~Misuislada~
Aristeas sah sich um. Ein fremdes Gefühl begleitete ihn schon seit seinem Aufbruch bei den Zwergen. Es war ein Gefühl, das ihm nahes Unheil versprach. Und nun schien es, als wolle sich dieses Unheil erfüllen. Unnatürlich dunkel war es in dieser Nacht. Der Zauberer konnte kaum einen Meter weit sehen, Nebelschwaden hingen schwer auf den Straßen. Unnatürlich verlassen lag Misuislada dar. Früher hatten Zauberer die Straße gesäumt, schon von weitem hatte man das Lachen gehört, das stets erschallte, wenn einem jungen Knabe ein Zauber missglückt war. Unnatürlich laut hallten die Hufe seiner Stute über das Pflaster der Zaubererstadt. Oder war es nur zu still? War es zu dunkel, weil es Nacht war? Wurde er selbst alt, und bemerkte die anderen Zauberer nur nicht? Aristeas zog die Brauen zusammen. Es konnte schon sein, dass er alt war, aber er hatte Misuislada nicht vergessen! Nicht seine Heimat!
Der Zauberer beugte sich tief über den Hals seines Rosses. Fast schon hätte er erwartet, dass in wenigen Augenblicken ein Pfeil an ihm vorbei sirren würde und auf diesen noch weitere. Aber es blieb alles ruhig. Mit schwerem Herzen dachte Aristeas an das einstige Misuislada zurück. Es war stets eine belebte Stadt gewesen. Morgens hatte man dem Rascheln der nachtaktiven Tiere lauschen können, bis die ersten Türen der großen Steinhäuser geöffnet, Zauberer und Magierinnen herausgetreten waren und dem Tag einen anständigen Anfang schenkten. Frauen mit glockenhellen Stimmen hatten gesungen, während sie ihre Stände auf den gepflasterten Straßen aufbauten. Es hatte immer gut nach frischem Fleisch, Brot und Gemüse geduftet. Die jungen Zauberer waren in die Schulen gegangen, die Männer hatten sich im hohen Rat getroffen und jeden Tag etwas zu besprechen gehabt.
Dann waren abends schwarze Laternen entzündet worden und ab und zu hatte man eine Gestalt mit einer Kapuze oder einem Hut auf dem Kopf in den leblosen Straßen gesehen. Aristeas hatte oft auf einer der zahlreichen Bänke gesessen und an seiner Pfeife gezogen. Und dann war sein bester Freund zu ihm gekommen; Mosemsis. Er war jener Zauberer, der die goldene Tunika trug, das, was ihn als den Höchsten der Zauberer auszeichnete. Mosemsis hatte immer einen guten Rat gehabt, den kühlen Kopf bei hitzigen Diskussionen. Er hatte starke Macht, stets den richtigen Riecher und man konnte immer auf ihn zählen.
Viel zu lange hatte Aristeas ihn nicht mehr gesehen! Der Druide schalte sich stumm, als er vor dem großen Gebäude in der Mitte der kleinen Stadt stand. Ein riesiger Turm ragte wie ein Pfeil aus dem Boden und schien den Himmel küssen zu wollen. Das helle Weiß des Turms war wegen der vielen Jahre verwittert und grau geworden. Es gab einen bestimmten Grund, weshalb die Zauberer einen Turm und nicht ein einfaches Gebäude errichtet hatten: Wenn die Lehrlinge alt genug waren, dann mussten sie von ganz oben auf dem Turm hinab springen. Nur, wenn sie ihre Fähigkeiten nutzen konnten, landeten sie federweich auf den Beinen. Wenn sie die Magie aber nicht beherrschten, so fanden sie den Tod. Aristeas klopfte seiner Stute den Hals, stieg von ihr ab und öffnete eines der riesigen Tore.
Leise quietschend öffnete sich der Flügel und fiel knarrend wieder ins Schloss. Eine einzige Fackel erhellte den dunklen Saal, in dem sich Aristeas befand. Schwarz glänzte der Boden und das Wachs vieler Fackeln sah auf ihm aus wie Tränen. Keine Bilder, keine Nischen mit Schmuck zierten die Wände, der Raum war völlig trostlos. Dieser Turm hatte sich verändert. Wehmütig dachte Aristeas an den einst hellen, strahlenden Saal mit den goldenen Verzierungen und jenem Wasserbecken, dessen Inhalt aus der Quelle der Weisheit stammte. Jetzt war die einzige Sache, der Aristeas Aufmerksamkeit schenkte, eine schwarze Treppe, die sich wie ein Schlange weiter nach oben wandte. Ein leises, selbstgefälliges Lachen ertönte. „Aristeas, es tut gut, dich wieder zu sehen", ertönte ein nur allzu vertraute Stimme. Aristeas hob instinktiv seinen Stab und ging in die Knie. Eine goldene Gestalt kam die schwarze Treppe herab. Mosemsis.
„Na, du willst deinen alten Freund doch nicht etwa umbringen, nicht wahr, Aristeas?", fragte der alte Zauberer. Aristeas atmete tief aus und umarmte Mosemis. „Dich schickt der Himmel", sagte er, trat einen Schritt zurück und musterte seinen alten Freund mit feuchten Augen. Zu lange hatten sie sich nicht gesehen, zu lange nicht mehr miteinander geredet. Mosemsis' Gesicht war schmal, seine grauen Augen starr. Früher hatte Aristeas in ihnen lesen können wie in einem Buch, jetzt starrten sie ihn emotionslos an. Das Haar seines alten Freundes war nach hinten gekämmt und sein schwarzer Bart war zu einem Stachel geformt. Die strengen, tiefschwarzen Augenbrauen waren zusammengezogen.
„Du hast dich sehr verändert, mein alter Freund", stellte Aristeas fest. Er wusste nicht, ob er diese Veränderung positiv oder negativ sehen sollte. „Da kann ich dir nur zustimmen, alter Bursche", entgegnete Mosemsis tonlos. „Was ist mit dir?", fragte Aristeas misstrauisch, als Stille zwischen ihnen herrschte. Gleichzeitig trat er einen Schritt zurück und packte seinen Zaubererstock fester. „Was ist mit Misuislada geschehen? Was ist...?", brachte der Zauberer hervor und verstummte. Mosemsis antwortete nicht direkt, sondern wandte sich ab und ging zu der Treppe, wo sein Zauberstab lehnte. Er fuhr mit seinen schmalen Fingern über das weiße Holz, dann packte er es und erwiderte: „Es schadet nicht, auch einmal auf Seite der Gewinner zu stehen." Mit diesen Worten drehte er sich ruckartig um und hob seinen Zauberstab.
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