꧁ 5 ꧂
„Tja ... keine Ahnung, was ich sagen soll." Ethan presste seine Lippen aufeinander und zog die Schultern hoch. Er trug einen Uni-Hoodie, Jeans und weiße Sneaker und sah mit seinem großen, trainierten Körper aus wie der Star der Eishockeymannschaft und nicht wie der Junge, der von seinem Vater regelmäßig als Blitzableiter genutzt wurde.
„Das sehe ich." Schnaubend schüttelte ich den Kopf. „Hast du denn nichts dazu zu sagen?"
Ethan zuckte erneut mit den Schultern. „Ist halt viel passiert", murmelte er.
Ich presste die Lippen aufeinander. Unglaublich, dass ihm nichts anderes dazu einfiel.
„Wie geht es Ryan?", wollte er stattdessen wissen.
Bei dem Gedanken an meinen Bruder bekam ich gleich Heimweh. Ich vermisste diesen Trottel schon mehr, als ich es ihm gegenüber je zugeben würde. Und dass Ethan nun einfach so dreist nach seinem alten besten Freund fragte, als sei es das Normalste der Welt, stieß mir sauer auf. „Nun ... er arbeitet viel. Hat vor ein paar Jahren eine kleine KFZ-Werkstatt in Tampa eröffnet."
„Ich dachte, er wollte unbedingt Maschinenbau studieren?" Ethan zog seine Augenbrauen zusammen und seine blaue Augen funkelten irritiert.
„Tja, wie du schon gesagt hast ... ist halt viel passiert." Ich verzichtete darauf, ihm aufs Brot zu schmieren, dass sein Verschwinden alles verändert hatte. Das wusste er auch so.
Nachdenklich nickte Ethan. „Und Jules?"
Ich dachte an Mum. Sie würde vollkommen ausflippen, würde sie erfahren, dass ich hier einfach so vor Ethan saß. Einem ziemlich lebendigen Ethan. „Kümmert sich um Eve", antwortet ich wortkarg. Eigentlich sollte ich diejenige sein, die hier Antworten erhalten sollte.
Ethan schnaubte. „Die Kurze ist bestimmt groß geworden."
Ich zuckte mit den Schultern. „Sechs Jahre älter eben", sagte ich zickig und klang dabei vielleicht eine Spur zu vorwurfsvoll.
Ethan nickte. „Hör zu, Ivy." Er stützte seine Arme auf seinen Knien ab und rieb sich seinen trainierten Nacken. „Ich verstehe, dass du sauer bist. Wirklich. Aber dass ich Verschwunden bin hatte nichts mit euch zu tun, dass weißt du doch, oder?"
„Ich weiß ehrlicher Weise grade gar nichts mehr. Bis gestern dachte ich, du wärst mit hoher Wahrscheinlichkeit tot."
Ethan atmete tief ein, dass sich sein ganzer Oberkörper erhob. „Das war ich auch ... innerlich. Ich musste einfach da raus." Auch wenn er nicht aussprach, wo raus, wusste ich sofort, was er meinte.
„Aber du hättest doch nur was sagen müssen. Mum hätte dich sofort aufgenommen, oder es jedenfalls versucht. Sie hat dich geliebt wie ihren eigenen Sohn!" Bei dem Gedanken daran stiegen mir Tränen in die Augen.
Ethan musterte mich, dann ließ er den Kopf hängen. „Ivy", murmelt er. „Wenn das so leicht gewesen wäre." Seine dunkelbraunen, verstrubbelten Haare lagen immer noch so ungezähmt auf seinem Kopf wie damals.
„Du hättest dich mal melden können, wenigstens das", warf ich ihm vor.
„Du musst mir glauben, dass ich das wollte. Oft sogar. Aber..." Ethan schien nach Worten zu suchen. „Es war einfach besser so, wie es war."
Ich starrte ihn ausdruckslos an. „Für dich vielleicht."
Ethan erwiderte meinen Blick und zuckte schließlich überfordert mit seinen Schultern.
Ich seufzte. So kamen wir nicht weiter. „Weißt du ... was ... was mit deinem Pflegevater passiert ist?", fragte ich nun eine Spur behutsamer.
Ethans große ozeanblaue Augen verengten sich zu Schlitzen, ehe er verächtlich schnaubte. „Ich will nicht über ihn sprechen."
