11. Ein Blick in die Vergangenheit
Die Frau des alten Mannes hatte ihm soeben eine Tochter geboren. Ein wunderschönes Mädchen, dessen blaue Augen sein Herz erwärmten. Sein Sohn lag neben der Ehefrau im Bett und klammerte sich an seine Mutter. Und während der alte Mann seine Tochter auf dieser Welt begrüßte, küsste seine Frau den Sohn. Immer wieder flüsterte sie ihm zu, dass das Mädchen nichts an ihrer Liebe zu ihm ändern würde, dass das Mädchen unbedeutend war. Irritiert starrte der alte Mann seine Frau an und sein Blick wanderte zu dem großflächigen Verband an ihrem Bauch. Der Arzt hatte eine große Narbe prophezeit.
Der Mann im Gemälde schrie! Er schrie so laut und schmerzerfüllt wie ein Mensch es nur tun konnte. All die Wut und Trauer schienen in diesem Ausruf der Qualen zu liegen. Arthur und Irma schrien ebenfalls.
Reflexartig brüllten sie sich die Seele aus dem Leib und hörten erst auf als die Lichter wieder angingen und das Gemälde seine vorherige Form angenommen hatte. Nun ja nicht vollkommen. Anstelle des lächelnden Mundes starrte ihnen ein durch und durch totunglücklicher Mann entgegen.
"Was zur Hölle war das!?", fragte Arthur heiser und fühlte unauffällig ob er sich vor lauter Angst nicht doch in die Hose gemacht hatte. Nein, die Hose war trocken aber sein Herz raste trotzdem. Irma war überraschend gefasst als sie sich näher zu dem Gemälde beugte.
"Keine Ahnung. Aber wenn das alles war, bin ich enttäuscht. Ich dachte wir kriegen was für die ganze Arbeit." Wie aufs Stichwort schwang das Bild zur Seite und offenbarte einen Schlüssel. Genervt seufzend nahm Irma ihn entgegen.
"Na wunderbar und jetzt müssen wir auch noch rausfinden zu was der passt." Die Augen verdrehend reichte sie ihn an Arthur weiter. Dieser betrachtete den rostigen Schlüssel neugierig. Er war etwa so lang wie seine Handfläche und hatte einen breiten Griff. Darauf war ein Fisch graviert. Diesen Fisch hatte Arthur schon einmal gesehen. Er schwamm als einziger Fisch in einer Herde von Walen neben einem sehr spezifischen Zimmer. Einem verschlossenen Zimmer im blauen Stock.
"Ich weiß wohin der gehört. Komm mit." Wie von Sinnen rannte Arthur los, er war von Neugierde und Abenteuerlust gepackt. Dieses Rätsel gestaltete sich doch spannender als Arthur es sich je zu hoffen gewagt hatte. Irma nahm seine Hand und lief neben ihm her, einen bewundernden und ebenso aufgeregten Blick im Gesicht. Vor den Wandmalereien der Buckelwalherde blieb er stehen.
"Da, da ist unser Fisch. Wie auf dem Schlüssel graviert. Und dieses Zimmer daneben hab ich beim letzten Mal nicht aufmachen können." Fachmännisch stand Irma vor besagter Tür und betrachtete sie skeptisch.
"Ich kenne diese Tür, da führt auch kein Geheimgang hinein. Und du glaubst dieser Schlüssel wird sie aufsperren?" Arthur zuckte mit den Schultern.
"Es gibt nur einen Weg um es herauszufinden." Ohne weiteres zögern ließ er den Schlüssel ins Schloss gleiten und drehte ihn herum. Sie hörten ein klack und die Tür schwang auf. Offenbarte ein Schlafzimmer. Vorsichtig trat Arthur ein und zog Irma hinter sich her. Sobald sie im Raum waren, schloss sich die Tür automatisch und verunsichert sahen sie einander an.
"Und jetzt?", flüsterte Irma sorgenvoll. Der Raum wurde durch eine blaue Glühbirne in der Mitte der Decke beleuchtet, zeigte ein großes Himmelbett, einen hölzernen Kleiderschrank und einen großzügig ausgestatteten Schminktisch gegenüber der Tür. Daran saß eine gespenstische aussehende Frau. Ihr langes blondes Haar wirkte in dem fahlen Licht weiß und das lange Kleid betonte eine schmale Taille und runde Hüften.
Sie war durchsichtig und schien weder Arthur noch Irma zu beachten. Arthur erkannte ihr Spiegelbild als die Frau in dem Familienportrait im Erdgeschoss. Dies musste die Frau des Erbauers sein. Arthur wagte nicht zu atmen, sein Körper stand unter Höchstspannung. Die Frau steckte ihr Haar hoch und summte dabei leise.
