8. Im Spiegel
Traurig saß er in dem Zimmer seiner Kinder. Sein Sohn war längst erwachsen, die Tochter würde es ebenfalls bald sein. Der Sohn wollte, das Zimmer neu gestalten, es zu einem Salon oder Studierzimmer umbauen, doch der alte Mann konnte es nicht verändern. Hier war seine geliebte Frau gestorben. Noch immer konnte er das Blut riechen, die Wärme spüren. Als würde ihr Geist warten. Sicherlich wäre sie sehr stolz auf ihren Sohn. Er war ihr so ähnlich.
"Was sollen wir tun?" Irma sah ihn fragend an.
"Das fragst du mich? Ich weiß nur auf diesem Schreibtisch muss etwas sein, dass wertvoll ist. Sonst hätte er es nicht so gut versteckt. Wir müssen es einfach irgendwie holen."
"Wer ist er?", fragte Arthur und strich zögerlich über den Spiegel. Die zwei Leichen schnappten nach seiner Hand und knurrten böswillig. Zum Glück war das Glas zwischen ihnen sonst hätte Arthur längst seine Hand eingebüßt.
"Der Erbauer natürlich." Arthur zog die Augenbrauen zusammen. Es hörte sich fast so an als hätte sie eine persönliche Beziehung zu dem Architekten gehabt.
"Kanntest du ihn?" Irma seufzte theatralisch und stemmte die Hände gegen ihre Hüften.
"Nein, das war nur so dahin gesagt. Können wir uns jetzt bitte auf die Leichen und das Rätsel konzentrieren?" Widerwillig nickend gab Arthur sein Einverständnis.
"Okay. Wie wollen wir es machen?" Irma hielt einen Finger hoch und deutete ihm damit zu warten, während sie durch die Tür in den blauen Stock verschwand. Seufzend blieb Arthur zurück und dachte sich was für ein seltsames Date sie doch hatten. Allerdings wollte er sich nicht wirklich beschweren. Die Zeit mit Irma war überraschend angenehm und tatsächlich brannte die Neugierde in ihm.
Er wollte ebenso wie sie herausfinden was auf diesem Schreibtisch lag oder sich vielleicht darin versteckte. Seit dem Rätsel im Badezimmer bei dem er sein Messer gewonnen hatte, spürte er so etwas wie Freude. Die Antworten auf alle Rätsel des Hauses zu knacken würde ihn beschäftigen und dazu zwingen morgens aus dem Bett zu steigen. Es wäre die dringend benötigte Motivation den Tag tatsächlich zu nutzen. Irma kam zurück, in ihren Händen lag eine schwer aussehende Lampe.
"Aus dem Schlafzimmer gegenüber. War das schwerste, dass ich auf die Schnelle finden konnte. Wird doch sicher reichen um den Spiegel zu zerschlagen."
"Und was machen wir dann?", fragte er mit Seitenblick auf die hungrigen Leichen. Sie schleckten die Innenseite des Spiegels ab und zeigten ihnen dabei ihren schwarzen, verfaulten Rachen. Irma zuckte mit den Schultern.
"Das finden wir dann schon raus.", meinte sie leichthin und holte aus. Arthur versuchte sie zu stoppen, kam jedoch zu spät. Das Glas zerschellte in tausend Teile und die Leichen, dessen Gesichter Irma und Arthur trugen fielen zu Boden. Schnell sprang Irma über die sich windenden Leichen und lief in den Spiegel, Arthur zwang sich aus dem Schock und folgte.
Im Spiegel wehte starker Wind und das Getöse war laut. Es war schwer gegen den Wind zu laufen. Außerdem war es gleißend hell, das Licht brannte in den Augen. Woher das Licht kam konnte Arthur nicht sehen, doch die weißen Wände innerhalb des Spiegels reflektierten das Licht noch zusätzlich.
"Ich lenke sie ab. Lauf zum Schreibtisch!.", schrie Irma und drehte sich zu den Leichen um. Mutig rannte sie ihnen entgegen und lockte sie von Arthur weg. Dieser hatte gar nicht die Chance zu protestieren. Mühsam kämpfte er sich gegen den Wind nach vorne zum Schreibtisch. Je schneller er war, umso schneller wäre Irma aus der Gefahrenzone. Er trat zu dem aus dunklem Holz geschnitzten Schreibtisch und sofort fiel sein Blick auf ein Blatt Papier.
