꧁ 55 ꧂
„Nein! Ivy!" Ethans lautes Schreien riss mich aus dem Tiefschlaf.
Wie ein Katapult schoß mein Oberkörper panisch in die Senkrechte. Innerhalb eines Wimpernschlags schoß das Adrenalin nur so durch meinen Körper. Ich brauchte eine Sekunde um mich zu orientieren, dann tastete ich panisch nach dem Schalter meiner Nachttischlampe. Das Licht erhellte das jedoch völlig normal wirkende Zimmer.
„Ivy! Tu das nicht!" Ich zuckte unter Ethans herzzerreißendem Aufschrei zusammen, doch dann verstand ich endlich. Keiner griff uns gerade an. Keiner wollte mich nun holen kommen... Ethan hatte einen Albtraum.
„Shhht. Ethan." Ich strich ihm über die Stirn, er war klitschnass geschwitzt. Sein Kopf wackelte abwesend hin und her, seine Augenlider flatterten.
Ich schüttelte ihn sanft an seinen Schultern. „Ethan!" Keine Veränderung. Dann wurde aus Sanftheit Stärke. „ETHAN!"
Plötzlich riss er die Augen auf. Für einen Hauch eines Augenblicks lag eine Panik in den ozeanblauen Iriden, die mir direkt unter die Haut und ins Herz ging. „Shhht. Es ist alles gut Babe. Ich bin hier", sagte ich leise und sah ihn eindringlich an. Vorsichtig fuhr ich ihm durchs volle Haar. „Es ist alles gut."
Dann schien er wieder im Hier und Jetzt anzukommen. Sofort schlang er seine Arme um mich und zog mich auf sich. Er presste mich so fest an seinen geschwitzten Körper, dass ich fast nach Luft ringen musste, doch offenbar brauchte Ethan gerade einfach die Gewissheit, dass ich hier bei ihm war, und so hielt ich es aus.
Nach einigen Minuten ließ sein Druck mehr und mehr nach. Sein Atem und sein Herzschlag, den ich auf seiner Brust liegend bestens lauschen konnte, beruhigten sich wieder.
Erst dann hob ich meinen Kopf und sah ihn liebevoll an. „Alles okay?", wisperte ich und strich meinem Riesen über die Stirn hinunter zur Wange. Seine dunklen Bartstoppel kratzen rau an meiner Handinnenfläche.
Er nickte sacht.
„Willst du ... willst du mir davon erzählen?"
Ethan presste seine Kiefer aufeinander, dass die Muskeln unter seinen Wangen zuckten und die Ader in seiner Schläfe anschwoll. Ich wusste damit, dass er es nicht wollte, also ließ ich meinen Kopf wieder sinken und streichelte in sanften Kreisen seine definierte Brust. Ich konnte mir eh schon denken, worum es in seinem Traum ging. Und zum unzähligsten Male tat es mir leid, dass er all das wegen mir durchstehen musste.
„Wieso ... wieso können wir nicht einfach zu den Primus gehen, und ihnen erklären, dass von mir... naja ... keine Gefahr ausgeht?"
Das feine, angespannte Zucken seiner Muskeln in seinem Körper verriet mir, dass er mit dieser Frage nicht gerechnet hatte.
„Das ist doch wohl ein Scherz, hoffe ich!", brummte er, doch ich hob meinen Kopf, legte mein Kinn auf seiner Brust ab und sah zu ihm hinauf.
„Eigentlich nicht. Ich meine, wenn sie es direkt aus erster Hand wüssten, mich sehen, ich vielleicht sogar vor ihnen wandle, um es ihnen zu beweisen, dann würden sie es vielleicht verstehen und uns in Frieden lassen."
Ethans Augen verengten sich zu Schlitzen. „Du bist so naiv, Ivy!", zischte er. "Was glaubst du eigentlich? Meinst du, sie lassen dich einfach so bis zum Alpha durch spazieren? Meinst du, sie lassen dich überhaupt sprechen?"
