꧁ 58 ꧂
„Guten Morgen." Freundlich lächelte ich Chris an, während ich am nächsten Morgen in die kleine Küche eintrat. Seit drei Tagen war das Apartment des Rudels sowas wie mein Zweitwohnsitz und da Chris und ich die einzigen Frühaufsteher hier waren, war es bereits fast zur Gewohnheit geworden, dass wir uns morgens in der Küche über den Weg liefen.
„Ivy", begrüßte mich Chris, mittlerweile wenigstens höflich, und doch distanziert wie immer. Dennoch kamen wir mittlerweile ganz okay miteinander aus. Seine Art war eben einfach speziell, und sah man darüber hinweg, konnte man sich ganz okay mit ihm unterhalten.
Wie üblich stand er oberkörperfrei, und nur in seiner schwarzen Jogginghose gekleidet, an der Arbeitsfläche. Wie Ethan hatte auch er ein ähnlich definiertes V-Kreuz, das einen einfach staunend zurück ließ. Schon eine tolle Sache, diese Wolfsgene ... jedenfalls wenn sie rein waren. Chris war durchaus attraktiv, wenn auch nicht so offensichtlich hübsch wie Ethan. Chris Schönheit lag eher in seiner ihn umgebenden, dominanten Aura.
„Flakes?", fragte Chris und überraschte mich damit. Nach der Begrüßung hörte unsere morgendliche Konversation meistens auch schon wieder auf.
„Ihr habt auch ... Cornflakes?", fragte ich irritiert. „Hätte ich das gewusst, hätte ich mir die letzten Tage nicht diese komischen Pumpernickel reingezogen."
„Die sind gut für die Muskeln", ließ Chris mich wissen.
„Die, die ich gar nicht habe?"
„Genau die." Chris schüttelte schnaubend den Kopf. „Was ist jetzt. Flakes?"
„Gerne." Etwas unsicher, wo Chris unverhoffte Freundlichkeit auf einmal herkam, trat ich näher heran. „Ähm, brauchst du Milch?"
„Ich mach schon." Chris ging an mir vorbei zum Kühlschrank, öffnete die Milch und roch daran. Dann rümpfte er die Nase und warf mir einen vielsagenden Blick zu.
Ich musste kichern. „Egal. Dann trocken", schlug ich vor.
Chris nickte pragmatisch, warf die Milch über seine Schulter gekonnt in den Mülleimer und reichte mir die Schüssel mit trockenen Cornflakes. Dann setzte er sich mit seinem Frühstück an den Tisch.
Innerlich musste ich schmunzeln. Nun war ich also offiziell am Boden des Studentenlebens angekommen. Trockene Flakes. Es wäre ja nicht so, als hätten wir eine Mensa. Aber Ethan wollte, dass ich mich dort so wenig wie möglich aufhielt. Samira schien sich nicht sonderlich gut um ihre Jungs hier zu kümmern. Ich nahm mir fest vor, ihnen bei Zeiten mal den Kühlschrank mit einem ordentlichen Einkauf voll zu machen.
Unsicher, was ich nun tun sollte, blieb ich zunächst stehen, doch Chris nickte kurz in Richtung eines freien Stuhles und so folgte ich seiner Einladung – oder Anweisung.
Eine kurze Weile knusperte jeder vor sich hin. Es war eine komische Stimmung, deshalb war ich unendlich froh, als Chris die unangenehme Stille zwischen uns beendete.
„Wie gehts unserer Patientin heute?", fragte er, während er sich die nächste Portion Flakes in den Mund schob.
Ich musste lächeln. Er hatte Recht ... ich war wie eine Patientin in einer Nervenheilanstalt, die rund um die Uhr bewacht werden musste. „Wahnsinns-Gefühl gleich Null", verkündete ich.
„Ach was..." Chris zog eine dunkle Braue in die Höhe und auf sein Mundwinkel zuckte kurz auf. „Ist Ethan echt so schlecht?"
Ich riss die Augen auf und verschluckte mich fast an meinen trockenen Cornflakes. „Ich meinte ... ein anderes Wahnsinns-Gefühl."
„Schon klar." Chris zwinkerte mir mit seinen dunkelbraunen Augen zu. „Heute wieder Projektarbeit?"