Es war eine Zeichnung von einem lächelnden Mund, der mit dicken, schwarzen Linien durchgestrichen war. Interessanterweise blieb das Papier liegen, nicht mal seine Ecken flatterten im starken Wind. Als wäre es an den Schreibtisch geklebt. Vorsichtig strich Arthur darüber und spürte die sanften Linien der Zeichnung und die aggressiveren schwarzen Striche.
"Arthur!", schrie Irma und erschrocken sah er auf. Irma lief immer noch im Kreis, doch eine der Leichen, die Arthur-Leiche, war weggebrochen und kam nun mit schlurfenden Schritten auf ihn zu. Zögerlich griff Arthur nach dem Papier. Überraschenderweise löste es sich vom Schreibtisch und offenbarte eine geschnitzte Botschaft.
"Der Preis für mein Schweigen.", stand dort in furchtbar zerstörerischer Schrift. Arthur hatte keine Zeit sich darüber Gedanken zu machen, stattdessen schob er das Papier in seine Hosentasche und lief so schnell er konnte Richtung Ausgang. Die Scherben des Spiegels fingen an sich wieder zusammenzusetzten und ihr Ausweg wurde von Sekunde zu Sekunde kleiner.
"Irma, schnell!", rief Arthur gegen den Wind und sah aus den Augenwinkeln wie Irma ihm nachlief. Sie holte schnell auf und gemeinsam sprangen sie durch das verbliebene Loch im Spiegel. Hinter ihnen schloss sich der Eingang. Es herrschte totenstille und ein unangenehmes Klingeln in seinen Ohren erinnerte Arthur an das vorherige Getöse.
Die plötzliche Dunkelheit machte ihn beinahe blind. Nur durch mehrmaliges Blinzeln konnte er das Mädchen neben sich überhaupt erkennen. Irma ließ sich zu Boden fallen und atmete keuchend ein und aus.
"Das war genug gerenne für heute.", meinte sie gebrochen lächelnd. Arthur konnte ihr nur zustimmen. Sein Herz raste immer noch und seine Beinmuskeln brannten. Mit einem Blick zurück zum Spiegel erkannte er das ihre Spiegelbilder wieder gesund und ihnen gleich sahen und erleichtert ließ er sich neben Irma auf den Boden sinken.
"Das war knapp.", hauchte er und zog die Zeichnung aus seiner Hosentasche.
"Hat es sich gelohnt?", fragte Irma und drehte sich zu ihm. Mit den Schultern zuckend reichte er ihr die Zeichnung und dachte an die Inschrift.
"Der Preis für mein Schweigen, stand da. Ich glaube der Erbauer meinte damit die Leichen. Vielleicht hat er wegen etwas wichtigem geschwiegen und ist dafür gestorben oder so."
"Oder jemand anderes musste deswegen leiden.", entgegnete Irma, ihr Blick fest auf der Zeichnung.
"Was glaubst du soll diese Zeichnung bewirken oder soll sie uns etwas sagen?"
"Keine Ahnung. Ich muss darüber nachdenken." Arthur sah auf seine Armbanduhr und setzte sich erschrocken auf.
"Scheiße! Wir haben das Mittagessen verpasst! Komm mit, vielleicht ist noch was übrig!" Schnell stand Arthur auf und wartete vergebens auf Irma.
"Da wandern jetzt die Seelenfresser herum." Gemütlich setzte sie sich auf und steckte die Zeichnung ein.
"Ich glaube ich kann dir vertrauen, oder Arthur?" Zögerlich nickte er und half ihr aufzustehen.
"Gut, dann komm mit. Ich muss dir da was Zeigen." Hand in Hand verließen sie das Tanzstudio und wanderten die Flure des blauen Stockes entlang. Arthur hatte sich noch nicht die Zeit genommen um diesen Stock zu erkunden und starrte fasziniert auf die Wandbemalungen.
Es waren Meerestiere. Besonders dominant waren Buckelwale. Ganze Familien von Buckelwale. Vor einem Gemälde blieb Irma schließlich stehen. Es zeigte ein Segelschiff auf hoher See. Verstohlen sah sie sich um und drückte das Bild schließlich auf. Dahinter war eine Tür.
"Wow. Ist das wieder ein Geheimgang? Wohin führt er?" Irma lächelte.
"Das wirst du schon sehen. Hab Geduld." In die Tür eingearbeitet war eine Einbuchtung mit einer spitzen Nadel. Ohne zu zögern griff Irma zu der Nadel und stach sich daran. Ein Tropfen Blut kam zu Vorschein und die Tür schwang lautlos auf.
"Die Tür will Blut, ohne geht sie nicht auf.", kommentierte sie und kletterte in den Gang.
"Wie Makaber. Und ich dachte seltsamer kann es nicht mehr werden." Er hörte Irmas sanftes Lachen als er hinter ihr in den Gang kletterte. Es war dunkel und stickig, zwar konnte er aufrecht gehen doch angenehm war es nicht. Dazu kam, das die Treppe sie nach oben führte und er keine Ahnung hatte, wo seine Reise aufhören würde.
Dawn hatte ihm erzählt, dass es nur drei Stockwerke und ein Erdgeschoss gab. Mehr nicht. Wohin also brachte ihn Irma. Als sie endlich stehen blieb klopfte Arthurs Herz wild und nervös leckte er sich über die Lippen.
"Willkommen in meinem Paradies.", flüsterte Irma und öffnete die Tür um einen Dachboden zu enthüllen. Hölzerne Streben waren überall erkennbar, es war staubig und die Wände waren furchtbar kahl. Hier sprach nichts mehr von dem glamourösen Innenleben der anderen Stockwerke. Aber es war nicht mehr dunkel.
Elektronisches Licht wie auch in dem Rest des Hauses erhellte den weitläufigen Raum. In einer der Ecke konnte Arthur ein Nachtlager erkennen. Mit der Matratze und den vielen Decken sah es ein wenig wie ein Nest aus. In der Ecke gegenüber lagen Unmengen an ungeöffneten Konserven. Arthur lief sofort das Wasser im Mund zusammen, als er all das Essen sah. Überrascht blieb er davor stehen.
"Woher hast du das alles?" Irma lächelte stolz und griff nach einer der Dosen.
"Aus dem Nest der Seelenfresser." Erschrocken riss er die Augen auf und starrte ihr ins Gesicht.
"Und du lebst noch?" Sie lachte leise und zog ihn von den Konserven weg. Routiniert öffnete sie die Dose und begann sie mit Kerzenflammen zu erhitzen.
"Ich hab da so meine Tricks."
"Kannst du sie mir verraten?" Hoffnungsvoll blickte er sie an und nach kurzem Zögern nickte sie.
"Na gut. Ich glaub du hast gemerkt, dass dieses Haus nach einem gewissen Zeitplan lebt."
"Ja, wird nach einer Weile sicher auch langweilig." Irma legte den Kopf schief.
"Im Gegenteil. Wenn du den Zeitplan wirklich gut kennst, gibt er dir Freiheit. Ich hab herausgefunden, dass zum Abendessen alle Seelenfresser ihr Nest verlassen. Normalerweise bleiben immer ein paar faule zurück oder warten länger als andere. Aber für fünfzehn Minuten während des Abendessens sind sie weg und lassen ihr Nest, das überquillt mit Lebensmittel vollkommen ungeschützt. Wenn du diese fünfzehn Minuten nutzen kannst, brauchst du weder beim Mittagessen noch beim Abendessen mittmachen."
Fasziniert hörte Arthur zu und beobachtete dabei wie das Essen langsam warm wurde und den gesamten Dachboden mit einem herrlichen Duft füllte.
"Aber reicht die Zeit um genug zu kriegen?", fragte er skeptisch, besonders da das Risiko enorm hoch war. Irma zuckte mit den Schultern.
"Du musst nicht suchen. Das Essen ist dort zu Bergen gestapelt und wenn du nicht wählerisch bist, kannst du mit vollen Taschen wieder verschwinden und durch einen der Geheimgänge in der Küche sofort hoch in den grünen Stock. Ich hatte noch nie Probleme, seit ich es so mache. Und immer einen vollen Magen. "
Irma nahm eine der Tassen neben ihrem Schlafnest und füllte sie mit dem Essen. Gierig nahm Arthur sie entgegen und schlang als gebe es kein Morgen. Belustigt betrachtete sie ihn. Als nach ein paar Minuten seine Tasse leer war, füllte sie nach.
"Und du lebst hier oben auf dem Dachboden?", fragte er mit vollem Mund. Er wollte nicht unhöflich sein, aber sein Magen ließ keine Pause zu. Irma nickte und betrachtete ihr Zuhause mit einem liebevollen Blick.
"Seit Ewigkeiten schon. War ein riesen Glück, dass ich den Geheimgang gefunden habe. Es ist sicher hier oben. Sicher und behütet. Die Sauger kommen nicht rauf und außer uns beiden kennt niemand den Weg.", misstrauisch sah sie ihn an. "und du wirst ihn auch niemanden verraten." Heftig nickend stimmte er ihr zu. Er war loyal gegenüber seinen Freunden und so wie er Dawn und King niemals verraten würde, würde er es auch bei Irma nicht tun.