Ich zuckte mit den Schultern. „Naja, vielleicht habe ich es gehofft, ja?"
Ethan schüttelte sanft den Kopf und sein Blick verfinsterte sich weiter. „Zu den Primus läuft man nicht einfach als Mensch, Kitz. Sie sind nicht so wie wir. Sie verbringen die meiste Zeit ihres Daseins in Wolfsform. Sie haben sich dem Wolfsleben voll und ganz hingegeben. Das macht etwas mit einem. Sie sind rauer, brutaler, tierischer. Deshalb leben sie auch hoch oben im Norden."
„Im Norden?"
„Kanada."
„Alle?"
Ethan nickte. „Das Hauptrudel jedenfalls. Es ist wie eine Pilgerstätte für die ... sagen wir ... Traditionsbewussten unter uns. Es gibt eben viele Wolfswandler, die sich aufgrund ihrer Gene als etwas besseres sehen, als normale Menschen. Sie wollen sich um jeden Preis von ihnen abheben."
„Ich dachte, das einzige Ziel sei es, sie zu schützen?"
„Das ist es auch. Dennoch ist es ihnen wichtig, ihr Anderssein auszuleben. Ein menschliches Leben halten sie für schützens- aber nicht für selber lebenswert. Für viele, gerade junge, neue Wolfswandler ist es das ultimative und einzige Ziel nach Kanada zu gehen und sich ihnen anzuschließen."
„Wieso ist Chris diesem Ruf nicht gefolgt? Wenn doch seine Eltern dort sind?"
„Chris genießt das menschliche Leben zu sehr. Wir ... wir hatten einfach Spaß."
Ich verdrehte die Augen, da ich genau wusste, was er meinte. Natürlich hatte Ethan auch Frauen vor mir gehabt, und das sicherlich nicht wenige. Und Chris wirkte vielleicht oft ach so erhaben, aber auch er war nur ein Mann, und ein durchaus gut aussehender noch dazu.
„Kyle und Nyle waren da schon anders. Sie folgten dem Ruf der Primus."
Erstaunt riss ich die Augen auf. „Tatsächlich? Sie waren Primus-Anwärter?"
„Ich sag es mal so. In ihrem jugendlichen Leichtsinn wären sie es wohl gerne gewesen. Sie ließen sich leicht beeinflussen, wollten dazu gehören, doch zum Glück stand ihnen ihre Tollpatischigkeit im Weg. Sie konnten kein Halbblut finden ... also haben sie auch niemanden getötet. Dafür fanden wir sie."
„Wow", murmelte ich beeindruckt.
„Die Primus sind im Übrigen das einzige Rudel weltweit, dass auch Jagen geht", ließ Ethan mich wissen, während er seine Finger mit meinen verschränkte.
„So richtig?"
Ethan nickte. „Ich sage ja ... sie fühlen sich ihrem inneren Wolf sehr stark verbunden. Und das leben sie aus. Sie bleiben aber unter sich. Die Drecksarbeit machen die Anwärter. Und die Wiederrum zehren von dem Traum, einmal dazu zu gehören. Das macht die Anwärter auch so gefährlich für Halbblüter. In den meisten Fällen zurecht, möchte ich anfügen. Du bist natürlich die Ausnahme." Kurz küsste Ethan mich auf die Stirn.
Seine Aussage brachte mich auf eine Idee. „Hast du ... hast du jemals gesehen, wie ein Halbblut... naja ... durchdreht?"
Ethan antwortete nicht gleich. Er strich mir übers Haar, scheinbar gedankenversunken. Dann räuspert er sich. „Einmal ... ja."
„Ehrlich?"
