Der Freitag vor den Ferien (2)
"AUFWACHEN! DU KOMMST ZU SPÄT!", brüllte Timos Handy mit der Stimme seiner Mutter. Manchmal bereute der 13-jährige es, sie als Weckerklingelton eingestellt zu haben. Er grummelte etwas unverständliches in sein Kissen und tastete auf dem Nachttisch nach dem zeternden Gerät. Seine Finger streiften darüber, fanden die Ausschalttaste und er drückte mit dem Nachdruck, mit dem amerkanischer Richter ihren Hammer beim Urteil auf den Tisch knallen, darauf. Das Geschrei verstummte und Timo seufzte erleichtert. Er kuschelte sich tiefer in sein Kissen, nur um zu bemerken, dass er jetzt wach war. Verdammt!
Timo schälte sich aus seiner Decke und kletterte aus dem Bett. Er kratze sich am Kopf. Was für ein Tag war heute nochmal?
...Freitag... es war Freitag.
Morgen sind Ferien!
Der Gedanke genügte um auch das letzte bisschen Müdigkeit von Timo abzuschütteln. Er rannte ins Badezimmer und konnte es kaum noch erwarten den Tag hinter sich zu bringen.
MORGEN SIND FERIEN!
Eine halbe Stunde später, auf dem Weg zur Bushaltestelle, sah er etwas glitzerndes auf dem Boden liegen.
Neugierig näherte sich Timo dem glitzernden Etwas und hob es auf.
Es war Tobis Schlüsselbund. Er hatte ihn tatsächlich schon wieder verloren!
Timo lachte, steckte den Schlüsselbund ein und lief den restlichen Weg zu dem kleinen Häuschen in dem die Schüler auf den Bus warteten. Er war einer der ersten, was vermutlich daran lag, dass er so früh losgelaufen war.
Morgen sind Ferien!
Tobi war noch nicht da, dafür aber Matthis. Matthis war einer von den Großen, er ging schon in die zehnte Klasse, und Timo hatte tonnenweise Respekt vor ihm. "Hey, Schnüffler, hast du meine Brotdose schon gefunden? Du weißt doch, dass bald Ferien sind... Meine Mum merkt spätestens dann, dass sie weg ist und dann reißt sie mir den Kopf runter. Bitte, Schnüffler, find sie heute noch. Ich hab auch das Geld. Ich brauch das Teil halt wirklich... ", bat der Zehntklässler und trat nervös von einem Bein auf das andere. Er schien wirklich Angst vor der Reaktion seiner Mutter zu haben. "Klar... ich hab sie.", meinte Timo, stellte seinen Rucksack auf den Boden, kramte darin herum und zog eine quadratische, gelbe Plastikbox heraus. Er hatte sie in der Sportumkleide gefunden. Matthis sah unglaublich erleichtert aus. "Danke! Oh mein Gott, danke, Schnüffler. Du rettest mir echt das Leben." Mit diesen Worten drückte der ältere Schüler Timo das Geld in die Hand und kehrte zu seinem Bruder zurück.
Noch während der Schnüffler dabei war das Geld in den scheinbar unendlichen Tiefen seiner Hosentaschen verschwinden zu lassen, rannte Tobi in ihn hinein. "Hey!", sagte Tobi ganz außer Atem. Er sah aus als hätte er überhaupt nicht geschlafen, dunkle Augenringe und eine gräuliche Blässe verliehen ihm das Aussehen eines Waschbären. "Hey, alles okay?", fragte Timo und betrachtete seinen besten Freund besorgt. "Also... ich weiß ich brauch ständig deine Hilfe, und... das wirkt bestimmt als würde ich dich ausnutzen, ... vor allem so knapp vor den Ferien... ich kann dich dieses mal auch bezahlen, ... ich... ich hab schon wieder was verloren... es sind meine Schlüssel... gestern waren sie plötzlich weg... tut mir leid man, kannst du sie für mich erschnüffeln? Das macht 2€, stimmts?", stammelte Tobi und suchte das Geld in seiner Jackentasche, "Verdammt! Das Geld hab ich auch verloren." Timo schüttelte den Kopf und zog Tobis Schlüsselbund aus seiner Tasche. "Ich will dein Geld nicht, ich kann dir nachher auch helfen es zu finden, aber deine Schlüssel hab ich schon.", sagte er grinsend. Tobi strahlte: "Danke! Du bist genial." Timo lächelte nur verlegen. Er wusste, dass Tobis Familie nie viel Geld hatte, weil sein Stiefvater arbeitslos war und seine Mutter praktisch alles, was sie verdiente, im lokalen Kasino verzockte. Es musste eine Qual für seinen Kumpel gewesen sein, seinen Eltern zu sagen, dass er 2€ brauchte, weil er schon wieder etwas verloren hatte.
Zum Glück bog in genau dem Moment der Bus um die Ecke und rettete Timo vor dem peinlichen Gespräch, das dabei war sich anzubahnen.
