Kapitel 44 | Die Schatten werden länger VI
Eine drückende Spannung dominierte den kleinen Behandlungsraum. Die Luft war schwerer als am Abend eines heißen Sommertages, der in einem Gewitter enden sollte.
Frau Wasabi hatte ihnen erklärt, dass Niclas gerade mit ihr im Gespräch gewesen war, als Winfried ihr von Miles' Fehlen berichtet hatte. Er war neugierig geworden und wollte Frau Wasabi in dieser Sache der Hüter unterstützend beistehen, aber sie hatte ihn nicht gelassen. Doch wie es aussah, hielt Niclas ebenso wenig von Anweisungen wie Miles.
„Anscheinend hast du dich noch bei anderen unbeliebt gemacht, Lichtbringer", spottete Niclas, während er Frau Wasabis Verbände erneuerte. Die Hüterin hatte in ihren Erklärungen innehalten müssen und lag nun zitternd und keuchend auf der Liege des Behandlungsraumes. Noch hielt sie eisern daran fest, nicht das Bewusstsein zu verlieren, aber Miles machte sich ernsthaft Sorgen um sie. Die ausgewechselten Verbände waren pechschwarz und stanken nach verrottetem Fisch. Aber das war nichts im Vergleich zu der Verletzung, die die Hüterin so herunterspielte.
Zum Glück hatte Cora daran gedacht, Felix in den Arm zu nehmen und ihm die Augen zuzuhalten. Miles hätte am liebsten auch nicht hingesehen. Der Schatten schien ein ganzes Stück aus ihrem Unterleib rausgebissen zu haben. Die Verletzung blutete kaum, aber ihr Fleisch hatte sich verfärbt und wirkte ... schleimig.
Däx blieb als einziger von dem Anblick verschont. Für ihn als Nichtmagier sah es nur wie ein Kratzer aus.
„Dieser Anhänger des Hexenmeisters hat nämlich vorher die Schule inspiziert und gezielt nach dir gefragt", fuhr Niclas fort. „Anscheinend wollten sie sicherstellen, dass du nicht im Gebäude bist, wenn der Hexenmeister den Bann spricht."
„Wieso das?", fragte Miles, der immer noch auf die Wunde starrte, die Niclas mit einem Tuch zu säubern versuchte.
Der gescheiterte Hüter warf ihm einen genervten Blick zu. Er hatte seine Sonnenbrille für die Behandlung abgenommen.
„Keine Ahnung. Die Verschiebung der Hochschule ist nämlich eine bequeme Möglichkeit, alle wichtigen Magier dieser Stadt – inklusive dich, Lichtbringer – auf einen Streich loszuwerden, ohne kämpfen zu müssen. Wenn er wirklich alle Magie aus der näheren Umgebung zur Verfügung hat, kann er diesen Bann aufrecht erhalten, bis alle anderen in der Zwischenebene verhungert und verdurstet sind. Vielleicht dachte er, dass du als Lichtbringer in der Lage bist, den Bann von innen heraus zu sprengen." Niclas schnaufte abfällig. „Er überschätzt deine Fähigkeiten, was wohl der einzige Grund ist, warum du noch lebst, Schlappschwanz."
„Hey, so redest du nicht mit meinem Bro!", mischte Däx sich ein und stellte sich beschützend an seine Seite. Miles schob ihn zurück.
„Lass gut sein, Däx. Ich hab Niclas schon einmal was aufs Maul gegeben."
„Ja, bravo", kommentierte Niclas sarkastisch. „Versuche damit mal einen Hexenmeister zu beeindrucken. In einem magischen Gefecht bist du nichts! Du hast ja noch nicht mal eine Minute gegen mich durchgehalten."
Miles verstummte. Es stimmte, er hatte gegen Niclas verloren. Aber damals hatte er noch nicht den Stau beherrscht und auch noch nichts von seiner Doppelbegabung gewusst.
„Ah, na dann. Hat der Herr hoffnungslos gescheiterter Hüter es denn schon einmal mit drei Schatten aufgenommen?"
Niclas' Hände verharrten. In seinem Gesicht lag ein Blick, der pure Mordlust ausdrückte. „Toll, du hast Schatten vernichtet. Orcusabschaum bleibst du dennoch!"
„Orcuswas?"
„Ein Magier, der seine Kräfte gegen Nichtmagier einsetzt", erläuterte Cora, die das Gespräch aus dem Hintergrund verfolgt hatte. „Ist erstens gegens Magiergesetz und zweitens verabscheuungswürdig."