Der Blauäugige nickte. „Es war gut zwei Wochen nachdem wir Jake aufgelesen hatten. Am Rande von New Haven. Da nahmen wir plötzlich den intensiven Geruch eines Wolfswandlers wahr. Chris war neugierig. Wir wussten nicht, dass es ein Anwärter der Primus war. Wir folgten der Duftspur bis auf einen Schotterparkplatz an einem Waldrand. Als wir ankamen, sahen wir den Anwärter in seiner Wolfsform - kampfbereit. Er hatte ein Mädchen gestellt. Sie war etwas jünger als du. Nur eine Sekunden später wandelte sie tatsächlich. Ihre kleine Wolfsform und ihr nur dezenter Wolfsgeruch verrieten sofort, dass sie Halbblut war. Sofort griff sie den Anwärter an, sie war völlig außer Kontrolle. Diese rot unterlaufenen Augen, den Schaum an ihren Lefzen. .. nie im Leben habe ich einen bedrohlicheren und blutrünstigeren Blick gesehen als den ihren. Kaum auszumalen, was wohl geschehen wäre, hätte sie in New Haven City das erste Mal gewandelt. Das wäre für viele Menschen sehr ... sehr schlimm ausgegangen."
„Der Anwärter hat sie also getötet?"
„Mit Leichtigkeit."
Ich musste schlucken, während Ethans Finger meinen Rücken zärtlich hinauf und hinab glitten.
„Du musst dir keine Sorgen machen", murmelte ich nach einer Weile. „Ich hab es wirklich super im Griff. Ich habe gar nicht das Bedürfnis nach meiner ... meiner inneren Wölfin. Ich werde nicht versuchen, zu wandeln oder die Fähigkeiten zu trainieren. Ich weiß, dass es gefährlich ist. Außerdem bin ich glücklich, wie es ist ... mit dir."
Ethan sah mich ganz ruhig an. Doch er antwortetet nicht. Stattdessen zuckten seine Muskeln im Kiefer angespannt.
„Glaubst du mir nicht?", fragte ich unsicher.
Mein Riese zuckte sanft mit den Schultern. Sein Blick glitt in die Weite des Zimmers. „Ich denke einfach, dass es mit der Zeit immer schwerer für dich sein wird, deiner Wölfin zu widerstehen."
„Und selbst wenn ... ich werde ihr nicht nachgehen. Ich schwöre es gerne, wenn dich das beruhigt", verkündete ich. Feierlich hielt ich den kleinen Finger zum Schwur hin. „Zufrieden? Ich habe dich, was sollte ich mehr wollen."
Ethan schnaubte, dann lächelte er, hakte mit seinem kleinen Finger ein und küsste mich auf den Scheitel.
Eine Weile lagen wir noch einfach so da, die Nähe des anderen genießend. Irgendwann hörte ich Ethans leisen, rhythmischen Atem ... er war wieder eingeschlafen.
Ich war zwar auch müde, doch der Gedanke an das, was Ethan damals auf diesem Schotterparkplatz gesehen hatte, bedrückte mich. Allerdings aus Gründen, die unterschiedlicher Art kaum sein konnten.
In erster Linie tat mir das Halbblut-Mädchen leid. Sie konnte nichts für das, was aus ihr geworden ist. Sie war Opfer ihrer Gene, die sie nie selber hatte wählen konnte.
In zweiter Linie, weil ich kurz so etwas wie Verständnis für die Primus entwickelt hatte. Ich verstand den Gedanken dahinter. Es wäre sicher wirklich furchtbar gewesene, hätte dieses Mädchen im Blutrausch unschuldige Menschen getötet.
Und zu guter Letzt, weil ich Ethan nun noch einmal ganz anders verstand ... er hatte mit eigenen Augen gesehen, wie ein Halbblut getötet wurde. Kein Wunder, dass die Vorstellung, mir könnte das selbe Wiederfahren, ihn in seinen Träumen heimsuchte.
Doch soweit würde ich es niemals kommen lassen. Und der kleine Finger-Schwur war ihm hoffentlich nun Beweis genug.
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