~Der Pfand~
Schon am Abend mussten die Gefährten weiterziehen. Vazyllanne hatte Aristeas zuvor noch einmal zu sich rufen lassen, dann führte Nincoril die Gefährten zurück zu dem Fluss. Zwei Boote schaukelten in dem brausenden Gewässer. „In dem Boot gibt es eine eingebaute Kiste. Dort findet ihr Essen und Trinken", zum ersten Mal erblickte Asran Emotionen in den Zügen Nincorils. Der Blaue wirkte erleichtert. „Ihr werdet es schaffen! Noch ist das Amulett sicher, doch sobald es auftaucht, werdet ihr die Schlacht gewinnen, in der alles entschieden wird." Nincoril packte Asran am Unterarm. Dann nickte er, drehte sich um und lief wieder zurück zu seinem Heimatwald.
„Wohin werden wir ziehen?", fragte Asran, obwohl er die Antwort schon kannte. Sie würden ganz Mittelland durchreisen, um Heere für den Krieg zu gewinnen. Aber warum? Reichte es denn nicht, allein gegen den dunklen Herrscher zu kämpfen? Asran und er könnten ein Duell ausführen. War es gerechtfertigt, dass Asran durch das Amulett tausende von Menschen, Elfen und Zwergen aus deren Familien reißen musste? Viele von ihnen würden Kinder haben, und eine Frau, die darauf wartete, dass ihr Mann wiederkehrte. Nichts durfte stärker sein als der Zusammenhalt einer Familie. Asran wollte nicht, dass es anderen Männern genauso ergehen würde wie ihm selbst. Wochenlang hatte er nur an Lasyn denken können, hatte sich selbst und das Amulett verflucht. Doch er hatte eine Aufgabe. Die Elfen, Zwerge und Menschen dort draußen nicht. Sie mussten nur ihr Leben lassen, obwohl es letztendlich nur auf ihn ankommen würde.
Durgrim war es, der ihn wieder zurückholte. Der Zwerg sah zu ihm auf und sagte stolz: „Wir werden zu den Meinen gehen! Dort wirst du sehen, was eine richtige Rüstung ist!" Begeistert grinste der Zwerg. „In den Höhlen von Taugrum wartet ein Heer ohne Anführer. Wir hatten schon früher zu ihnen reisen wollen. Sicher erinnerst du dich an den Morsweg. Das war die geplante Abkürzung", sagte Aristeas. „Noch mehr Zwerge?", fragte Thorwin, der schon ein Paddel in der Hand hatte. „Mir reicht schon dieser eine hier. Mann, was ist das für ein Boot? Das ist ja noch schlechter als das im Abflusskanal!" „Das ist Elfenbau, mein lieber Freund. Fühl nur, das Holz ist geschmeidig ausgearbeitet und doch stabil", erwiderte Athavar. Asran grinste ihn an. Er war froh, dass Athavar damals von Aristeas zurück ins Leben geholt worden war. Der Elf wusste nicht, wo er sonst den Halt bekam, den er so dringend brauchte.
„Das heißt, wir sollen mit noch mehr kleinen bärtigen Männlein reisen? Bei dieser Entscheidung schließe ich mich ausnahmsweise Thorwin an: Diese Reise können wir wirklich auch ohne Zwerge bewältigen!", mischte sich überraschend Aznael ein. Thorwin nickte und murmelte etwas Zustimmendes. Zwischen Aristeas' Augenbrauen erschien eine steile Falte und er setzte zum Sprechen an, doch Durgrim unterbrach ihn. „Kleine bärtige Männlein?", schrie er empört. „Bezeichne so nicht den König unter den Bergen! Er ist ein wahrer Held! Es stimmt, was er sagt: Männer, die keinen Bart im Gesicht tragen, sind wahrlich kein guter Umgang!" „Aber, aber", wollte Aznael den aufbrausenden Zwerg beruhigen. Asran verschloss sich gegen die Stimmen seiner Gefährten und stieg in eines der Boote. Auch er nahm ein Paddel zur Hand und drehte es prüfend zwischen den Händen. Thorwin setzte sich neben Asran in den Elfenbau und raunte leise: „Ich weiß, wie schwer es für dich sein muss, Asran." Der Elf blickte ihn überrascht an. Damit hatte er nicht gerechnet. „Was denn?", fragte Asran reichlich spät. „Lasyn. In Daulinien sprach man davon, dass sie ein Kind geboren hatte. Einen kleinen Elfen. Lyvaron."
„Was?", stieß Asran hervor und vergaß, leise zu reden. Als er die Blicke seiner Gefährten bemerkte, fügte er etwas ruhiger hinzu: „Woher weißt du das?" „Die Elfen in Daulinien hatten es wohl von ihren Boten erfahren. Es heißt, der Schwertmeister Moserim wolle Lyvaron das Bogenschießen lehren, doch Lasyn hätte sich dem widersetzt." Asran atmete aus. Wie lange hatten sie gekämpft, und wie lange waren sie im Abflusskanal gewesen? Wie lange waren sie schon unterwegs? Er schätzte mehrere Monate. Elfen bekamen nur selten Kinder, doch die Schwangerschaften dauerten höchstens sechs Monate. Aber warum musste es ausgerechnet dieses eine Mal geklappt haben? In Mussling...das war es gewesen! Asran schalte sich stumm. Er blickte seinen Gefährten zu, wie sie sich in den Booten aufteilten. Er musste wiederkehren! Er musste seinen Sohn kennenlernen!