„O-Okay", sagte ich leise und nickte sanft. Die Vergangenheit tat offenbar nicht nur mir weh.
Es dauerte einen Moment, bis Ethans Mimik sich wieder entspannte.
„Hast du es ihnen schon erzählt? Jules und Ryan? Ich meine, dass ich hier bin?"
„Spinnst du? Mum würde einen Herzinfarkt bekommen ... und Ryan ... keine Ahnung ... nein ...also nein! Und ganz sicher würde ich ihnen es auch nicht einfach so am Telefon sagen, dass du lebst."
Ethan schaute mich schuldbewusst an. Früher wäre ich nun zu ihm gegangen und hätte ihn irgendwie geärgert, damit er endlich wieder lachte. Nun starrten wir uns einfach nur an.
Momente vergingen.
Ungeduldig knabberte ich an meiner Unterlippe.
„Du studierst jetzt also hier", hielt Ethan fest. „Forstwirtschaft, wie man hört?"
Ich nickte, als mir einfiel, dass Jake es ihm sicherlich gesagt hatte.
„Und du?"
„Sport."
„Lass mich raten, Schwerpunkt Eishockey?", glänzte ich diesmal mit meinem Hintergrundwissen.
Ethan nickte.
„Sieht man", erkannte ich an, was Ethan zu freuen schien, denn ein Lächeln huschte über seine Lippen.
„Und wieso die UMaine?"
Ich zuckte mit den Schultern und schaute aus dem Fenster. „Hab vor Jahren einen Bericht im Fernseher gesehen. Über die Nationalparks in Maine. Dann war eigentlich alles klar. Ich war einfach ... schockverliebt. Ich wusste, hier oder nirgendwo", gab ich zu.
Ethan hielt inne, ehe er sein Gesicht zu einem Lächeln verzog. „Du und deine Wälder", merkte er an und nickte dabei gedankenversunken, ganz so, als würde er sich gerade daran erinnern, wie ich immer mit dreckigen Hosen und zerrissenen Oberteilen am Abend von meinen Waldabenteuern nach Hause gekommen war. Ronja Räubertochter wäre neidisch geworden. „Kaum zu glauben, dass Jules dich einfach hat gehen lassen ... ich meine, Orono ist nicht gerade um die Ecke."
„Ja ... es war auch nicht einfach für sie. Nicht, nachdem sie erfahren hatte, wo genau ich und Hope hinwollten jedenfalls. Jacksonville oder so was wäre sicher nicht so dramatisch für sie gewesen."
Ethan lächelte erneut. „Das glaube ich." Dann schüttelte er schnaubend den Kopf. „In den kühlen Norden. Unglaublich. Als kleines Mädchen konntest du nicht genug von der Wärme bekommen."
„Tja ... ich bin aber kein kleines Mädchen mehr, Ethan", sagte ich spitzfindig. Dass er die ganze Zeit so tat, als würde er mich noch ach-so-gut kennen, nervte mich. Sechs Jahre waren eine verdammt lange Zeit. Und er hatte sie verpasst.
Ethan musterte mich. Vom Scheitel bis zu den Zehenspitzen. „Stimmt. Das bist du eindeutig nicht mehr."
Dann blickte er plötzlich auf, erhob sich vom Bett und ging zur Tür.
„Du willst schon wieder gehen?" Sofort sprang ich vom Bett auf. Ich hatte noch so viele Fragen. Und er war mir noch so viele Antworten schuldig.
„Eigentlich nicht", sagte er gelassen. „Aber deine Freundin kommt." Er öffnete die Tür und hielt sie Hope auf, die tatsächlich nur eine Sekunde später um die Ecke bog. Verwundert schaute ich ihn an. Woher wusste er das?
Als Hope Ethan erblickte, blieb sie gleich stehen und ließ ihren Blick über ihn fliegen. Innerhalb eines Wimpernschlags hatte sie ihn ausgecheckt und an ihrem winzigen Schmunzeln auf den Lippen erkennte ich, dass sie ihn heiß fand. „Huch ... Entschuldigung", trällerte sie und warf mir einen schnellen Blick zu. Ich verdrehte die Augen, woraufhin ihr Grinsen noch breiter wurde.
„Du bist dann wohl der verschollene Nachbarsjunge, den Ivy jeden Morgen angeschmachtet hatte."
„Hope!", entfuhr es mir lauthals und sofort wurde ich rot.
Ethan schaute mich irritiert und belustigt zugleich an und zog eine Braue in die Höhe. „Ach, hat sie das?"
Oh mein Gott. Ich wünschte, der Boden würde sich einfach unter mir auftuen und mich verschlucken.
„Oh. Hupsi." Hope hob ihre Hände vor die Brust und warf mir einen flehentlichen Blick der Entschuldigung zu. „Lassen wir das besser. Hi, ich bin Hope." Sie reichte Ethan die Hand, doch sein verwunderter Blick klebte immer noch an mir.
Hope räusperte sich, woraufhin sie Ethans Aufmerksamkeit endlich zurück gewann und er ihre Hand schüttelte.
„Ethan", sagte er charmant. „Aber du weißt offenbar eh schon alles." Nie im Leben hätte ich gedacht, dass die Beiden sich mal einander vorstellen würden. Hope hatte ich erst ein halbes Jahr nach Ethans Verschwinden kennengelernt.
„Freut mich." Hope zog ihr hübschestes Lächeln, eher ihr einfiel, dass sie vielleicht stören könnte. „Also, sorry, ich lass euch zwei Hübschen dann mal wieder alleine."
„Nicht nötig, ich muss eh los." Ethan warf mir einen kurzen Blick zu. „War schön dich zu sehen, Kitz."
Immer noch rot wie eine Tomate, schaffte ich es nur kurz zu lächeln.
„Hope." Ethan nickte ihr in einer Art zu, bei der die kleine Ivy sofort dahingeschmolzen wäre. Und ganz offenbar auch Hope.
„Bye, Ethan. Wir sehen uns jetzt bestimmt öfter", trällerte sie, während dieser sein breites Kreuz durch die Tür schob und er leise lachend im Flur verschwand.
Hope schloß die Tür hinter ihm und riss die Augen auf. „Ach du heilige Scheiße, Ivy!", quiekte sie laut und sprang mir entgegen. „Dieser Typ ist eine Zehn von Zehn. Ach was sag ich ... eine Zwanzig. Und du lässt ihn einfach gehen?"
Ich ließ ich mich rücklings auf Bett fallen und stöhnte auf. „Hooooope, wie konntest du ihm das nur sagen? Er war fast wie mein zweiter großer Bruder, verdammt. Seinen fast-Bruder anzuhimmeln ist nicht cool, auch rückblickend nicht." Aus lauter Scham schlug ich meine Hände vors Gesicht.
Nur Sekunden später lag Hope neben mir und kringelte sich vor Lachen. „Du sagst es doch selber, fast- Bruder! Fast ist eben nicht ganz, also entspann dich. Außerdem warst du noch ein kleines, naives Mädchen, also lach doch drüber. Ist voll lustig."
Immer noch ungläubig schüttelte ich den Kopf. „Ich kann nicht glauben, dass du ihm das eben wirklich gesagt hast."
„Und ich kann nicht glauben", quiekte Hope vergnügt weiter. „Dass du mir verheimlich hast, dass deine Kinderzimmerliebe so ein verdammt heißer Typ ist."
„Erstens, ich habe ihn nicht geliebt, okay? Das war mehr so ein Schwärmen. Nicht mehr, nicht weniger."
„Ist fast das Selbe", zog Hope mich weiter auf.
„Zweitens, früher sah er ganz anders aus ... und drittens, er ist nicht heiß!"
„Oh doch!", protestierte Hope. „Und ich weiß ganz genau, dass es dir auch aufgefallen ist!"
Tatsächlich musste ich zugeben, dass Ethan sich nicht unbedingt zum Schlechteren entwickelt hatte.
„Na ja, ein bisschen vielleicht", gab ich lachend zu.
„Ich wusste es!", quiekte Hope sichtlich begeistert. „Du hattest diesen Blick drauf, als er eben in der Tür stand."
„Was für einen Blick?"
„Deinen Schock-verliebt-Blick."
Ich starrte in Hopes rechthaberisches, vom Lachen gerötetes Barbiegesicht.
„Du bist ja völlig bescheuert!", sagte ich vehement, doch Hopes Grinsen war einfach zu ansteckend, und meine Reaktion Hope Antwort genug.
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