Natürlich wusste er über meinen Tagesablauf genauestens Bescheid – genau wie das restliche Rudel. Privatsphäre gleich null. Ich sag ja ... wie eine Patientin in der Klapse.
„Ja. Hades und ich treffen uns wieder in der Bibliothek. Wenn es weiter so gut läuft, dürften wir sogar schon einen Tag früher fertig sein, als Vorgabe war."
„Du könntest überlegen, ob ihr einfach hier arbeitet. Würde es für alle irgendwie einfacher machen. So muss immer jemand in der Nähe der Bib sein."
Ich schüttelte den Kopf. „Ich glaube, dann würde Samira endgültig durchdrehen. Sie lässt jetzt ja schon keine Gelegenheit aus, mir einen Spruch zu drücken."
„Mach dir um sie keine Sorgen. Sie kriegt sich schon wieder ein", antwortete Chris.
Als großer Bruder und Alpha ihres Rudels musste er es wohl am Besten wissen – dennoch, dass ich wieder zurück an die Uni gekommen war, und sie mich nun jeden Tag mit Ethan sehen musste, machte die Kluft zwischen mir und ihr perfekt. Sie sah mich an, als wollte sie mich am liebsten persönlich töten, sie zickte mich bei jeder Gelegenheit an und auch sonst übernahm sie keinen der von Chris eingeteilten Aufpass-Dienste. Tagsüber übernahm diese Aufgabe in erster Linie Ethan, es sei denn, er war unabkömmlich in seinem Eishockeyteam. Dann übernahm seine Aufgabe einer der anderen. Einer, der eben nicht Samira war, und tatsächlich war ich deshalb auch kein bisschen traurig.
„Nyle wird dich heute begleiten", ließ mich Chris wissen. „Sobald Ethans Training heute fertig ist, wird er ihn ablösen."
Ich nickte. „Konntest ... konntest du eigentlich schon was rausfinden?"
Chris schüttelte scheinen schwarzhaarigen Schopf. „Nein. Du machst einfach keinen Sinn, Ivy."
Über seine Formulierung musste ich lachen, er jedoch nicht.
„Aber ich habe eine Theorie", fuhr er ungeachtet fort. „Ich denke, dein Vater muss ein Alpha gewesen sein. Ein sehr mächtiger Alpha sogar. Sonst würdest du dem Alpha-Flüstern gar nicht lauschen können, schon gar nicht als Halbblut."
Diese nonverbale Kommunikation zwischen den Wolfswandlern war eine Fähigkeit, die alle Wandler beherrschten, sobald sie in Wolfsgestalt waren. In Menschenform konnte dies jedoch nur ein Alpha - das Alpha-Flüstern. Er konnte seinem Rudel lauschen, auch, wenn er als einziger nicht verwandelt war. Und er konnte sich durch das Alpha-Flüstern mit anderen Alphas unterhalten.
Aus welchem Grund auch immer, hatte ich das Rudel belauschen können, als wir damals auf der Lichtung waren.
Ich hörte Chris aufmerksam zu, seine dunkelbraunen, fast schwarzen Augen lagen fest auf meinem Gesicht. „Ich bin mir mittlerweile ziemlich sicher, dass dich die Alpha-Gene deines Vaters vor dem Wahnsinn geschützt haben. Eben wie ein Schutzschild", fuhr er ungeachtet und in seiner üblichen Ernsthaftigkeit fort.
Erstaunt dachte ich über seine Worte nach. „Das ... das könnte sein, ich meine, ich kenne ja meinen Vater nicht. Möglich wäre es, oder?"
Chris nickt langsam und musterte mich eindringlich. Eigentlich wäre mir sein fester Blick unangenehm, doch irgendwie war es das nicht. Seine Art, jemandem in die Augen zu schauen, war einfach anders.
„Ich würde gerne etwas ausprobieren, Ivy."
„Ausprobieren?", fragte ich neugierig.
„Nur so zum Test ... wie gut du es wirklich beherrschst."
„Ich w-was beherrsche?"
„Das." Chris glasklare, schneidende Stimme klang plötzlich durch meinen Kopf, doch sein Mund hatte sich nicht bewegt. Regelrecht erwartungsvoll blickte Chris mich nun an.
Zur Bestätigung, dass ich ihn tatsächlich verstanden hatte, nickte ich kurz.
Chris nickte anerkennend. „Du bist wirklich sonderbar, Ivy."
Ich lächelte verlegen.
„Wenn du wirklich starke Alpha-Gene hast, dann müsstest du mir auch antworten können."
„Ich ... ich weiß nicht, wie ...wie das geht", sagte ich leise und zuckte mit den Schultern.
„Du darfst die Worte nicht einfach denken. Du musst das Gesprochene fühlen und es auch so meinen."
Ich kniff konzentriert die Augen zusammen und versuchte, seiner Anweisung zu folgen. Doch wie fühlte man Gesprochenes?
Sekundenlang passierte gar nichts.
Dann schnaubte Chris und zuckte mit seinen breiten Schultern, dass sich seine Muskeln und Sehnen mit jeder Bewegung anspannten. „Du stehst dir selber im Weg."
„Nein ... ich kann das."
„Du verstehst nicht. Du müsstest ein bisschen Führung abgeben. Und das sollten wir wohl besser nicht versuchen, nicht wahr?" Chris zwinkerte mir zu, verzog aber ansonsten keine Miene.
Ich wusste sofort, was er meinte. Ich müsste versuchen, meine innere Wölfin zu wecken. Und das galt es, um jeden Preis zu vermeiden.
Enttäuschung machte sich in mir breit und so bekam ich auch nicht mit, wie Nyle plötzlich in die Küche kam.
Chris dafür schon. „Nyle", warnte er mich gedanklich und sah an mir vorbei zur Tür.
„Moin", gähnte er verschlafen und schlurfte zur Kaffeemaschine.
„Guten Morgen." Freundlich lächelte ich ihm zu.
„Was macht ihr schon so früh auf den Beinen?"
„Wir frühstücken", antwortete Chris, ehe ich überhaupt den Mund aufmachen konnte und warf mir einen kurzen Blick zu. „Siehst du doch."
Nyle nahm eine Kaffeetasse aus dem Schrank. „Sonst noch wer?"
„Danke, nein", sagte ich und stand vom Tisch auf. „Ich denke, ich werd mal Ethan wecken. Er muss eh gleich zum Training."
„Na ja, Training würde ich das nicht mehr nennen, seitdem er die meiste Zeit damit beschäftigt ist, die Luft nach fremden Spuren abzuschnüffeln und die Ohren auf dich zu richten", lachte Nyle und strich sich durch seine hellblonden Surferboy-Haare.
„Ich wünschte auch, dass es anders wäre", murmelte ich und presste betroffen die Lippen aufeinander.
„Sollte nur ein Spaß sein." Entschuldigend hob Nyle seine Hände vor seine Brust. „Sorry!"
„Alles gut." Ich nickte und lächelte matt. „Chris hat gesagt, du passt gleich auf?"
„Aber sowas von, Schönheit", raunte Nyle grinsend, während er in den Schränken auf der Suche nach etwas Essbarem war.
Ich klopfte zum Abschied an den Türrahmen und wand mich ab.
„Ivy.'"
Beinahe erschrak ich beim erneuten Klang von Chris Stimme in meinem Kopf. Rasch warf ich ihm einen Blick zu.
„Niemand sollte davon erfahren, dass wir das probiert haben. Erst recht nicht Ethan. Das würde ihn nur beunruhigen."
Ich wusste sofort, was Chris meinte. Ethan würde sicher durchdrehen, wenn er wüsste, dass ich gerade versucht hatte, meine Wolfsfähigkeit zu nutzen. Und erst Recht nach meinem Schwur.
Doch kaum hatte ich die Küche verlassen, beschlich mich ein Gefühl. Ein Gefühl reiner Neugierde. Denn wenn Chris wirklich Recht mit seiner Theorie hatte, könnte das vielleicht mein Weg zurück in ein selbstbestimmtes und normales Leben bedeuten. Und das nicht nur für mich, sondern auch für Ethan und das restliche Rudel. Wenn Chris' Theorie stimmte, dann würde das die Primus vielleicht beeindrucken?
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