Miles runzelte die Stirn. „Wann hab ich denn jemals ..."
„Als du mir mit deinen kleinen Feuerfäustchen gedroht hast, vielleicht?", fiel Niclas ihm verärgert ins Wort. „Du wusstest nicht, dass ich ein Magier war. Du warst also bereit, einen wehrlosen Nichtmagier zu attackieren."
„Ich wollte einen viel größeren und stärkeren Typen einschüchtern, der einen kleinen Jungen verdreschen wollte!", rechtfertigte sich Miles.
„Verdreschen!? Der hat mein Lehrbuch gestohlen, weil er den Hals wieder nicht von Magie voll kriegen konnte!"
Miles warf einen Blick über die Schulter zu Felix, der gerade hinter Cora zu verschwinden versuchte. Der Kleine hatte anscheinend nicht nur Frau Wasabi angeschwindelt. Er war gut! Bei ihm erwartete niemand eine Lüge, dafür wirkte er viel zu unschuldig. Miles war so beeindruckt, dass er noch nicht einmal in Erwägung zog, auf seinen neuen kleinen Bruder sauer zu sein.
„Hättest du das nicht direkt sagen können!?", spie er Niclas stattdessen an. „Ich dachte, du willst ihm sonstwas antun." Wütend funkelte er den Sturmrufer an, dessen Miene nicht minderen Hass ausdrückte.
„Hört auf zu streiten", wisperte Frau Wasabi in die Stille hinein. „Egal was ihr für Differenzen habt, sie stehen uns jetzt im Weg. Also haltet mir zuliebe einen Waffenstillstand ... ihr nervt!"
Einen Moment glaubte Miles, Niclas würde trotzdem ausrasten, doch dann fuhr er damit fort, die Wunde der Hüterin zu versorgen. Dabei schwieg er. Auch Frau Wasabi schien nichts hinzufügen zu wollen, dabei hatte Miles gehofft, sie würde ihnen wenigstens noch verraten, was genau sie jetzt unternehmen sollten. Schließlich lief draußen nun ein schier allmächtiger Hexenmeister herum. Nachdem Cora ihr von dem Bann erzählt und Niclas ihr das Buch gezeigt hatte, hatte sie Flips Befürchtungen nur bestätigt.
Also wandte er sich Katy zu, die an dem großen Schreibtisch hockte, auf dem sie Blacky in Ermangelung einer zweiten Liege gebettet hatten. Eine ihrer Hände ruhte auf seinem Bauch, während die andere den Stab umklammert hielt, mit dem Miles schon eine schmerzhafte Begegnung hinter sich hatte.
„Varengards Stab", flüsterte Flip neben ihm, als er seinen Blick bemerkte. „Hätte nicht gedacht, dass ich den einmal sehen würde."
„Hmm?", fragte Cora. „Was ist an dem Stab so besonders?"
„Er gehörte einem der mächtigsten Artefaktschmiede, die jemals gelebt haben", erklärte Flip und ohne den Blick von dem Stab zu lösen. „Er kann eine Unmenge Magie fassen. Und wie es aussieht hat selbst der Bann der hundert verlorenen Seelen ihm seinen Vorrat nicht entreißen können."
Miles nickte. Der Stab erklärte, wieso Katy Blacky helfen konnte. Nachdem Frau Wasabi verletzt in der Hochschule eingetroffen war, um sich behandeln zu lassen und andere Hüter auszusenden, die ihn, Miles, finden sollten, hatte sie nur eine Veränderin im ersten Jahrgang und einen beleidigten Sturmrufer vorgefunden. Katy hatte Frau Wasabi verarzten sollen, aber da es keine Magie gab, hatte Frau Wasabi sie angewiesen, in bestimmten Räumen der Hochschule nach Zauberstäben zu suchen. Doch nur in Varengards Stab befand sich anscheinend noch Magie. Jedenfalls hatte Miles es nicht geschafft, mit einem der anderen Stöcke, die neben dem Schreibtisch achtlos zu Boden geworfen lagen, auch nur eine Kerzenflamme zu entzünden.
Niclas sollte unterdessen in der Stadt nach Hilfe suchen. Frau Wasabi hatte ihm ein paar Adressen aufgeschrieben und ihm ihre Autoschlüssel und damit ihren Ford Ka überlassen – und dabei besaß Niclas noch nicht einmal einen Führerschein! Das Einzige, was er jedoch mitgebracht hatte, war ein Busgeldbescheid von fünfzehn Euro, aufgrund falschem Parkens.
