꧁ 62 ꧂
„Hey", begrüßte ich Chris, als ich näher kam.
„Hi." Schlicht. Abgeklärt. Typisch Chris eben.
„Ich ... ich wollte auch mit dir sprechen", erklärte ich.
„Dann passt es ja." Er nickt mir zu. Dann hob er sein Bier an seine Lippen und trank. Sein Adamsapfel zuckte an seinem Hemdkragen bei jedem Schluck hoch und runter.
„Du zuerst?", fragte ich, als er die Bierflasche wieder absetzte.
„Ladies first." Er deutete mir mit einem schlichten Kopfnicken, mich neben ihn zu gesellen.
Ich folgte ihm und lehnte mich ebenfalls an der Arbeitsfläche an. „Also? Was gibt's?", wollte Chris wissen.
Ich räusperte mich. „Ich ... also ich habe nachgedacht."
„Über?"
„Über das, was du gesagt hast. Über deine Theorie. Ich ... ich habe gedacht, vielleicht... na ja, vielleicht ... wenn deine Theorie wirklich stimmt, würde das ja die ... du weißt schon ... die Oberen irgendwie besänftigen?"
Chris sah plötzlich zu mir herüber und zog die Brauen zusammen. „Ich verstehe nicht ganz."
„Ich dachte ... naja, deine Eltern, sie sind ja bei den ... Oberen." Erneut versuchte ich das Wort ‚Primus' zu vermeiden. Immerhin waren wir ja von Kommilitonen nur so umzingelt. Klar – die meisten waren betrunken und könnten sich morgen eh an nichts erinnern, aber sicher war sicher. „Jedenfalls habe ich gedacht, du könntest mal mit ihnen reden ... und vielleicht wollen sie sich ja selber ein Bild von mir machen? Dass ich wirklich normal bin? Und vor allem ungefährlich und nicht wahnsinnig?"
Chris, der mit seinen vollen Lippen am Rand seiner Bierflasche spielte, sah mich zunächst etwas verdutzt an, doch dann huschte ein kleines Lächeln über sein Gesicht. „Sieh an."
„Hm?"
„Das Halbblut will aus ihrem goldenen Käfig heraus, was?"
„Bitte?", fragte ich irritiert und zog die Brauen zusammen.
„Ach komm schon, Ivy. Ethan schirmt dich ab, wo er nur kann."
„Er ... er passt auf, ja."
„Nenn es, wie du willst. Das Ergebnis ist das Selbe. Und nun willst du das tun, wovor er dich am meisten schützen will?" Chris Mundwinkel zuckte belustigt. „Das ist beinahe amüsant."
„Ich ... ich ...", stotterte ich irgendwie überrumpelt.
„Schon gut." Chris stupste mich mit seinem Oberarm an. Für seine Verhältnisse war das schon fast sowas wie nett. „Ich versteh dich schon. Deshalb wollte ich ja auch mit dir sprechen. Im Grunde wollte ich dir das Selbe vorschlagen."
„Tatsächlich?"
Chris nickte.
„Was ... was hat dich zum Umdenken bewogen? Du warst doch der gleichen Meinung wie Ethan?"
„Die Realität ... genau, wie sie dich gerade offensichtlich zum Umdenken bringt." Dann setzte er seine Bierflasche wieder an und schaute zu zwei Mädels rüber, die unter lautem Pfeifen und Gröhlen einiger Jungs auf die Bar stiegen und wie wild zu tanzen anfingen. „Frei sein ist schon was Schönes, nicht wahr?", kommentiert Chris das Geschehen und doch fühlte ich mich sofort angesprochen.
Ich starrte zu dem schwarzhaarigen Alpha hinauf. „Also ... wenn du damit auf mich anspielen willst ... das siehst du falsch! Ich habe nicht unbedingt das Gefühl, unfrei zu..."