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Durgrim fühlte tiefe Zufriedenheit. Er war fast zu Hause, es fehlten nur noch wenige Meilen. Seufzend sah er sich um. Er hatte diese Landschaft vermisst. Kein einziger Baum, ja, keine einzelne Pflanze wuchs hier. Die Zwerge hatten alles um ihre Höhlen abgeholzt, um Nährstoffe für ihre ewig feuernden Öfen zu gewinnen. Der Boden war aus festem Stein und geheimnisvolle Zeichen führten geradewegs zum Eingang der Berge. Das war um einiges besser als der steinerne Wald in Daulinien. Der Zwerg mochte Steine, doch in Daulinien waren sie ihm unheimlich gewesen. Er hatte dort am Mittag geruht, doch schlafen hatte er dort nicht können. Er hatte gespürt, dass mit den Steinen etwas nicht stimmte. Und dann hatte er es gehört: wispernde Stimmen in seinem Kopf. Sie hatten ihn verführen wollen. Selbst jetzt bekam er eine Gänsehaut, wenn er an seine alte Unterkunft dachte. Hässliche Bäume waren in die Steine geritzt. Wahrscheinlich war in den Steinen ein Zauber eingewoben worden. Doch die Runen zu Durgrims Füßen waren anders. In ihnen war kein Zauber, doch trotzdem wollte sich das Auge nicht von den klar gezeichneten Linien lösen. Nur noch ein Tagesmarsch, dann hätte er es geschafft!
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Als sie am frühen Abend an der Bergkette angekommen waren, erkannte Asran im schwindenden Licht mehrere Schritt hohe Steinstatuen. Zwerge, gehauen aus Marmor, lehnten sich auf Äxte und Schilde und blickten lässig zu ihnen hinab. Selbst jedes Barthaar war mit so großer Sorgfalt in den Stein gehauen, dass es so aussah, als würden die abgebildeten Zwerge einfach vergrößert und zu Stein verwandelt worden sein. Durgrim lachte und sagte: „Das sind mal Statuen, nicht wahr, Elfen? Sie sind von den besten Steinhauern hergestellt worden. Viele haben über ein Jahrhundert gebraucht, bis sie mit dem Werk zufrieden waren." „Lebt ihr Zwerge auch über Jahrzehnte, oder Jahrhunderte?", fragte Aznael. Der alte Elf blickte zwar recht interessiert, aber Asran konnte den Hauch der Entrüstung in des Elfen Augen erkennen. „Natürlich! Wir werden alt wie Stein!", erwiderte der Zwerg begeistert. Asran sah den Zwerg an. Wie alt er wohl schon war? Thorwin lachte, sagte aber nichts.
Nachdem die Gefährten am Ende des von Statuen gesäumten Ganges angekommen waren, wurde ihnen ein schweres Tor geöffnet. Schwergerüstete Wachen führten die Gefährten eine lange Treppe hinab und in einen großen Saal. Der Raum wurde von vielen Fackeln erleuchtet. Dunkle Holzdielen knarrten leise, als die Gefährten über sie schritten. In der Mitte des Zimmers war ein großer Steintisch errichtet, an dem zwei Dutzend Menschen, Elfen, Zwerge, aber auch Riesen Platz gehabt hätten. Die Rückwand des Saals zierte eine große Steinwand, in der ein riesiges Bild gehauen war doch auf die Ferne und des fackelnden Lichtes wegen konnte Asran nicht recht erkennen, was die Darstellung zeigen sollte.
Vor der Wand, mit dem Rücken zu ihnen gekehrt, stand ein Zwerg. Auf seinem Haupt trug er eine schwere goldene Krone und auf des Königs Schultern lag ein weißer Pelzmantel. Braunes Haar wallte ihm auf die Schultern. Als der Zwergenkönig sich umdrehte kniete Durgrim nieder, die restlichen Gefährten senkten das Haupt. Der Herr unter den Bergen trug einen Harnisch und eine zähe Hose, die in Stiefeln mündete. Der Zwerg hatte einen langen Bart, der fast bis zu den Rippen reichte. In dem Bart waren silberne Ringe eingeflochten. Bernsteinfarbene Augen leuchteten unter den braunen Augenbrauen. Des Königs Mundwinkel hoben sich, als er Durgrim erblickte. Schweigend löste er dann den Blick von ihm und musterte aufmerksam die anderen Gefährten. Sein Blick blieb lange an Asrans Hals hängen. Es schien, als suchen seine Augen nach etwas, das er jedoch nicht zu finden schien. Der Elf zog die Augenbrauen zusammen und blickte den Zwerg ärgerlich an.