Und Felix und Flip!, fügte eine Stimme in Miles' Kopf hinzu. Auch wenn du es nicht hören willst: Er hat die beiden möglicherweise vor einem schlimmen Schicksal bewahrt.
„Ganz abgesehen, was für verborgene Kräfte dem Stab vielleicht noch innewohnen", riss ihn Flips Stimme aus seinen Gedanken.
„Ja, stimmt, er kann Miles' Libido anregen", frotzelte Cora bissig. „Sie könnte ihn damit zusammenschlagen und würde damit nur einen Orgasmus bei ihm hervorrufen."
„Hey, Cora ...!"
Als ob ihr Kommentar nicht schon schlimm genug wäre, nutze Katy diesen Moment, um die Augen zu öffnen.
„Für vergeben gibst du dich ganz schön eifersüchtig", sagte sie ruhig. „Weiß dein Freund davon?"
Überrascht zuckte Cora zusammen. „Was? Ich bin gar nicht eifersüchtig! Ich wollte Miles nur etwas ärgern und ... Moment, mal ... Freund?" Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen, als sie sich den Rest zusammenreimte. „Miles? Dürfte ich wohl erfahren, was du Katy über mich und meinen Freund erzählst?"
„Äh ..." Hilflos starrte Miles zu Flip, der unbeteiligt mit dem Hintergrund zu verschmelzen versuchte. Feigling! Das war seine Notlüge gewesen!
Felix war es, der ihm unbewusst aus der Patsche half.
„Was ist ein Orgasmus?", fragte er und erntete allgemein belustigte Blicke.
„Ich denke, da musst du nicht mehr lange warten, bis du das herausfindest", antwortete Cora flapsig und tätschelte dem Jungen den Kopf.
„Ja", stimmte Katy ihr zu. „Schließlich ist er mit Miles verwandt."
„Was?", rief Miles etwas empört, als er bemerkte, wie die beiden Mädchen einen Blick des Einverständnis wechselten. „Was denkt ihr von mir?"
„Dass du ein versauter Drecksack bist", antwortete Däx, der die ganze Diskussion mit einem amüsiertem Grinsen verfolgt hatte.
„Ja, und? Katy steht drauf."
Seine Freundin lächelte raubtierhaft. „Und wie! Besorgst du es mir nachher, Miles?"
Überrascht biss er sich auf die Zunge. „Uhm ... klar, auf jeden Fall!"
Mit siegessicherem Grinsen wandte er sich zu Däx um. Währenddessen beugte Felix sich zu Cora hinüber und wisperte:
„Was genau soll er ihr besorgen?"
„Oh, nichts Besonderes ... jedenfalls nicht in Miles' Fall."
Empört wirbelte er herum. „Ey, sag mal, kannst du vielleicht mal aufhören, mich permanent zu dissen?"
Normalerweise hätte er Gefallen an einem kleinen Battle mit Cora gefunden, aber wenn sie so weitermachte, versaute sie ihm noch sein erstes Mal. Außerdem hatten sie echt besseres zu tun!
Beleidigt verschränkte die Neuntklässlerin die Arme. „Hast du einen Moment unter vier Augen?"
„Hat er nicht." Überrascht richtete Miles seinen Blick auf Blacky, der sich gerade mühsam auf seine Hinterbeine setzte. Er sah noch etwas fertig aus, aber in seinen Augen zeigte sich, dass er nichts von seiner alten Kraft eingebüßt hatte. „Für eure albernen Teeniestreitereien ist hier jetzt kein Platz. Da draußen rennt ein namenloses Übel herum und es sucht nach dir, Miles! Ich hoffe für dich, dass du vertraut mit deiner neuen Begabung bist, ansonsten haben wir ein großes Problem." Der Blick des Fuchses hätte Granit spalten können.
Unwohl verlagerte Miles sein Gewicht von einem Bein auf das andere. „Nun ... du bist doch ein Vertrauter. Du weißt sicher, wie man große Probleme löst, oder?"
__________________________________
So, Blacky ist endlich wach. Und mit diesen kleinen Cliffhanger endet das vorerst längste Kapitel in diesem Buch. Nachschub gibt es am Dienstag. Habt einen guten Start ins Wochenende und frohe Ostern :)
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro