Prolog
„Ich sehe sie, ich sehe sie! Goswin, so sieh doch nur!"
Aufgeregt deutete Hadvra mit ihren schmutzigen kleinen Fingern zum Horizont, wo schemenhaft die ersten Hütten auftauchten - die Ausläufer der kleinen Handelsstadt Jokgunnsgraven.
Goswin antwortete nicht. Er wollte seine Kräfte lieber sparen. Seit Stunden trug er seine jüngere Schwester Hadvra auf den Schultern, während der Gepäcksack an seinem Rücken immer schwerer zu werden schien. Die Schwertscheide an seinem Gürtel mit dem schartigen alten Anderthalbhänder streifte mit jedem Schritt sein linkes Bein.
Er spürte jeden Knochen und Muskel in seinem Leib von dem anstrengenden Marsch. Seit Tagesanbruch waren sie unterwegs, nur zur Mittagszeit hatten sie eine kleine Pause eingelegt und sich mit Wasser und gesalzenen Fleischstücken gestärkt. Nun tauchte die untergehende Sonne alles in rötliches Licht, als wütete ein göttliches Feuer auf der Erde. Goswin blickte über die Schulter zurück zum Rest seiner Familie.
Seine Eltern, Bagnor und Gerda, führten den kleinen Tross an. Seine Mutter führte Wanderer, den schwer mit Gepäck beladenen Rappen der Familie, am Halfter, und der große neugierige Wolfshund namens Lämmchen tollte ausgelassen um sie herum.
Hinter ihnen folgten Goswins jüngere Brüder und Schwestern, vier an der Zahl, mit Hadvra waren es fünf - die Jungen Hanfried und Krabinian und die beiden Mädchen Anya und Relke spielten schon seit Stunden unermüdlich Haschen oder Verstecken. Nur Hadvra war mit ihren drei Jahren noch zu jung, um die gesamte Strecke zu laufen, ihre kleinen Beine ermüdeten schnell.
Seit Goswins ältere Brüder, die Zwillinge Gidear und Framan, die Familie verlassen hatten, um auf eigene Faust die Welt zu erkunden, musste Goswin sich oft um seine Geschwister kümmern. Er machte das gern, denn er liebte seine Brüder und Schwestern von ganzem Herzen, doch viel lieber würde er sich im Schwertkampf üben oder mit seinem Vater auf die Jagd gehen.
Umso mehr freute er sich auf die Rückkehr nach Jokgunnsgraven, denn dort lebten sie mit Goswins Onkel Falbert und dessen Familie in einem Haus - einem richtigen, echten Haus aus grob behauenen Steinquadern und einem mit Schindeln gedeckten Dach.
In der Stadt musste Goswin nicht die Verantwortung für seine jüngeren Geschwister übernehmen, sondern konnte mit seinem Vetter Thomen durch die Straßen oder die Wälder außerhalb der Stadt streifen, Faustkämpfe austragen und den Mädchen die Köpfe verdrehen.
Goswin blieb stehen und wartete, bis der Rest seiner Familie zu ihm aufgeschlossen hatte. Innerhalb der letzten Stunden hatte sich die Luft merklich abgekühlt und sein Atem bildete kleine weiße Wölkchen vor seinem Gesicht. Die Kälte spürte er kaum durch seine dicke, aus Wolle und Fellen bestehende Kleidung. Einzig seine Finger wurden allmählich taub, da er Hadvra die ganze Zeit an den Beinen festhalten musste, damit sie nicht von seinen Schultern fiel. Hadvra selbst hatte die Hände in seinem Haar vergraben und hielt sich mit einem vergnügten Grinsen daran fest. Es tat weh, aber Goswin war zu stolz, um sich darüber zu beschweren - schließlich war er fast ein Mann, gar ein Krieger.
„Vater?", ertönte da Relkes engelsgleiche Stimme.
„Sag, ist es noch weit bis zur Stadt?"
Bagnor lachte vergnügt und hob seine Tochter mit einem Arm hoch. Mit der freien Hand deutete er in Richtung der Stadt.
„Sieh ganz genau hin, kleiner Wirbelwind. Dort hinten ist die Stadtmauer - wir müssen noch eine Meile laufen, dann sind wir da."
Er setzte sie wieder auf dem Boden ab und Relke lief sogleich nach vorn, um ihre Brüder einzuholen. Hanfried und Krabinian nämlich hatten beschlossen, ein Wettrennen zu veranstalten. Anya wollte zuerst auch mitmachen, war aber recht schnell zurückgefallen und lief nun neben Goswin. Der sah seinen jüngeren Brüdern vergnügt nach, wohl wissend, dass sie nach spätestens zweihundert Schritt vollkommen ausgelaugt sein würden, behielten sie ihr schnelles Tempo bei - schließlich war er in Kindheitstagen selbst so gewesen.
Mit der Zeit war er ein wenig ruhiger und verantwortungsvoller geworden, doch nach wie vor ließ er sich ein Wettrennen oder einen Ringkampf mit seinen Vettern nicht nehmen.
Sein größtes Geschenk war und blieb seine Freiheit. Nie könnte er das ganze Jahr über hinter Stadtmauern leben, einem anderen Handwerk nachgehen als dem Söldnertum.
Er liebte den Kampf, das Leben in den Wäldern, das Umherziehen von Stadt zu Stadt mit seiner Familie. Für kein Gold der Welt würde er dieses Leben aufgeben.
Ein Lächeln legte sich auf seine Züge, und er beschleunigte seine Schritte ein wenig. Er konnte es kaum erwarten, die Stadt zu betreten, seine Verantwortung abzugeben und dann seine Freiheit in vollen Zügen zu genießen.
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