem Haus und das letzte was sie sah, waren lodernde Flammen, die drohten, das Haus zu verschlingen. Dass hier jemand wildfremdes im Straßeneck war und ein zitterndes Mädchen im Arm trug, schien keiner zu bemerken, als alle Nachbarn zu dem Haus stürmten, in der Hoffnung, die Evans noch retten zu können. Aber Lily wusste es – und der Fremde wusste es –, dass für ihre Eltern jegliche Hilfe schon längst zu spät kam.
"Ah, du bist wach. Sehr gut." erschrocken drehte sie sich Richtung Tür und sah einem vernarbten Mann direkt in die Augen. "starr nicht so, Mädchen.", blaffte er genervt. "Noch nie 'nen Auror gesehen?"
Mit großen Augen starrte sie ihn an und schüttelte fast unmerklich den Kopf. Sie fühlte sich wie ein dummes, kleines Kind.
"Also schön." Er holte tief und unüberhörbar Luft. "Komm, du musst was essen." "Ich brauche nichts, ich habe keinen Hunger", krächzte Lily, doch ihr Magen sprach wohl eine andere Sprache. Der Mann starrte sie so genervt an, dass sie seufzend aus dem Bett stieg.
Stirnrunzelnd stellte sie fest, dass sie wohl in ihrer Kleidung vom Vortag geschlafen hatte. Dann suchte sie mit den Augen sich, das Zimmer und den Mann ab. "Wo ist mein Zauberstab?", fragte sie tonlos. "Komm runter, essen, dann kriegst' ihn." Mürrisch drehte er sich um und verschwand. Wie erschlagen stand sie da. Wer war er? Und wo hat er sie hingebracht?
Nach einigen Minuten raffte sie sich zusammen und schlich durch den hölzernen Korridor entlang. Am Ende der verstaubte Holztreppe erkannte sie die alten Möbel des Tropfenden Kessels wieder. Da hatte er sie also hingebracht.
Der Auror saß bereits weiter hinten im Eck und starrte finster auf das Feuer im Kamin.
Als er sie kommen sah, nickte er auf den Platz ihm gegenüber.
Vorsichtig setzte sie sich auf die Bank. Ihr Zauberstab lag dem Tisch und hastig packte sie diesen in ihre Kleidtasche, bevor er es sich anders überlegte. Den Blick ließ sie dabei nicht von dem sonderbaren Mann ab. Er war vielleicht so alt wie ihr Vater – vielleicht auch jünger – durch die Narben im Gesicht war es für Lily schwer, das Alter zu schätzen. Ihr Blick war noch immer auf den Mann geheftet, als der Wirt ihr einen Teller und ein Glas mit Kürbissaft hinstellte.
„Alistor Moody“, grunzte er und warf ihr einen Löffel zu. „Eigentlich nicht zuständig dafür, Seelsorger zu sein, also spar dir deine Tränen für später auf. Und jetzt iss.“
Verwirrt über seine Art schnappte sich Lily den Löffel, den Blick jedoch weiterhin auf den Mann geheftet. „Woher –“ „Campbell“, knurrte er. „Ein alter Bekannter. Als die Kleine merkte, dass von dir keine Eule kam, hat die Familie das Ministerium alarmiert.“ Kate, dachte Lily und in ihrem trostlosen Körper schlich eine Wärme von Dankbarkeit empor.
Der Wirt stellte einen großen Krug vor Moody, welcher sich diesen gleich schnappte, um einen großen Schluck zu trinken. Als er den Krug abstellte, fuhr er fort. „War dem alten Herrn noch ‘was schuldig, weil er mir ‘mal aus der Patsche half.“ Neugierig legte Lily den Kopf schief und er beäugte sie. „Hätte fast den rechten Arm verloren – er hat mir das Ganze mit so ‘nem komischen Grünzeug belegt und was soll ich sagen – der Arm ist wieder drangewachsen.“
Dann lehnte er sich zurück. „Wir lassen es aussehen als wäre es ein klassischer Hausbrand.“ Irritiert schaute sie ihn an und er nickte zur Tür. „Deine Eltern. Ist reine Routine. Wird keinem der Muggel auffallen.“
Plötzlich brodelte in ihr eine Wut, die sie zuvor noch nie kannte. Routine, sagte er. Als wäre es ganz normal, seine Eltern zu verlieren. „Routine?! !“, rief sie empört.
„Oh sie mal an, das Mädchen hat ihre Stimme wieder gefunden!“ Er lachte. Er lachte!
„Sie reden über meine Eltern als wären sie kleine Käfer. Als würden hier Eltern nachwachsen wie die Schwänze von Flubberwürmern! Hier hilft zufälligerweise kein Grünzeug mehr!“ Kochend vor Wut stand sie auf und funkelte ihn an. Die Hitze stieg ihr bis in die Haarspitzen. „Ich werde meine Eltern nie wieder sehen! Sie sind tot!“ „Bei Merlin, Mädel!“ Genervt knallte er seinen Krug so fest auf den Tisch, dass das gesamte Geschirr klirrte und Lilys Suppe über den Teller schwappte. Erschrocken zuckte sie zusammen. „Ja, deine Eltern sind tot. Tot, wie viele andere Eltern und Freunde und Feinde! Willkommen im Krieg, Würmchen!“ Er beugte sich ein Stück zu ihr und klang fast bedrohlich. „Deine Eltern kannst du dir jetzt auf die Haut ritzen – und glaube mir, du wirst noch viele deiner Familie und Freunde hinzufügen können. Aber keiner wird dich trösten können, denn es geht aktuell allen so. Und verdammt nochmal, wer weiß wie lange wir das hier durchhalten müssen! Sobald der Krieg vorbei ist, hast du noch genug Zeit zu trauern!“ Kopfschütteln lehnte er sich zurück und grummelte etwas wie „Teenager… Seelsorger… besseres zu tun…“
„Sie sind so herzlos“, knurrte Lily und stand auf. „Und du ziemlich undankbar!“, rief er ihr hinterher, als sie wütend die Treppen hochstampfte.
Im Zimmer bereute sie ihren Abgang, denn der Magen knurrte wie verrückt. Doch sie rührte sich nicht. Soll sie doch verhungern! Viel lieber, als noch mehr Zeit mit diesem Unmensch zu verbringen! Wie kalt der Mann über ihre Eltern sprach!
Sie lehnte sich erschöpft an die Tür und versuchte, sich klare Gedanken zu schaffen. Sie war so wütend geworden, dass sie ihm am liebsten einen Fluch an den Hals gehetzt hätte. Nur die Vernunft hatte sie gerade so noch zurück gehalten.
Sich mit einem ausgebildeten Narbengesicht von Auror legte man sich lieber nicht gerade an..
Es vergingen einige Tage. Entweder suchte sie auf die vergilbte Wand ihr gegenüber Trost oder sie starrte den Auror wütend an, während sie schweigend am hinteren Tisch saßen und sie sich mehr aus Zweck als aus Appetit das Essen in sich hineinschaufelte.
„Du solltest dich mal umziehen“, sagte er irgendwann mit gerümpfter Nase, als sie sich wieder schweigend beim Essen gegenüber saßen. „Und dich mal waschen. Du riechst schlimmer als ein Troll im Hochsommer.“ Grimmig starrte Lily ihn an. Unverschämter Mann, dachte sie. Und so etwas war Auror.
„Ja, ich muss dich enttäuschen“, sagte er und schaute ihr fest ins Gesicht, als hätte er ihre Gedanken gelesen. „Als Auror kann man kein Engel sein. Und solltest du es jemals werden wollen, solltest du darauf achten, dass man dir nicht alle Gedanken vom Gesicht ablesen kann.“
Lily rollte mit den Augen, doch er ignorierte es. „Zieh dir am besten etwas Schwarzes an. Heute ist die Beerdigung der Brandopfer.“ Das letzte Worte sprach er langsam aus und beobachtete, wie sie erstarrte und schwer schluckte. Brandopfer, dachte sie bitter, schwieg jedoch dazu.
Als sie dunkel gekleidet neben ihm stand, hob er ihren Arm entgegen. Lily ahnte was nun kam, sog tief Luft ein und kniff die Augen zusammen als sie sich fest an den Arm des Aurors krallte.
Augenblicklich spürte Lily einen Sog, als würde sie durch einen viel zu engen Schlauch gezogen. Sie hasste es, zu apparieren, auch wenn es ihr im Apparierkurs recht gut gelang und sie die Prüfung im April mit Bravour bestand. Diese Gefühl, als würden einem die Eingeweide zusammengezogen werden, ist für Lily unsäglich unangenehm und sie hätte es vermieden, wäre nicht dieser ruppige Auror, der ihr keine andere Wahl ließ.
Moody lehnte lässig an einem Baum und beobachtete die kleine Trauergemeinde von weitem. Doch Lily spürte, wie sein Blick sie selbst von der Ferne zu durchbohren drohte. Viel schlimmer jedoch als sein Raubkatzen-Blick war der von Petunia. Mit der Trauer in ihren Augen flackerte ein wenig der Hass mit.
Lily versuchte sich nichts anmerken zu lassen und starrte schweigend auf die zwei Särge vor ihr. Zitternd stand sie da, während die wenigen Trauergäste ihr und Petunia ihren größten Beileid aussprachen. Mit jedem Gast schluckte sie schwerer und als die Särge schließlich in der Erde versanken, drehte sie sich zu ihrer Schwester, in der Hoffnung, etwas Trost zu finden. Doch diese drückte nur kurz ihre Hände und drehte sich weg. „Tunia…“ Flehend sah Lily sie an.
Doch Petunia blickte sie nur ganz kurz mit funkelnden Augen an. Du und deine Freaks, ihr habt sie umgebracht, schienen sie zu sagen. Aber Petunia schnaubte nur ein „Wir haben uns hier nichts mehr zu sagen“ und ließ sie stehen. Sie lief hinter den Trauergästen her und drehte sich nicht ein einziges Mal um, um ihrer Schwester Lily wenigstens ein letztes Mal in die Augen zu sehen.
Das war es wohl, dachte Lily verbittert. Ab jetzt kämpfst du wohl alleine. Ohne Familie, stützende Anker, ohne Liebe...
Es war wie eine letzte rettende Boje im weiten Ozean, die aussichtslos im Wasser versank.
Sie stand noch eine Weile vor dem Grab und starrte auf die Erde, als könne diese sich jeden Moment bewegen und ihre Eltern wieder hervor holen. Irgendwann atmete sie tief durch und flüsterte „es tut mir so leid“, ehe auch sie sich umdrehte und schweigend zu Moody schlurfte.
Als sie zurück im Tropfenden Kessel ankamen, war das erste, das Lily wahrnahm, eine explosionsartige Umarmung und blondes, langes Haar, das sie zu ersticken drohte.
„Lily, endlich!“, rief Kate und schaute sie besorgt an. „Gott sei Dank bist du wohlauf!“
„Mir geht es gut“, antwortete Lily. Sie vergrub sich in die Arme ihrer Freundin.
Es war erste wirklich tröstliche Geste, die sie seit Tagen verspürte.
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