„Blödsinn", zischte er. Erneut blickte er zu mir herunter. Seine Augen funkelten nahezu obsidianschwarz. „Warum sonst solltest du den Wunsch haben, dich zu stellen? Du vermisst das Gefühl, alles tun und machen zu können, wie vorher auch. Du weißt, dass es nicht so weiter gehen kann. Das wissen alle. Es ist für alle eine Belastung. Der Einzige, der es nicht checkt, ist Ethan."
Ich starrte Chris einfach nur an. In seinen Worten lag so viel Wahrheit, dass es beinahe schmerzte.
„Du bist etwas besonderes, Ivy", fuhr er fort. „Das ist nicht von der Hand zu weisen. Nur ein Idiot würde das nicht bemerken. So ein Halbblut wie dich gab es noch nie. Ich habe mich umgehört, ich hatte sogar Einblick in alte Stammes-Aufzeichnungen anderer Rudel. Aber da ist nichts."
Chris zuckte mit den breiten Schultern. „Ich glaube aber mittlerweile, dass deine Andersartigkeit tatsächlich dein Ausweg aus der ganzen Misere sein könnte. Und auch ein Ausweg aus unserer Misere, wohlgemerkt. Wir können nicht dein Leben lang auf dich aufpassen. Dass du nicht wahnsinnig bist und es mit hoher Wahrscheinlichkeit auch nicht mehr werden wirst, ist uns allen nun klar. Nur, wie stellt Ethan sich das jetzt weiter vor? Will er dich nun ein Leben lang verstecken? Will er, dass du deine innere Wölfin für immer unterdrückst? Das wird wohl kaum möglich sein, selbst für ein Halbblut. Sie wird raus wollen, so oder so ... und das weiß Ethan genau so gut wie ich. Wir können gut als Mensch leben, aber eben nur, weil wir ab und an unserem Wolf Raum geben. Was ist, wenn deine Wölfin raus will? Will Ethan dich dann unter eine luftdichte Glocke sperren, dass dein verräterischer Duft nicht in der Luft liegt? Das ist absurd und das wissen alle. Nur er hat so viel Schiss um dich, dass er nicht mehr klar denken kann!"
Ich presste meine Lippen aufeinander. Ich musste zugeben, dass Chris mir gerade aus der tiefsten Seele sprach. Doch das würde ich niemals laut aussprechen ... Ethan zuliebe. Andernfalls hätte ich das Gefühl, ihn zu verraten.
Chris musterte mich lange, ehe ein weiteres kleines Lächeln über seine Lippen huschte. Ich konnte mir nicht helfen, doch es wirkte, als hätte ich ihn mit all dem irgendwie wirklich überrascht.
Momente vergingen. Dann erhob der Schwarzhaarige wieder seine imposante, tiefe Stimme. „Ich werde überlegen, wie wir das angehen können. Es muss wohl überlegt sein. Sonst schadet es am Ende uns allen", ließ er mich wissen, während er wieder den Mädels beim lasziven Tanzen zusah. „Und du musst dir sicher sein, dass du das wirklich willst."
Ich nickte.
„Geh jetzt zurück. Ethan wird dich sonst noch suchen kommen."
„Okay", murmelte ich. Ich warf Chris einen letzten Blick zu. „Danke."
Ich stieß mich von der Arbeitsfläche ab und drängte mich an einigen armdrückenden Jungs vorbei.
„Und Ivy?" Chris Stimme in meinem Kopf ließ mich schlagartig stehen bleiben. Ich schaute zurück zum Alpha. Sein breites Kreuz lehnte immer noch an der Küchenzeile an. Seine Statur war ziemlich eindrucksvoll. Fest fixierte er mich mit seinem durchdringenden Blick. „Wenn du vor meinen Eltern bestehen willst, solltest du das hier in Perfektion beherrschen, das ist dir doch klar, oder? Sie werden es als Beweis einfordern. Beherrschst du das Alpha-Flüstern nicht, können wir es gleich vergessen. Wir werden es üben, jedes Mal, wenn wir alleine sind."
Ich nickte ihm zu.
„Was bringen dir die schönsten Flügel, wenn du nicht fliegst, Vögelchen?", setzte der Alpha nach. „Also üb' es ... und nutze sie, Ivy."
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