>Hast du die Zeitung schon gelesen, Darling?<, fragte plötzlich eine andere Person. Ein Mann trat aus dem nichts, auch er war durchscheinend und schenkte ihnen keine Beachtung. Der altem Mann fuhr sich über das faltige Gesicht und Arthur erkannte auch ihn als den Mann vom Gemälde.
"Das muss der Erbauer und seine Frau sein.", raunte er in Irmas Ohr. Sie schien jedoch nichts zu hören, ihre weit aufgerissenen Augen starrten den Gespenstern entgegen.
>Nein, ich musste viel erledigen. Dein Sohn braucht viel Aufmerksamkeit.<, erwiderte die Geisterfrau ihrem Mann und lächelte ihn wissend an. Der alte Mann lachte und zog seine Gemahlin in seine Arme. Die Szene wirkte so glücklich und einfach. Dies schien nicht derselbe bekümmerte Mann vom Bild im Flur. Dieser Mann strahlte Liebe und Glück aus, seine Augen blieben stets auf seiner schönen Frau. Die beiden küssten sich, als ein Junge ins Zimmer trat. Er zog ein kleines Mädchen hinter sich her.
"Das sind ihre Kinder, die Kinder vom Bild.", hauchte Arthur fasziniert. Dieses Zimmer offenbarte ihnen die Vergangenheit, einen Teil der Geschichte. Die Geschichte des Erbauers. Der Junge war stark und selbstbewusst, während das Mädchen überseht von blauen Flecken, sich ängstlich duckte. Das Gesicht der Frau hellte sich auf als sie den Jungen sah, verzog sich angewidert als sie das Mädchen bemerkte.
>Mutter, sie hat sich wieder in die Küche geschlichen! Ich habe es genau gesehen.< Der alte Mann sah das kleinen Mädchen mitleidig an, blieb jedoch vollkommen still als seine Frau sich aus seinen Armen schälte und dem Kind eine schallende Ohrfeige verpasste.
>Wie oft muss ich dir sagen, du sollst in deinem Zimmer bleiben! Du dummes, ungehorsames Ding!< Das Mädchen schluchzte und wischte sich über die blutende Nase. Hilfesuchend wandte sie sich an ihren Vater. Daraufhin wurde die Frau noch wütender.
>Hör auf deinen Vater so anzustarren. Junge, sperr sie in ihr Zimmer. Ich werde später zu ihr kommen.<
Der Junge nickte gehorsam und zerrte das Mädchen aus dem elterlichen Schlafzimmer. Erst als sie verschwunden waren, wandte sich der alte Mann seiner Frau zu.
>Bist du nicht etwas streng zu ihr? Sie hatte sicherlich nur Hunger.<, meinte er kleinlaut und Arthur wusste schon in diesem Moment, dass dieser Einwand bei der Frau auf taube Ohren stoßen würde. Mit einem wütenden Blitzen in den Augen wandte sie sich ihm zu.
>Wag es ja nicht mir etwas vorzuschreiben. Ich habe dir zwei Kinder geboren. Den Sohn, den du immer wolltest! Mit dem Mädchen verfahre ich wie ich es für richtig halte.< Ihr Blick ließ keine Widerworte zu und zum ersten Mal sah Arthur den bekümmerten Blick in den Augen des alten Mannes. Seine Lippen öffneten sich als wollte er etwas sage, als wollte er doch für seine Tochter einstehen. Und für einen Moment hegte Arthur Hoffnung für das Mädchen, doch brodelnd legte die Frau den Kopf schief und der alte Mann schloss den Mund wieder, ließ die Schultern hängen und nickte. Er verließ das Zimmer und hinterließ seine lächelnde Frau.
Sie hatte ihren Willen durchgesetzt und von weitem konnten sie das kleine Mädchen schreien hören. Das blaue Licht verschwand und so taten es auch die Geister. Staunend sah Arthur sich um.
"Der Preis für mein Schweigen.", raunte er und trat zu dem Schminktisch.
"Was?", fragte Irma hinter ihm und strich sanft über das Bett.
"Der alte Mann hat geschwiegen und der Preis dafür waren die Qualen seiner eigenen Tochter. Deshalb schreit er, deshalb sah er sich selbst als lebende Leiche."
Arthur war von der Geschichte fasziniert und wollte mehr wissen. Wenn dies wirklich die Vergangenheit des Erbauers war, was war aus seinen Kindern und seiner Frau geworden. Was hatte ihn dazu veranlasst, diese Hölle zu bauen und für wen?
