Kapitel 37 | Schuld und Schmerz II
„Sie werden mir meine Kräfte nehmen, habe ich recht?", fragte er tonlos, weil er die Stille um sich herum und den Lärm seiner eigenen Gedanken nicht mehr ertragen konnte.
Als Antwort gab sie nur ein tiefes Seufzen von sich – nicht unähnlich dem, welches er auch von seiner Mutter kannte.
„Du gibst einem Magiergericht jeden Grund dazu." Abermals flammten die Schattenrisse in seinem Fleisch auf. Das war jedoch nichts gegen das eklige Gefühl, welches wie eine giftige Kobra durch seine Eingeweide kroch und ihm den Geschmack von Galle auf die Zunge beförderte.
„Allerdings ...", sagte Frau Wasabi und zog dabei zischend die Luft ein, „... gibt es da noch eine Sache ... das Thema, über das ich eigentlich vorhin beim Essen mit dir reden wollte."
Er riskierte einen flüchtigen Blick und sah zu der Lehrerin, die ihn mit einem steingleichen Ausdruck der Ernsthaftigkeit bedachte. Miles war sich sicher, würde sie ihn lange genug so ansehen, würde sich die Spucke in seinem Mund in Zitronensäure verwandeln. Also starrte er auf die Bettdecke, als sei sie das Interessanteste auf der Welt.
„Weißt du, dass es ein Wunder ist, dass du und Felix noch am Leben seid?"
Die Worte fielen schwer, als sei es der Klang ihres Aufschlags und nicht der ihrer Schwingung, den Miles wahrnahm.
„Sie meinen, weil ich eine Begegnung mit den Schatten überlebt habe?"
Erstmals traute er sich, sie wieder anzusehen und erkannte die Bestätigung in ihrem Gesicht.
„Laut Felix' Aussage kam ich fast zehn Minuten zu spät. Du warst bewusstlos und der Junge hockte zutiefst verstört an deiner Seite. Alles was er sagen konnte, waren zusammenhangslose Sätze, aber wenn ich ihn richtig verstanden habe, hast du drei Schatten auf einmal vernichtet."
Miles ließ die Schultern sinken und fühlte ihren kritischen Blick auf sich ruhen. Da war etwas Tiefgründiges in ihrem Ausdruck, etwas Fragendes, welches ihn unruhig werden ließ.
„Frau Wasabi ..."
„Yolanda", unterbrach sie ihn.
„Äh ..."
„Ich denke, nach den letzten Ereignissen ist es nicht mehr angebracht, dass wir in dieser Lehrer-Schüler-Rolle verbleiben und du mich siezt – zumindest solange wir unter uns sind."
Miles nickte stumm, während die Hüterin ein Bein auf ihrem Knie ablegte und ihren Zopf über die rechte Schulter schob. Auch Miles rappelte sich auf und kroch mit angezogenen Beinen an das Kopfende des Bettes.
„Also ... Yolanda ... Habe ich wirklich ... drei Schatten vernichtet?"
Erneutes Nicken.
„Miles, das sollte unmöglich sein – jedenfalls für einen Jungmagier wie dich! Du kannst diese Kreaturen zwar mit Feuer zurückhalten – du kannst sie mit jeder Art von Magie zurückhalten, denn sie fürchten sie – aber wenn du sie verbrennst, lösen sie sich nur kurzzeitig auf."
„Moment", warf Miles ein und zog die Stirn kraus. „Sie fürchten Magie? Es sind magische Wesen und sie fürchten Magie?"
Ein schmerzliches Lächeln umspielte ihre Lippen. „Eine grausame Ironie, in der Tat – und gänzlich unlogisch, denn diese Wesen können durch sie nicht verletzt werden."
„Aber was haben Sie ... was hast du vor den Sommerferien mit diesem Biest gemacht? Es hat uns doch erkannt; wenn es also nicht vernichtet wurde ...?"
Die Frage blieb unausgesprochen, aber Yolanda Wasabi verstand, was er meinte.
„Diesen Schatten habe ich zersetzt, das ist ein Unterschied. Aber die Zersetzung eines Schattens ist eine überaus gefährliche Technik und nicht mal eben so zu bewerkstelligen. Du weißt, wie es sich anfühlt, Magie zu verbrennen. Nun, bei der Zersetzung verbrennst du den Schatten. Technisch gesehen richtest du Magie von außerhalb deines Körpers, gegen sich selbst, etwas, was dich selbst vermutlich umbringen wird, wenn du es unbedacht mit Magie innerhalb deines Körper tust. Kannst du folgen?"
Miles schüttelte den Kopf.
„Egal, das wirst du später noch lernen. Wichtig ist jetzt: wie hast du es angestellt und wie hat es sich angefühlt?"
Er wusste, dass sie nun bei der Kernfrage dieses Gesprächs angelangt waren und das behagte ihm ganz und gar nicht. Besonders, da diese spezielle Kernfrage die gleichen Eigenschaften wie die Fragen in einer mündlichen Prüfung aufwies: Miles konnte sie nicht beantworten.
