Beschissen
Im Büro des Schulleiters war es düster, obwohl alle Kerzen erleuchtet waren. Doch die Art, wie Dumbledore in seinem Stuhl saß, nahm jedem Lichtschimmer in diesem Glanz. Wie ein Häufchen Elend lehnte er sich an seine Stuhllehne.
Kaum hatten die Schulsprecher hinter Professor McGonagall das Büro betreten, ahnte Lily bereits, dass es etwas durchaus schlimmeres war als bloß eine Amtsentnahme, nur weil sich die zwei Schulsprecher kurz in den Haaren hatten.
Als der Schulleiter die Schulsprecher bemerkte, schaute er auf und wies mit der Hand zu den Stühlen vor sich. „Bitte“, sagte er zu Lily und Potter. „Setzen Sie sich. Sie werden es brauchen.“
Er schien sich sammeln zu müssen, als er aufstand und zu einem seltsamen Schrank voller Phiolen tigerte. Die Phiolen waren gefüllt mit silbrig-blaue Flüssigkeiten, die im Schimmer des dämmrigen Lichts leicht glänzten. Erst als er mit seinem Zauberstab an seine Stirn tippte, und einen ähnlich farbigen Faden wie aus seinem Kopf zu ziehen schien, verstand Lily, dass er sich hier wohl Erinnerungen aufbewahrte. Sie hatte schon einmal von diesem Zauber gehört, aber noch nie, wie jemand diesen ausführte.
Fasziniert sah sie Professor Dumbledore dabei zu, wie er den flüssigen Faden in eine leere Phiole fließen ließ und diese zu den anderen in den Schrank stellte. Dann drehte er sich um und sah erst Professor McGonagall und anschließend die zwei Schulsprecher mit einer eindringlichen Miene an. Sein Blick blieb kurz über Lilys Augen hängen, doch als ihn Professor McGonagall besorgt ansprach, drehte er sich zur Professorin.
„Es ist wohl doch nicht wegen den McCalls, Albus?“, fragte McGonagall.
Lilys Blick schnellte zu Potter, doch dieser schien ebenso wenig zu wissen wie sie selbst.
„McCalls, Sir?“, fragte Lily und Dumbledore bewegte sich schwermütig zurück zum Pult.
„Es passiert gelegentlich, dass sich Eltern dazu entscheiden, ihre Kinder lieber zuhause zu unterrichten, da sie sie dann um sich herum wissen“, begann er.
Hiervon hatte Lily bereits ein paarmal gehört. In diesen Zeiten war es das schlimmste, von jemanden getrennt zu sein und nicht zu wissen, wie es den Liebsten gerade geht und ob diese noch am Leben sind. Doch das allein konnte nicht der Grund sein, weshalb Dumbledore so außer Fassung war. Gespannt schauten ihn die Schulsprecher an, während der Schulleiter nach einem tiefen Atemzug fortfuhr.
„In der Regel sagen die Eltern Bescheid. Doch in diesem Fall erreichte uns keine Eule und keinerlei anderweitige Nachricht, dass das junge Mädchen nicht mehr kommen soll. Nicht eine Nachricht der Familie und ich warte seit Beginn des Schuljahres.
Nun, seit Monaten verschwinden hin und wieder auch Personen auf sonderbarer Art und Weise, weshalb ich mich dazu verpflichtet fühlte, dem nachzugehen.“
Unruhig stand er wieder auf und tigerte einmal im Kreis, bevor er wieder zurück zu seinem Pult ging.
„Seit heute Abend haben wir nun die Gewissheit von einem Verwandten, dass die Familie nicht freiwillig von sich hören lässt. Sie haben den Vater in der Nähe von Southerdown aus dem Wasser gezogen… Der Rest der Familie gilt noch als vermisst.“
Mit diesen Worten warf er sich erschöpft auf seinen Stuhl.
Professor McGonagall krallte sich am Pult fest, um sich einigermaßen fangen zu können. Ihr Gesicht war bleicher als ein Bettlaken.
Geschockt knetete Lily ihre Hände, um das Zittern zu bändigen, das sie durchfuhr.
Nach einigen schweigsamen Minuten durchbrach sie die Stille. „Sie glauben nicht, dass es ein Schiffsunglück bei einem Urlaub war.“ Es war vielmehr eine Feststellung und Dumbledores Blick bestätigte ihre Vermutung.