"Wie konnte er zulassen, dass die Frau, dass mit ihrer Tochter macht?", flüsterte Irma und blickte Arthur untröstlich an. Erst in diesem Moment fielen Arthur die Ähnlichkeiten zu Irmas Vergangenheit ein.
"Deine Mutter war genauso." Irma nickte und griff nach einem der Schminkpinsel.
"So eitel, so grausam.", meinte sie und seufzte tief. Sie ließ sich auf den Sessel fallen und aktivierte damit einen versteckten Mechanismus. Sätze erschienen auf dem Spiegel. Mit Lippenstift geschrieben und reichlich verziert offenbarten sie einen weiteren Hinweis. Überrascht begann Arthur vorzulesen.
"Tausend Namen gab ich dir,
doch nur vier blieben mir.
Vier wie Blumen edel und rein,
am Ende war der Name Frieden dein."
"Was soll das bedeuten?", fragte Irma angespannt und sah ihn unverständlich an. Arthur nahm sich Zeit, las die Zeilen wieder und wieder, so lange, dass Irma sich schmollend ins Bett verzog und er sich vor den Spiegel setzte. Da war etwas, etwas in seinem Hinterkopf, Namen, Blumen und die Zahl vier. All das ergab Sinn.
"Vier Namen die auch Blumen bezeichnen.", raunte er für sich.
"Was? Was redest du da? Welche Namen und welche Blumen? Ich versteh gar nichts." Ungeduldig drehte Arthur sich zu seiner Freundin und versuchte seine Gedanken in Worte zu fassen.
"Im grünen Stock gibt es Blumenbouquets die immer dieselben vier Blumen beinhalten."
"Und?"
"Und diese vier Blumen sind auch Mädchennamen. Wie in >tausend Namen gab ich dir<?!"
Verwirrt blickte Irma ihm entgegen und er beschloss diese Konversation an einen anderen Ort zu verschieben.
"Komm mit! Wir gehen auf Schatzsuche." Er nahm ihre Hand und gemeinsam liefen sie durch die Flure des blauen Stocks bis sie zu einer Treppe kamen und diese in einem hektischen Tempo nach unten rasten. Bei dem ersten Blumenstrauß blieb Arthur stehen und nahm einzelne Blumen heraus. Nacheinander hielt er sie hoch.
"Das ist die Schwertlilie auch Lily genannt. Wie der Mädchenname. Das ist die Rose, wie Rose, auch recht beliebt bei Mädchen. Die kleine hier ist Daisy oder das Gänseblümchen und zum Schluss noch Ivy besser bekannt unter ihrem anderen Namen Efeu. Sie alle werden sowohl für Mädchen als auch für Blumen verwendet."
"Ja okay, aber was sollen wir jetzt damit machen?" Ins Stocken kommend überlegte Arthur. Er hatte die Lösung, nun musste er nur noch wissen wo er sie anwenden musste. Plötzlich kam ihm eine Idee.
"Frieden war dein Name. Vielleicht suchen wir nach einem Zimmer dessen Wandbemalung etwas mit der Friedenstaube auf sich hat." Erkenntnis flackerte in Irmas Augen auf.
"Ich kenne so ein Zimmer. Es ist hier im grünen Stock. Folge mir." Arthurs neugieriges Herz wollte ihr nachlaufen und Geheimisse aufdecken, doch die schweren Dosen in seinem Rucksack erinnerten ihn an ein Versprechen, eine Schuld die er zu begleichen hatte.
"Ich muss vorher noch zu meinen Freunden. Geh schon mal vor.", meinte Arthur und drehte sich um. Irma nickte.
"Ich warte im Flur. Beeil dich!", rief sie ihm aufgeregt entgegen. So schnell Arthur konnte, lief er um die Ecken der Flure bis er King und Dawns Zimmer fand. Schwer schluckend mit klopfendem Herzen stand er einige Sekunden einfach nur davor und versuchte seine Atmung zu beruhigen. Dann endlich klopfte er an und wartete geduldig. Nichts geschah. Er klopfte erneut.
"King? Dawn? Seid ihr da? Ich bins Arthur.", sagte er laut genug um sich sicher zu sein, dass die Personen hinter der Tür es auch hörten. Wieder verstrichen einige Sekunden bis plötzlich die Tür geöffnet wurde und Dawn ihr müdes Gesicht nach draußen streckte. Fassungslos starrte sie ihn an. Unbehaglich winkte Arthur ihr zu und versuchte sich an einem Lächeln.
"Wow. Und ich dachte du wärst tot.", meinte sie daraufhin erstaunt.
"Bin ich nicht. Zumindest noch nicht."