„Es ... kam ganz plötzlich", versuchte er sich zu erinnern. „Ich habe es in mir gespürt, so wie ich das Feuer in mir spüren kann. Doch fühlte sich diese Kraft ganz anders an, nicht launisch und ungezähmt, wie ich es gewohnt bin. Zwar ebenso warm, aber ... sanft ... und mächtig. Ich habe einfach Magie verbrannt."
Yolanda hörte aufmerksam zu und maß ihn weiterhin mit aufmerksamen Blicken.
„Damit fällt die Zersetzung raus, denn wenn du das Verbrennen von Magie fühltest, kann es diese Technik nicht gewesen sein. Felix erzählte, du hättest sie in Licht aufgelöst. Er sagte, so etwas Schönes hätte er noch nie gesehen." Sie machte eine bedeutsame Pause, als versuche sie jede seiner Reaktionen einzufangen, um nachzuvollziehen, was er wohl gerade denken mochte – ein Verhalten, welches Miles' Unsicherheit nur weiter verstärkte. Sie schien dies zu bemerken, denn sie öffnete den Mund und sagte: „Es gibt nur eine einzige Begabung, die in der Lage ist, Schatten zu vernichten."
„Lichtbringers Gabe", sprach Miles seine Erkenntnis aus und erntete einen erstaunten Blick von der Hüterin.
„Ja", erwiderte sie. „Woher weißt du davon?"
„Cora hat mir von ihm erzählt", antwortete er knapp, während er versuchte, seine eigenen Gedanken in Ordnung zu bringen. Lichtbringers Gabe ...
„Miles", sagte Yolanda eindringlich. „Es gab bisher nur zwei bekannte Magier, die diese Gabe entwickelten: Ein Magier namens Ra, der sich viertausend Jahre zuvor im alten Ägypten kurzerhand als Sonnengott verehren ließ und den Lichtbringer, der vor tausend Jahren im heiligen römischen Reich geboren wurde. Du besitzt zudem noch die Gabe des Funkenschmieds. Du hast also nicht nur eine seltene Doppelbegabung, nein, eine davon muss auch noch zu einer der Einzigartigen gehören. Miles, du bist damit zu einer magischen Sensation geworden! Nur eine Doppelung zweier einzigartiger Talente oder eine bisher unentdeckte Dreierbegabung können dich jetzt noch toppen!"
Sie sagte es, als wäre das etwas, womit er angeben könnte. Miles hingegen wünschte sich nur noch, er wäre von diesem besonderen Zufall verschont geblieben, denn der Schluss, den er nun zog, behagte ihm ganz und gar nicht.
„Hattest du mir nicht versichert, ich sei ganz normal und kein besonderer Junge, der einen gefährlichen Supermagier vernichten muss? Damit bin ich der Erbe des Lichtbringers, oder? Ich muss diesen Hexenmeister bekämpfen, den er vor tausend Jahren nicht zerlegt hat!"
„Nicht zerlegt hat?" Frau Wasabi runzelte die Stirn. „Miles, gibt es da noch etwas, was ich wissen muss?"
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„Du meinst der Hexenmeister, der der Überlieferung nach vom Lichtbringer vernichtet worden ist, lebt noch immer und macht nun Jagd auf seinen Erben?", fasste Frau Wasabi zusammen, als er mit seiner Geschichte geendet und sie die Worte verdaut hatte. Die Sonne war inzwischen weitergewandert und schien nicht länger durchs Fenster hinein.
„Ja ... auf mich", sagte Miles mit trockener Stimme, als er sich dessen bewusst wurde. Er war das Hauptziel des Hexenmeisters. Ein Umstand, der ihm absolut nicht gefiel. Yolanda schien zu bemerken, was in ihm vorging.
„Du weißt, dass du dich in ernster Gefahr befindest?"
Er nickte nur. Seine Angst, die sich zusammen mit Übelkeit in seinem Magen ausbreitete, verschreckte jedwedes Wort, welches er über seine Zunge schicken wollte.
„Hör zu, Miles", sagte Frau Wasabi eindringlich. „Du darfst niemandem etwas davon erzählen, hörst du? Auch nicht deiner Freundin Cora, mit der du nach Lichtbringers Erben suchen wolltest. Rede ihr diese Sache um jeden Preis aus!"
„Kann ich es ihr nicht sagen? Schließlich steckt sie da ..."
„... genauso tief drin wie du? Nein, Miles. Wenn das, was du mir erzählt hast, der Wahrheit entspricht, dann schwebst du – was rede ich da? – nein, jeder von uns in großer Gefahr! Wenn Cora deine Freundin ist, dann halte sie da so weit wie möglich raus. Du hast keine Ahnung, wie gefährlich dieser Hexenmeister ist."
„Aber ..."