Mit gerunzelter Stirn sah er sie an und nickte.
„Ich möchte, dass Sie dies erstmal für sich bewahren, bis ich es morgen an die Schüler getragen habe.“
Dann richtete er sich schlagartig auf und starrte Professor McGonagall ernst an. „Es muss ein Ende haben, Minerva“, knurrte er und Lily erschrak über die ungewohnt kämpferische Entschlossenheit ihres Schulleiters.
„Albus…“, sprach McGonagall dazwischen, doch Dumbledore winkte sie ab und sprach weiter.
„Ich habe viel zu lange nur dagesessen und gehofft, dass es nicht schlimmer wird. Wir müssen etwas unternehmen. Ich werde sehen, dass wir Unterstützung bekommen.“
„Miss Evans, Mr. Potter…“ (Lily und Potter richteten sich kerzengerade in ihren Stühlen auf.) „Sie als Schulsprecher bitte ich, bei keinem ein Wort darüber zu verlieren. Wir dürfen nichts riskieren. In Zeiten wie diesen kann der Feind immer unter uns weilen...”
Schweigend kamen die Schulsprecher im Gemeinschaftsraum an.
Den ganzen Weg zurück haben sie kein Wort miteinander getauscht. Jeder war in seinen eigenen Gedanken.
Lily dachte über das Mädchen nach. Sie war schockiert darüber, dass der Horror direkt vor der Nase war und sie fürchtete sich. Nicht vor dem Tod, sondern vor der Ungewissheit, was mit Petunia geschieht, wie es ihr geht, ob sie in Sicherheit ist. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als das letzte Stück Familie, das ihr noch blieb, in Sicherheit zu wissen. Auch wenn sich Tunia offensichtlich von ihr abgewandt hatte.
Zudem gingen ihr Dumbledores Worte nicht aus dem Kopf. „Wir müssen etwas unternehmen... Sie als Schulsprecher bitte ich, bei keinem ein Wort darüber zu verlieren.”
Was auch immer Dumbledore vorhatte - sie vertraute ihm. Und er durfte ihr vertrauen: Sie würde nichts sagen.
Auch seine letzten Worte hingen in ihren Gedanken und krallten sich mit jeder Kraft in ihren Kopf: „In Zeiten wie diesen kann der Feind immer unter uns weilen...”
Potter hingegen dachte über… Naja. Sie spürte hin und wieder seine Blicke auf sie ruhen, doch sie ignorierte es. Sie würde sicherlich nicht mit ihm über Tunia reden. Erst recht würde sie ihm nie ihre Gefühle und Gedanken anvertrauen. Ihre Ängste hatten ihn nicht zu interessieren.
Vor den Türen zu den Schlafsälen blieben sie stehen.
Es war erdrückend still zwischen den beiden.
„Na dann… Gute Nacht“, krächzte sie irgendwann und schaute dabei auf seine Schuhe. Sie konnte – wollte ihm einfach nicht in die Augen sehen. Sonst würde er bestimmt merken, was sie dachte und wie schwach sie war. Ihre Augen brannten und sie konnte gerade noch sehen, was vor ihr war – hatten die Tränen in ihren Augen doch die Sicht verschwommen. Eine Träne davon sammelte sich zu einem großen Tropfen, der ungebändigt zu Boden platschte.
„Gute Nacht, Lily“, flüsterte er. Doch bevor sie sich umdrehen konnte, nahm er ihre Hand und drückte sie einmal fest.
Ihr Blick wanderte vom Boden zu seiner Hand, die ihre fest hielt und sich in diesem Moment wie ein kleiner Anker anfühlte. Sie durfte mit keinem darüber reden – außer mit ihm. Ein kleines Geheimnis unter... Ja, was denn? Feinden? Schulsprechern? Freunden?
Sie wollte am liebsten einfach alles in ihrem Kopf loslassen, doch sie wusste nicht, wie sie anfangen sollte. Wirklich viele tiefsinnige Unterhaltungen hatte sie noch nie mit ihm geführt, da sie bisher immer versuchte, ihm aus dem Weg zu gehen, wenn sie nicht zwingend etwas mit ihm zu tun haben musste.
Bisher war sie aber auch immer davon ausgegangen, dass er sich über sie lustig machte, wenn er um ein Date fragte. Bisher war sie davon ausgegangen, dass er ein selbstsüchtiges Schwein war, das sich immer auf Kosten anderer Scherze erlaubt hatte.
