Kapitel 42 | Rückzug II
Nachdem die Tür hinter ihm zugefallen und seine Schritte die Treppe hinunter verklungen waren, sagte Cora: „Sind alle deine nichtmagischen Freunde so unmöglich?"
„Ob unmöglich oder nicht, er lässt mich wenigstens in Ruhe, wenn ich sage, dass ich nicht reden will."
„Also, darüber wollte ich mit dir sprechen." Unsicher steckte sie die Hände in die Vordertaschen ihres Kapuzenpullis und wippte leicht auf ihren Fußsohlen vor und zurück. „Tut mir leid, wenn ich und Flip dich eben etwas zu sehr bedrängt haben. Ich habe mir Sorgen um dich gemacht und wollte dir helfen. Dafür sind Freunde doch da!"
„Ach, ich dachte, es sei dir peinlich, mich als guten Freund zu sehen." Schwungvoll zog er die Beine auf die Couch und legte sich auf den Rücken, um sie nicht ansehen zu müssen.
„Jaa, und was ich gesagt habe tut mir auch furchtbar mega leid. Ich war im ersten Moment nur völlig vor den Kopf geschlagen, als ich erfahren hab, was du mit Felix gemacht hast. Ich verstehe auch noch immer nicht, wieso du auf diese Idee kamst. Du hast einfach Blödsinn gemacht und nicht über die Konsequenzen nachgedacht, habe ich recht?"
Miles hob die Beine auf die Couch und zog sie dicht an seinen Körper heran. „Nein, natürlich wollte ich Felix gleich umbringen, weil er mich ständig genervt hat und weil ich wusste, dass der Alkohol bei ihm jetzt schon seine Kräfte wecken würde. Ich wäre den Schatten ja auf jeden Fall entkommen, weil ich ja der Erbe des Lichtbringers bin."
Cora sah ihn schief an. „Das war doch jetzt hoffentlich dein üblicher Sarkasmus?"
„Ach, wie kommst du denn darauf?", fragte Miles übertrieben verwundert.
„Boah, Jungs!", schimpfte Cora und zog die Hände wieder aus den Taschen, um sie vor seinen Augen zu Fäusten zu ballen. „Was wollt ihr eigentlich damit beweisen? Miles, wir sind hier unter uns und ich versuche gerade, unsere Freundschaft zu retten, indem ich mich aufrichtig bei dir entschuldige und von dir kommt bloß Sarkasmus! Ich verstehe dich echt nicht, was ist los?"
Ich bin sauer auf dich!, dachte Miles sofort, sprach den Gedanken aber nicht aus.
Er holte Luft und setzte zu einer ausfallenden Antwort an, als ihm ganz unvermittelt seine Erinnerung einen Strich durch die Rechnung machte.
„Bitte sei nicht nachtragend. Ich vermisse unsere Blödeleien vor Kursbeginn bereits jetzt schon."
Das hatte er gesagt, als die Rollen vor Kurzem vertauscht gewesen waren. Jetzt fühlte es sich genauso an – der Streit zwischen ihnen tat weh. Sie hatte sich entschuldigt, er brauchte sich nur mit ihr zu versöhnen, so wie beim letzten Mal, doch irgendwas drängte ihn, genau das Gegenteil zu tun.
„Glaubst du, du musst ständig Mist bauen, damit du auf diese Weise indirekt von anderen für den Tod deines Onkels bestraft wirst?"
Ja, gestand sich Miles die Antwort auf die Frage ein. Wieso sonst drängte es ihn, eine Freundschaft wie die zu Cora zerbrechen zu lassen? Jetzt, da sie wusste, dass er der Erbe war, konnte er sich nicht mehr mit dem Gedanken rechtfertigen, sie schützen zu wollen. Er belog sich nur selbst.
Miles fasste einen Entschluss.
Ich habe uns beide lange genug verletzt, Reg!
„Es tut weh", sagte er leise und starrte auf seine Knie, um ihrem Blick auszuweichen. „Du hast recht, in dem Moment war es nur ein Spaß gewesen und ich habe nicht nachgedacht. Als die Schatten kamen, da habe ich wirklich geglaubt, sterben zu müssen. Ich hätte Felix und mich beinahe umgebracht! Und dann noch die Sache mit dem Lichtbringer ... Cora, ich kann diesem Hexenmeister nicht gegenübertreten."
Er spürte, wie heiße Tränen in seine Augen schossen. Verdammt, musste das jetzt sein? Er hatte bereits vor Frau Wasabi geflennt, warum jetzt auch noch vor Cora? Das war nicht fair! Sie würde seine Schwäche nur verspotten. Schließlich sollte er einen dunklen Hexenmeister bekämpfen. Sie wird ...
... sich zu mir setzen und mich behutsam in den Arm nehmen!?
„Schön zu sehen, dass du Gefühle hast, Miles", sagte sie und drückte ihn an sich. „Reue ist nie schön. Tut mir leid, dass ich dir einfach den Rücken kehren wollte. Das mache ich nie wieder, versprochen! Weil ..."
„Weil?", half Miles nach, als sie nicht weitersprach. Inzwischen schien ihm Cora fast so nah wie er selbst an den Tränen zu sein und die Wendung, die diese Situation genommen hatte, verwirrte ihn. Das musste daran liegen, dass Cora ein Mädchen war und aus denen war er noch nie schlau geworden.
„Weil es total unreif und bescheuert war!", vollendete Cora ihren Satz und löste sich aus der Umarmung. „Wieso hast du nicht einfach den Mund aufgemacht und etwas gesagt?"
Miles schielte betreten zur Seite. Er hasste diese Art von Gesprächen. Über Gefühle und so reden ... immer fing er dann an zu heulen wie ein Kleinkind.
„Wurde mir verboten", nuschelte er. „Ich sollte euch die Sache ausreden, weil dieser Hexenmeister nicht irgendeiner ist, sondern ein tausend Jahre altes Übel. Ich wollte nur, dass ihr die Sache fallen lasst, um euch nicht tiefer mit hineinzuziehen – um euch zu schützen!"
Darauf erwiderte Cora nichts. Schweigend saßen sie auf der Couch und wagten nicht, einander anzusehen. Also hob Miles den Kopf, um einen vorsichtigen Blick zu riskieren.
„Also ...", sagte Cora langsam. „Auch wenn das irgendwie ... süß ist – für meine Sicherheit lasse ich nicht zu, dass es unsere Freundschaft zerstört. Flip übrigens auch nicht. Er hat sich an die Fersen des Hexenmeisters geheftet."
Miles sprang auf. „Er hat was!?"
War der Empath jetzt vollkommen übergeschnappt? Er konnte doch nicht einfach auf eigene Faust losziehen und den Hexenmeister suchen! Besonders dann nicht, wenn seine Gabe ihm nur im Weg ist.
„Kein Grund zur Panik", sagte Cora und stand nun ebenfalls auf. „Er hat Felix dabei, ihm kann nichts passieren."
„Er hat Felix mitgenommen!?" Verschiedene ungewohnte Empfindungen stiegen in Miles empor. Zu allererst Ensetzen, dicht gefolgt von blanker Sorge. „Wie konntest du das zulassen!?", herrschte er sie an. „Du kannst doch nicht einfach meinen kleinen Bruder mit einem ungeschickten Empathen auf Hexenmeisterjagd schicken! Wir beide können uns vielleicht mit unseren magischen Fähigkeiten zur Wehr setzen, aber doch nicht Felix und Flip!"
Hingegen aller Erwartung lächelte sie. „Du meinst diese Kleine-Bruder-Sache also tatsächlich ernst?"
„Verdammt ernst sogar! Komm, wir müssen denen hinterher!"
Coras Grinsen wurde breiter. „Ich dachte, du wolltest niedergeschlagen hier rumsitzen und zocken?"
„Das war, bevor ich wusste, auf was für kranke Ideen ihr kommt! Ey, überlasst das Scheiße bauen jemanden, der damit Erfahrung hat, nämlich mir! Jetzt lass uns gehen!"
Er wollte gerade seine Hand nach der Tür ausstrecken, als selbige ihm bereits entgegenkam und den Blick auf Däx freigab.
„Wenn ihr Scheiße bauen wollt, dann hoffentlich nicht, ohne mich mitzunehmen!", sagte er. „Klingt nach 'ner Menge Spaß! Außerdem lasse ich niemanden hier raus, bis ihr mir nicht erklärt habt, über was für eine krasse Scheiße ihr da gerade geredet habt. Hexenmeisterjagd und magische Fähigkeiten, eh? Was habt ihr zwei bloß geraucht!?"
Miles und Cora wechselten einen Blick, der sich mit einem einzigen Wort übersetzen ließ: Shit!
„Was fällt dir ein, einfach zu lauschen!?", ging Miles in den Angriff über. „Wir wollten unter uns sein!"
Der Kubaner zuckte mit den Schultern. „Naja, mich hat interessiert, ob du es schaffen würdest, dass sich die Kleine da von dir durchvögeln lässt. Schienst ja auf 'nem guten Weg gewesen zu sein, nur mit dem sentimentalen Mist hast du's verbockt."
Entwaffnet von der erschreckenden Ehrlichkeit starrte Miles seinen Kumpel an. Wirklich ... bei solchen Freunden brauchte er keine Feinde mehr. Wer wollte auch schon wissen, dass sein bester Kumpel ihm bei seinem ersten Mal keine Privatssphäre lassen würde?
Cora war es, die zuerst eine Antwort parat hatte. „Durchvögeln lassen? Sehe ich vielleicht wie 'ne billige Schlampe für dich aus?"
Däx musterte sie mit einem abschätzenden Blick.
„Nein", sagte er schließlich. „Eher wie das naive Dummchen, das selbst auf jemanden wie Miles hereinfällt. Er hat's nicht so mit euch Weibern, deswegen ist er ja noch Jungfrau."
Miles ließ die Arme hängen. „... danke ... Däx."
„Hey, ich weiß selber, dass er ein schwanzgesteuertes Arsch ist!", fuhr Cora ihn biestig an. „Er lechzt geradezu ausgehungert allem hinterher, was irgendwie Brüste hat."
„Äh ...", sagte Miles.
„Weswegen du fein raus sein müsstet", konterte Däx grienend. „Vielleicht dachte er ja, zum Üben geht's."
„Quatsch, Däx, erzähl nicht so'n ..."
„Immerhin! Einen wie dich würde kein Mädel auch nur zum Üben auswählen!"
„Seh ich aus, als bräuchte ich Übung?"
„Jetzt hört endlich auf!" Miles hatte sich zwischen die beiden gestellt und die Hände ausgebreitet. „Streiten könnt ihr zwei ein andernmal. Sorry, Däx, aber Cora und ich haben noch was vor."
Sein Freund nickte, machte aber keine Anstalten, den Weg frei zu machen.
„Stimmt", sagte er, „die Hexenmeisterjagd. Also raus mit der Sprache, was ist das? Ich kann helfen."
„Däx, vertrau mir, du solltest dich aus dieser Sache raushalten. Ich darf nicht drüber reden. Außerdem könnte es gefährlich werden und ..."
„... und die Kleine nimmst du mit, eh? Nein, du scheinst in Schwierigkeiten zu stecken, also boxe ich dich da raus, fertig!"
Miles spürte, wie sich seine Mundwinkel zu einem Lächeln verzogen. Ja ... das war der Däx, mit dem er schon durch so manche Mistgrube des Lebens gewatet war, der Däx, auf den er sich verlassen konnte.
Verlegen sah er von einem zum anderen. „Jein ... Cora sollte auch nicht mitkom..."
„Keine Chance, Fünkchen, mich wirst du jetzt nicht mehr los!"
Miles seufzte. Seine Freunde waren absolut resistent dagegen, sich von ihm beschützen zu lassen.
„Okay, Däx, ich erzähl's dir unterwegs, aber erst brauche ich von Cora alle Details – und ihr beiden versprecht mir, euch nicht mehr zu streiten!"
Seine Freunde musterten sich feindselig.
„Fein", sagte die Neuntklässlerin schließlich und hob arrogant ihre Nase. „Ich bekomme das hin, aber dein Gorilla sieht nicht so aus, als ob seine Talente übers Leute zusammenschlagen hinausgehen könn..."
„Cora!"
„Ist ja schon gut! ... ich wollte nur das letzte Wort haben!"
*******
Die Gezeitenruferin brauchte nicht lange, um die Ereignisse der vergangenen Stunde zusammenzufassen. Schnellen Schrittes gingen sie zu dritt durch die ruhigen Straßen des Wohnviertels und mit jedem zurückgelegten Meter wuchs Miles' Unruhe. Felix war also begabt. Aber auch wenn seine Begabung durchaus nützlich war ... er glaubte nicht, dass der Junge sie nach einem Tag bereits gut genug kontrollieren konnte, um sich und Flip dauerhaft vor dem Hexenmeister zu verstecken. Dafür war der Kleine einfach zu unerfahren. Dass Cora erzählte, er hätte eine Straßenlaterne nur halb verschwinden lassen, bestätigte seine Befürchtungen nur.
Aber die beiden waren trotzdem losgegangen, weil sie ja unbedingt was unternehmen mussten. Miles verfluchte sich innerlich. Das alles wäre nicht passiert, hätte er sich Frau Wasabis Anweisung widersetzt und seinen Freunden von vornherein die Wahrheit gesagt. Welch Ironie ...
Es kam sogar noch besser.
„Und da du der Erbe des Lichtbringers bist", schloss Cora schließlich, „musst du mit uns am besten zum einflussreichsten Erzmagier der Hochschule gehen. Wenn du ihm deine Begabung zeigst, wird er uns bestimmt glauben und kann irgendwelche Maßnahmen gegen den Bann der hundert verlorenen Seelen in die Wege leiten." Sie lächelte hoffnungsvoll.
Miles seufzte. „Guter Gedanke ... das Problem ist nur, dass Frau Wasabi längst Bescheid weiß. Ihr glaubt die Story über den Hexenmeister auch niemand, weswegen ich diese Woche meine Kräfte vorweisen sollte ... das zweite Problem ist, dass ich die Lichtbringergabe noch kein weiteres Mal wieder benutzen konnte. Meister He sagte, sie wäre nach dem Vorfall anscheinend wieder eingeschlafen." Missmutig ließ er die Schultern hängen. „Ich bin kein Gegner für den Hexenmeister."
Er sah, wie sich das Lächeln in Coras Gesicht bei seinen Worten verflüchtigte. Klar, seine Freundin hatte sich bestimmt etwas anderes erhofft. Das zeigte ihr betretenes Schweigen nur allzu deutlich. Däx gab ebenfalls keinen Mucks von sich. Vermutlich hielt er sie beide für verrückt, jedenfalls war das der naheliegendste Schluss, wenn man seiner verschrobenen Mimik trauen durfte.
„Ihr seid also Magier?", fragte er, als niemand das Gespräch fortzuführen gedachte.
Miles und Cora nickten.
„Und jeder von euch hat eine dieser ... Begabungen? So wie dieser Junge, der sich unsichtbar machen kann?"
Erneutes Nicken.
„Wisst ihr, wie bescheuert das alles klingt?"
Miles lächelte schwach. „Klar ... ich wollte es zuerst selbst nicht glauben. Ich zeig's dir am besten einfach." Argwöhnisch sah er sich um, ob irgendwelche Schatten oder andere Nichtmagier in der Nähe waren, bevor er stehen blieb und Däx seine offene Hand hinhielt. Miles verbrannte Magie.
„Und?", fragte der Kubaner, als der erhoffte Effekt ausblieb.
Miles stutzte und versuchte es noch einmal ... ohne Erfolg.
„Die Magie muss ziemlich dünn hier sein", murmelte er. „Meine Begabung verbraucht auch viel zu viel davon, weil ich keinen Brennstoff habe. Cora kannst du vielleicht ...?"
Das Mädchen hob den Kopf.
„Hab ich bereits versucht", sagte sie mit schwerer Stimme. „Die Magie ist hier nicht bloß dünn, Miles ... sie ist nicht vorhanden."
Entsetzt starrten sie einander an.
Däx brummelte nur unzufrieden. „Wisst ihr, dass ich mir extrem verarscht vorkomme?", knirschte er, doch keiner der beiden beachtete seinen Einwurf.
„Der Bann ...", erkannte Miles. „Wir sind zu spät, nun gibt es hier keine Magie mehr ..." Erschrocken zuckte er zusammen, als er bemerkte, was dies bedeutete.
„Flip und Felix sind in Gefahr!"
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