Der letzte Schultag verlief ganz normal. Obwohl die Pfingstferien nur noch wenige Stunden entfernt waren, sah es wohl kein Lehrer ein, deswegen wertvolle Unterrichtszeit zu verschwenden. Timo gab Kira ihre Sporttasche gratis zurück, auch wenn er dafür 3 € hätte einstreichen können, vielleicht sogar noch mehr, weil das Ding seit über einem Jahr verschwunden gewesen war. Außerdem fand er innerhalb von 10 Minuten Frau Müllers Lieblinskugelschreiber.
Ein bisschen Verständnis hatten die Lehrer dann doch und es gab kaum Hausaufgaben.
Als die Schule vorbei war kehrte auch Timos Vorfreude auf die Ferien zurück.
Auf der Busfahrt unterhielt er sich mit Tobi über ihre Pläne für die kommenden zwei Wochen.
Tobi wollte sich einen Ferienjob bei McDonald's suchen, obwohl er dafür ein Jahr zu jung war, damit er sich endlich neue Sportschuhe kaufen konnte. Timo plante in den Ferien den Enderdrachen in Minecraft zu besiegen. Es würden tolle Ferien werden! Da war sich Timo sicher.
Auf dem Rückweg von der Bushaltestelle half er seinem Kumpel, wie versprochen, die verlorenen 2 € zu finden, was er auch tat. Dann lief er nach Hause. Jetzt musste er nur noch Hausaufgaben machen, dann waren offiziell Ferien.
Als er das Haus betrat, war er so glücklich wie seit langem nicht mehr.
Er ließ seinen Rucksack auf der Treppe zurück und schlitterte in die Küche, um mit seinen Eltern Mittag zu essen.
Die Gesichtsausdrücke seiner Eltern sorgten dafür dass seine Freude auf der Stelle verflog.
"Was ist los?", fragte Timo besorgt. Seine Eltern schauten sich lange an, bevor sie sprachen: "Es gibt ein paar Änderungen in den Ferienplänen. Papa muss auf eine wichtige Geschäftsreise gehen und außerdem ist Tante Marta krank geworden. Das bedeutet, dass wir auf Opa aufpassen müssen. Wir fahren gleich morgen los.", sagte seine Mutter bedrückt. Timos Vorfreudewar wie weggeblasen. Er hatte doch so schöne Pläne gehabt! Was wurde aus Minecraft? Bei seinem Opa gab es kein WLAN!
Außerdem, auch wenn Timo sich das nicht eingestehen wollte, fand er das große Landhaus seiner Großeltern irgendwie unheimlich, seit seine Oma gestorben war. Sein dementer Opa, der regelmäßig hinter irgendwelchen Ecken auftauchte, und vorhatte die verrücktesten Sachen zu tun, macht es auch nicht wirklich besser. Meistens erinnerte Opa Waldemar sich nicht einmal mehr an Timo. Es war furchtbar! Opa sah ihn dann direkt an, legte den Kopf schief und fragte wer er war. Manchmal mehrmals am Tag, manchmal mehrmals in einer Stunde. Timo wollte da nicht hin! Er wollte sich nicht wieder von den vollkommen ausdruckslosen Augen seines Großvaters anstarren lassen, und sich fünf mal am Tag die Geschichte darüber anhören, wie Waldemar mit 5 Jahren einmal versehentlich einen Strumpf in die Salatschüssel geworfen hatte. Opa Waldemar erinnerte sich an die Geschichte mit dem Socken, aber nicht an seinen Enkel. Timo fand das ziemlich blöd. Was vielleicht noch schlimmer war, als die Momente in denen sein Opa komplett der Demenz zu Opfer fiel und vorhatte in der Küche schwimmen zu gehen, oder fest davon überzeugt war, dass er fliegen könnte, wenn er sich nur aus dem Fenster stürzte, dann waren das die Momente in denen sein Opa... normal war. Es gab diese Momente immer wieder, auch wenn sie seltener wurden. Die Momente in denen sein Opa wie früher war. In denen er ihn ansprach und ganz normal mit ihm redete. Manchmal weinte Opa Waldemar dann auch, weil ihm klar wurde in welch einer Situation er war, weil er merkte dass er alles vergaß. Er flehte Timo dann an, bei ihn zu bleiben und mit ihm zu reden. Timo machte das auch, weil er sich sonst schlecht gefühlt hätte. Aber er hasste die Momente in denen sein Opa dann plötzlich wieder geistig weg war, ersetzt durch den dementen Opa, der nichts mehr wusste und nur Blödsinn im Kopf hatte.
"Okay, ich geh packen.", sagte Timo resigniert und stand vom Esstisch auf. Er hatte jetzt keinen Hunger mehr. Mit hängenden Schultern schlurfte er aus der Küche.
Morgen waren Ferien und sie würden furchtbar werden!
Ferien in dem blöden Gruselhaus...
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