"Nein wirklich jetzt. Normalerweise, wenn du einen Tag nicht auffindbar bist, bist du tot. Das ist ein unausgesprochener Fakt. Du bist keine Halluzination, oder?"
"Klopfen Hallos an die Tür?" Dawn schüttelte den Kopf.
"Bis jetzt nicht. Aber wer weiß.."
"Tut mir leid, dass ich mich nicht früher gemeldet habe." Arthur zuckte entschuldigen mit den Schultern und stellte seinen schweren Rucksack vor ihr ab.
"Ich hab euch was zu essen mitgebracht. Wie geht es King?" Dawn öffnete die Tür weiter und taxierte ihn von Kopf bis Fuß.
"King gehts gut. Er erholt sich langsam. Was hast du die letzten Tage so getrieben?"
"Lange Geschichte und ich würde sie dir sehr gerne erzählen, aber Irma wartete auf mich und ich wollte dir nur schnell die Vorräte bringen." Dawn nickte und verschränkte die Arme.
"Du bist also immer noch mit Irma unterwegs." Arthur konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen und wissend hoben sich Dawns Augenbrauen.
"Und hast Spaß mit ihr nehme ich an."
"Ja schon. Wie wärs wenn wir morgen zum Abendessen vorbeikommen? Dann können wir mehr reden und ihr könnt Irma kennenlernen." Dawn zuckte mit den Schultern und hob den Rucksack hoch.
"Na gut. Danke dafür, Und...ähm es ist schön, dass du noch lebst." Lächelnd umarmte Arthur seine Lebensretterin.
"Du hast mich gerettet als ich hier ankam. Ich werde dir das nie vergessen und ich werde euch weiterhin Essen bringen. So viel wie möglich. Ich möchte, dass wir weiterhin Freunde bleiben." Zögerlich erwiderte Dawn die Umarmung.
"Das wäre schön." Sie lösten sich voneinander, doch die Vertrautheit war tröstlich und angenehm für Arthur. Es fühlte sich fast wie eine Heimkehr an. Dawn war die Erste gewesen, der er vertraut hatte, ihr Lächeln hatte etwas behagliches für ihn. Schief lächelte sie ihm entgegen.
"Wir kommen schon klar...aber es ist gut zu wissen, dass wir Freunde sind." Mit einem Nicken verabschiedeten sie sich und Arthur lief davon noch bevor die Tür wirklich geschlossen war. Er wollte so schnell wie möglich zurück zu Irma. Schon bei der ersten Biegung jedoch kollidierte er mit ihr. Freudig wollte er ihr einen Kuss geben, doch sie drehte sich weg. Überrascht zog er die Augenbrauen zusammen.
"Was ist los?" Irma verschränkte die Arme und sah ihn missbilligend an.
"Ich wusste nicht, dass ihr euch so nah steht." Verwirrt kratzte Arthur sich am Kinn.
"Wer?"
"Na du und dieses hübsche Mädchen mit der du da grad rumgemacht hast!", zischte Irma ungehalten. Arthur hob beschwichtigend die Arme.
"Es ist nicht so wie es ausgesehen hat. Ich hab mich nur verabschiedet. Sie ist eine Freundin, sonst nichts."
"Umarmst du alle deine Freunde so?"
"Ja! Zumindest all jene die mir mal das Leben gerettet haben. Irma was soll das? Wieso bist du plötzlich so wütend. Ich hab dir doch von Dawn und King erzählt. Außerdem bist DU meine Freundin und ich würde dir niemals untreu sein!" Irmas zorniger Blick kühlte etwas ab, doch wirklich vergebend wirkte er auch nicht. Arthur seufzte und beschloss ruhig zu bleiben. Sanft zog er Irma in seine Arme und strich ihr liebevoll über das kurze Haar.
"Du musst dir keine Sorgen machen. Ich bin dir vollkommen verfallen. Niemals würde ich unsere Beziehung aufs Spiel setzen. Glaub mir, da läuft rein gar nichts zwischen mir und Dawn." Irma beugte sich weg und sah ihn skeptisch an.
"Versprochen?"
"Hoch und heilig." Langsam wurden Irmas Gesichtszüge wieder ruhig und beinahe verzweifelt drückte sie sich an ihn. Arthur hoffte nur, dass diese Eifersüchteleien nach dem Abendessen morgen für immer vorbei wären und er nicht noch einmal so eine Szene hatte.
Anmerkung der Autorin: Back from Isreal! Wow, was für ein geiler Urlaub. Aber jetzt geht es endlich wieder weiter. Ich habe das Schreiben so sehr vermisst. Als würde ein Teil von mir fehlen.
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