Plötzlich wandte sich der Zwergenkönig ab, klatschte in die Hände und die Türen zum Saal wurden geschlossen, nachdem mehrere Zwerge ein wenig Essen aufgetischt hatten. „Es freut mich, euch in unseren Höhlen willkommen zu heißen", sagte der Zwerg dann mit tiefer Bassstimme. Es war Grimbold sein, der König unter den Bergen. „Wir sind hier, um Euch um Hilfe zu bitten", erwiderte Aristeas. Der Zwerg zog die Augenbrauen nach oben. „Wir müssen die Völker von Mittelland zu einer einzigen Streitmacht vereinen. Zwerge müssen Seite an Seite mit Elfen kämpfen. Ich weiß, eure Völker verstehen sich nicht, aber es gibt keine andere Wahl", fuhr der Zauberer fort.
„Warum sollte ich deinem Rat folgen, Zauberer? Wir Zwerge kämpften schon einmal mit Elfen gegen das Böse, doch verrieten uns die Spitzohren und brachten Unheil über unser Volk. Jahrelang mussten wir neue Krieger ausbilden, denn diese verloren wir mit unzähligem, teurem Silber und Eisen. Ich bin gänzlich abgeneigt, deiner Bitte zu folgen", erwiderte der Zwerg. Aristeas schwieg, doch als er gerade etwas sagen wollte, unterbrach Asran ihn. „Bitte", sagte er: „Tu es für mich. Ich weiß, ihr Zwerge könnt uns Elfen nicht leiden, aber ich habe den Krieg auch nicht erwählt. Diese Reise ist mein Schatten. Er verfolgt mich schon seit meiner Geburt, und nun holt er mich ein. Ich bin der Sohn des Asren. Und obwohl er mein Vater ist, verabscheue ich sein Lebenswerk und zum Teil auch ihn selber. Er erschuf die fünf Amulette, und gab sich selber jenes Grüne, dessen Erbe ich nun bin. Als er selber nicht zum König gewählt wurde, verschwand mein Vater spurlos und hinterließ mir das Amulett. Und darum bin ich hier, und flehe um deine Gunst, König Grimbold. Das grüne Amulett bringt Krieg und Unglück und ich werde dieses Unheil abwenden und so meinen Sohn retten. Er hat es nicht verdient, das grüne Amulett tragen zu müssen." Bei den letzten Worten traten Asran Tränen in die Augen. Was würde er alles tun, um Lyvaron kennenzulernen.
Grimbold blickte Asran lange an. „Deinen Sohn?", fragte er schließlich und Asran nickte. Grimbold seufzte und fügte dann hinzu: „Ich stelle euch ein Heer zusammen. Ich werde euch Waffen und Rüstungen bereitlegen lassen. Doch als Gegenzug erwarte ich einen hohen Preis. Einen Preis, der unser Geschäft besiegelt. Ich werde dir meine besten Krieger zur Verfügung geben, wenn du mir deinen Sohn überlässt. Wir werden ihm nicht schaden, wir werden ihn zum Krieger ausbilden. Wenn du ihn uns überlässt, wirst du so viele Heere bekommen, wie du benötigst. Das ist ein Vertrauensbeweis, ihr Elfen habt uns Zwerge schon oft hintergangen." Grimbold sagte es ohne jeden Zorn, doch genau das stachelte Asrans Wut noch mehr an. „Mein Sohn?", rief er entsetzt: „Was hat mein Sohn damit zu tun?"
„Gar nichts", erwiderte der Zwerg ruhig. „Er ist nur dein Pfand. Du wirst ihn wiederkriegen, wenn die Hälfte meine Kämpfer wieder sicher hier sind", fügte Grimbold hinzu. Asran konnte es nicht fassen. Was hatte sein Kind mit Kriegen zu tun? Er versuchte, seine Wut zu beherrschen und wandte sich an seine Gefährten. Athavar sah ihn mitleidig an, Thorwin wirkte so, als hätte er gar nicht zugehört. Aznael sah genauso entsetzt aus, wie Asran sich fühlte. Und während Durgrim Grimbold ansah, begegneten sich Asrans und Aristeas' Blicke. Der Zauberer nickte ihm zu. „Diese Entscheidung liegt ganz bei dir", las Asran in seinen Augen. Der Zauberer hatte Recht: Er musste eine Entscheidung treffen. Er wollte Lyvaron nicht verlieren, aber wenn er dem Zwerg nicht zustimmte, würden sie eine Schlacht schlagen, die sie nur verlieren konnten.
So holte Asran tief Luft und sagte mit leiser Stimme: „Ich nehme deinen Vorschlag an. Schickt Boten zum Moraldwald und berichtet meiner Gattin Lasyn, dass ich es war, der Lyvaron als Pfand einlöste. Schärfe deinen Boten ein, die Wahrheit zu sagen, was sich hier abgespielt hat. Zwei Elfen bleiben sich so lange treu, bis die erste Lüge zwischen ihnen steht. Wenn Lasyn es mir verzeihen kann, unseren gemeinsamen Sohn an euch Zwerge zu geben, weiß ich, dass unsere Liebe in der langen Zeit nicht an Bestand verloren hat."
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