"Natürlich. Ich würde nie etwas tun, dass dir schadet." Ein süßes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus und mit roten Wangen zeigte sie auf den Berg an Konservendosen.
"Wenn du noch Hunger hast, können wir noch eine Aufmachen." Arthur zögerte keine Sekunde und schnappte sich eine der Dosen.
"Tut mir leid. Ich hab nicht gut gegessen, seit ich hier bin."
"Die Nahrungsmittel sind knapp. Zumindest wenn man nicht weiß, wo man sie findet." Arthur dachte an den hageren jungen Mann neben Ice. Er hatte viele gesehen, die eine gute Mahlzeit dringend nötig gehabt hätten.
"Ich glaube das soll so sein, damit es weniger Kämpfe gibt. Alle sind einfach zu schwach um wirkliche Bandenkriege zu führen. Stattdessen werden sie von diesen Hallos und den Monstern langsam in den Wahnsinn getrieben."
Das verrottete Gesicht seiner Mutter blitzte in Arthurs Gedanken auf und ein Schauer rieselte über seine Wirbelsäule. Seiner begrenzten Erfahrung nach war Wahnsinn in diesem Haus keine Option sondern eine Tatsache.
"Gekämpft wird trotzdem."
"Das liegt in der Natur der Menschen. Genauso wie Grausamkeit." Bedächtig schüttelte Arthur den Kopf.
"Nein. Das will ich nicht glauben. Ich denke, es gibt gute Menschen. Und ich glaube, dass jeder ein wenig Gutes in sich trägt." Verblüfft riss Irma die Augen auf und starrte ihn an.
"Wie zur Hölle bist du hier nur rein geraten?" Beschämt zuckte Arthur mit den Schultern und aß den letzten Rest der zweiten Konserve.
"Falscher Ort, falsche Zeit, würde ich sagen."
"Hast wohl Pech gehabt. Was ist passiert?" Neugierde schwang in ihrer Stimme mit und zum ersten Mal erkannte er ehrliches Interesse in ihren blauen Augen. Und er wollte es ihr erzählen, von Anfang an, einfach alles loswerden, doch er war nicht bereit darüber zu sprechen. Die ganze Sache war zu frisch. Er fürchtete in Tränen auszubrechen oder Details zu vergessen. Jedes Mal wenn er an die Gerichtsverhandlung und die Zeit davor dachte, begann sein Herz zu rasen und Bilder überschwemmten seine Gedanken. Mitfühlend strich sie über seine Wange.
"Ich..ich kann nicht. Noch nicht.", flüsterte er beschämt. Irma lächelte ihn schief an.
"Lass dir Zeit. Wir haben es nicht eilig. Ich wette gut geschlafen hast du auch nicht. Diese Augenringe sehen fast wie Veilchen aus."
"Die Sauger...und die Hallos...nein, ich hab so gut wie nichts geschlafen." Spitzbübisch grinsend krabbelte sie in ihr Nest aus Decken und deutete ihm zu folgen.
"Dann komm her. Wir können ein bisschen dösen und wenn die Zeit kommt, hilfst du mir beim Essen klauen. Zu zweit können wir sicherlich viel mehr mitnehmen und bessere Sachen. Ich habe dort bei den Seelenfressern sogar eine ganze Torte gesehen. Die könnten wir uns holen."
Arthur lachte über ihre kindliche Begeisterung und kletterte neben sie in das wirr warr aus Decken und Polstern. Es war warm und... sicher. Zögerlich schmiegte sie sich an ihn. Das Gefühl eines warmen Körpers neben sich, entlockte Arthur ein zufriedenes Seufzen. Daran war nichts sexuelles, es war die Freude über menschliche Berührung, die Nähe eines anderen Menschens.
"Ich helfe dir bei allem. Und zusammen können wir auch dieses Rätsel lösen.", gähnte Arthur glücklich. Es war lange her, dass er sich so gefühlt hatte.
"Schlaf gut, Arthur.", flüsterte Irma in sein Ohr und schon spürte er wie er in tiefen Schlaf fiel. Das Klopfen des Regens und Irmas sanfter Atem ganz nah bei ihm, war alles was die behagliche Stille störte.
Anmerkung der Authorin: Sind die beiden nicht süß?
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