Doch in diesem Moment, in dem er ihre Hand hielt, fühlte es sich an, als wäre er ein Mensch, den man als guten Freund haben musste. Vielleicht konnte sie sich ihm doch über ihre Ängste anvertrauen?
Ohne zu ihm hoch zu sehen, verzog sie ihre Mundwinkel zu einem Lächeln. Ein kläglicher Versuch, dem man mit Sicherheit seine Falschheit ansah. Doch es war das ehrlichste Lächeln, zu dem sie in dieser Situation imstande war.
Sie drückte kurz zurück, bevor sie seine Hand losließ und sich umdrehte. Leise tapste sie die Treppen hoch, um in eine unruhige Nacht zu gleiten.
Am nächsten Tag betrachteten ihre Freunde sie besorgt. Während Black taktlos mit den wildesten Theorien versuchte auszumalen, was Lily und Potter wohl getrieben hatten, nahm Kate Lilys Hände und sah sie ernst an.
„Er hat euch doch wohl deswegen nicht eures Amtes entzogen?“, fragte sie vorsichtig.
Lily schüttelte kaum merklich den Kopf.
„Kommt schon, irgendwas muss er euch doch gesagt oder getan haben…“, versuchte Liz weiternachzuhaken, doch Lily und Potter schwiegen nur.
Ab und zu spürte sie wie Potter zu ihr schielte.
Als sie aus der Halle gingen, zog er sie zur Seite.
„Hey“, flüsterte er. „Es ist hart, aber verlier dich darin nicht. Versuch stark zu bleiben.
Sieh mich an.“ Seine Hand unter ihrem Kinn zwang sie, zu ihm hochzuschauen. „Bitte lass dich nicht hängen. Dir passiert nichts. Du bist in Sicherheit.“ Erstaunt blickte sie ihn an.
Hatte er ihre Gedanken gelesen?
„Lily, es ist offensichtlich, dass du dir Sorgen um dich und deine Eltern machst...“
„Sie sind tot.“
Zum ersten Mal seit Wochen sprach sie diese Worte wieder aus. Und sie hatte das Gefühl, dass es ihr plötzlich nicht mehr so weh tat, wie zu dem Zeitpunkt, an dem sie es zu realisieren hat.
„Es… tut mir leid…“, stammelte Potter. „das… wusste ich nicht, ehrlich!“
„Alles gut“, flüsterte sie. „ich habe es auch kaum jemanden erzählt..“
Verlegen starrte er kurz auf seine Schuhe, mit denen er auf den Boden starrte, als würde er eine Zigarette ausdrücken, und kniff seine Lippen zusammen. Dann wanderten seine Haselnuss-Augen langsam wieder hoch und blieben an ihren Augen hängen.
„Wenn du jemanden brauchst… ich weiß, ich bin sicherlich dein letzter Ansprechpartner.. Aber du darfst dich gerne an mich wenden. Wirklich!“
Dankbar lächelte sie ihn an – und war zugleich so erstaunt, dass sich Potter in solchen Gesprächen deutlich besser anstellte als sein zotteliger Freund namens Black.
„Danke“, sagte sie. „Danke, Pot... James.“
Er lächelte überrascht und ohne Vorwarnung zog er sie fest in seine Arme.
Sie hätte es nie zugegeben, aber sein Geruch und die Wärme, die er ausstrahlte, beruhigte sie. Es tat gut, jemanden im Arm zu spüren, wenn man mit keinem über die Dinge sprechen konnte, die einem durch den Kopf gingen.
Dennoch räusperte sie sich und zwang sich, ihn freundlich von ihm wegzudrücken. „Nun, ich denke… so eng sind wir noch nicht miteinander befreundet“, krächzte sie und zwang sich zu einem frechen Grinsen.
Nervös fuhr er sich mit seiner Hand durch seine zerzausten Haare und grinste verlegen zurück. „Jaah, ähm… Tut mir leid“, antwortete er. „Ist wohl irgendwie in mir durchgebrannt..“
Sie grinste. So verloren wie er da stand, fand sie es fast schon süß...
„Was?“, fragte er und sie erstarrte. „Hab ich etwa gerade..?“, begann sie, doch sein Grinsen sprach Bände.
„Los kommt ihr Turteltauben! Ihr könnt im Gemeinschaftsraum weitermachen!“, ermahnte Liz sie schmunzelnd.
Ihre Freunde standen alle vor der Treppe und grinsten ihr typisches „ihr-zwei-kommt-eh-mal-zusammen“-Grinsen, das Lily gekonnt ignorierte. Die Tatsache, dass dieser Fall niemals eintreffen würde, schienen ihre Freunde noch immer zu ignorieren, weshalb sie es mittlerweile schon aufgab, nicht mehr dagegen zu diskutieren.
Was sich jedoch mit größtem Augenrollen nicht ignorieren ließ, waren Potters raunende Worte zu Black: „Sie hat mich gerade süß genannt!“
Dumbledore verkündete die Nachricht nach dem Abendessen, als alle Schüler noch versammelt in der großen Halle saßen.
Viele wirkten bedrückt, doch bei den meisten Schülern, die sie nicht kannten, kehrte schon am nächsten Morgen der Alltag wieder zurück. Es war keine Seltenheit in dieser Zeit, dass Familien oder einzelne Personen verschwanden – und so absurd es auch klingen mag, war es doch für die meisten einfach nur noch eine Nachricht, wie im Fernsehapparat bei Lilys Eltern, wenn über den Ogadenkrieg berichtet wurde. Es betraf einen, aber da man das Opfer nicht näher kannte und solche Nachrichten nicht selten waren, betraf es einen irgendwie dann doch nicht.
Entrüstet über diese Einstellung ihrer Mitschüler, zog es Lily am nächsten Tag vor, sich nach dem Unterricht an ihren Lieblingsplatz im Innenhof zurück zu ziehen und sich ihre Gedanken in einem Notizbuch aufzuschreiben.
Sie schrieb über ihre Eltern, Petunia, die Angst, sie auch noch zu verlieren (insoweit man einen Menschen noch verlieren konnte, der sich von einem abwendet) und über…
Die letzten zwei Worte überkritzelte sie so heftig, dass nur noch ein triefend schwarzer Fleck auf der Seite war. Der Fleck war so nass, dass Lily ihren Zauberstab zückte und darauf tippte. Der Fleck verblasste – wie auch die zwei Wörter, die sie gedankenverloren dahin schrieb. Es war ein Name, der ihr mit einem Mal durch den Kopf ging.
Den Gedanken an Potter, wie er sie gestern Abend beobachtete – wie er sie immer beobachtete – konnte sie nicht beiseiteschieben. Und seine Umarmung war so warm, dass sie kurzzeitig das Gefühl hatte, sich fallen lassen zu können. Es fühlte sich ähnlich gut an, wie in der Besenkammer am Quidditchfeld.
Und genau das war es, was Lily verdrängen wollte. Es konnte sich nicht gut anfühlen. Es durfte sich nicht gut anfühlen! Potter war kein guter Umgang!
Und sie wusste nicht, ob sie seinen Worten vertrauen konnte, dass er sie wirklich mochte und sie nicht als Opfer ansah, über das Black und er sich mit beschissenen Date-Fragen lustig machten.
Beschissen.
Das war ein passendes Wort. In fetten Druckbuchstaben kritzelte sie dieses Wort auf die Stelle, an der gerade noch der Fleck war.
Gerade, als sie das Buch schließen wollte, landete mitten auf dem Beschissen ein kleiner Papiervogel, der sich qualmend schüttelte und auf der Seite ein paar Ascheflocken hinterließ. Verwundert legte sie ihre Feder neben sich auf den Boden und nahm den Papierflieger in die Hand. Beim Auseinanderfalten löste sich noch etwas Aschestaub vom Papier, was Lily vorsichtig wegpustete. Verwundert las sie die krakelig geschriebenen Worte vom Zettel.
A. M. Wer war A. M.? Und wie sollte sie bitte – bei Merlins Schultüte – am Samstag unentdeckt in den Eberkopf kommen? Würde man sie erwischen, wie sie sich außerhalb der Hogsmeade-Wochenenden vom Schulgelände schleichen würde, würde sie hochkant von der Schule fliegen. Und sie wüsste dann nicht, wohin mit sich – ohne Zuhause und mit einer Schwester, die sie nicht bei sich haben wollte.
Sollte sie das wirklich riskieren? Für einen Fremden?
Was, wenn er ihr etwas antun wollte?
Mit einem mulmigen Gefühl schob Lily den Zettel in ihr Notizbuch und starrte auf den Hof.
Was wollte er von ihr?
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