„Kein Aber!", unterbrach sie ihn streng. „Miles, wenn das wirklich das Böse aus den Legenden ist, dann hat die Welt nun ernsthaftere Probleme als die, die sie derzeit kennt, oder sich vorstellen mag. Was nun folgt, darf ich dir eigentlich gar nicht sagen, aber du steckst viel zu tief mit drin, als dass ich dir das vorenthalten dürfte." Sie holte tief Luft. „In den letzten Wochen sind viele begabte Magier spurlos verschwunden. Ebenso Vertraute wie zum Beispiel Blacky. Und ich denke, dass der Hexenmeister dafür verantwortlich ist. Miles, es werden sogar schon ausgebildete Hüter als vermisst gemeldet, Hüter, die noch viel stärker sind als ich oder sogar einige der Erzmagier! Und wenn er es auf dich abgesehen hat, wie du sagtest, dann wird dich niemand schützen können! Das heißt, es bleibt nur, deine Gabe zu verschweigen, damit er nie auf dich aufmerksam wird. Du darfst also nicht darüber sprechen, hast du das verstanden?"
Miles nickte stumm und versuchte die aufflammenden Schmerzen seiner Schattenrisse zu ignorieren. Zu mehr war er kaum in der Lage.
„Ich muss ihn bekämpfen, habe ich recht?"
Diesmal war es Yolanda die nickte.
„Das heißt ... mir werden meine Kräfte nicht genommen?"
Die Hüterin schüttelte den Kopf. „Das wäre Irrsinn."
Miles lächelte nicht. Gut, er durfte seine Kräfte behalten ... um einem Schwarzmagier gegenüber zu treten, den die Geschichte als das ultimative Böse beschrieb. Kein Grund zur Freude in seinen Augen
„Aber wie kann der Typ das überhaupt wissen?", fragte er verzweifelt. „Er wusste, dass es einen Erben des Lichtbringers gibt. Ich habe diese Begabung doch jetzt erst entdeckt. Wieso weiß er schon davon?"
Yolanda legte nachdenklich den Kopf schief und schlug die Beine übereinander, so dass sie nun im Schneidersitz vor ihm auf der Matratze saß.
„Es gibt unzählige Untersuchungen zu der Auseinandersetzung, die damals zwischen dem Lichtbringer und dem Hexenmeister stattgefunden hat – eine verrückter als die andere. Manche sprechen in diesem Zusammenhang wahrlich von dem finalen Kampf zwischen Gut und Böse. Die meisten stellen dies allerdings infrage, denn mit dem Sieg des Lichtbringers müsste ja alles Böse aus dieser Welt getilgt worden sein." Sie seufzte nachdenklich. „Miles, es gibt Kräfte in dieser Welt, die jenseits unseres Verständnisses liegen, jenseits aller wissenschaftlichen Untersuchungen. Die Magie geht seltsame Wege. Diese sind nicht zufällig, oder nach Naturgesetzen geordnet, nein, die Miraculogen sind inzwischen davon überzeugt, dass sie intelligent sind, dass Magie intelligent ist! Diese böse Kraft aus alter Zeit ist plötzlich wieder hier ... wieso erscheint gerade in diesem Moment eine genau entgegengesetzte Kraft – deine Kraft?"
Miles verzog das Gesicht. „Aus Kitsch?", fragte er. „Ironie? Gemeinheit?"
Frau Wasabi lächelte nicht. „Gleichgewicht ist die richtige Antwort. Der Hexenmeister weiß darum, deswegen versucht er sein Gegenstück zu finden und herauszufordern. Du wirst dich diesem Kampf wohl oder übel stellen müssen. Allerdings nicht, bevor du mit deiner neuen Gabe umzugehen weißt. Die Unterweisung in einzigartigen Gaben ist immer eine spezielle Herausforderung, weil es niemanden gibt, der diese Gabe gemeistert hat und sie somit unterrichten könnte."
„Na toll!"
„Was nicht heißt, dass es unmöglich ist", sagte sie schnell. „Wir können dir helfen, aber die meiste Arbeit musst du selber leisten. Nur du kannst herausfinden, wie du deine Gabe einsetzen kannst. Und je länger du dafür brauchst, desto länger kann dieser Hexenmeister tun und lassen, was er will."
Miles antwortete nicht. Was sollte er auch darauf erwidern? Er hatte ja noch nicht einmal Niclas besiegen können, wie also sollte er es mit einem dunklen Hexenmeister aufnehmen? Das war doch idiotisch! Teenager hatten nur in Filmen und Geschichten eine reelle Chance gegen das ultimative Böse. Im echten Leben sah die Sache ganz anders aus.
Miles schluckte. Ihn beschlich die Gewissheit, dass er sterben würde – und zwar schon sehr bald.
„Hey", sagte Yolanda und nahm seine Hände in die ihren. „Ich weiß, das ist viel zu viel Verantwortung für deine jungen Schultern, aber du bist nicht allein. Ich unterstütze dich bei deiner Aufgabe. Und es gibt noch viele Weitere, auf die du dich verlassen kannst. Ich werde so bald wie möglich mit deinem Meister über die Angelegenheit sprechen. Wenn dich einer vorbereiten kann, dann er!"
Sie lächelte aufmunternd, aber für ihn klangen ihre Worte nur wie die eines Arztes, der nach Verkündigung der Todesnachricht darauf hinwies, er müsse sich jetzt immerhin keine Gedanken mehr um seine Ernährung und sein Einkommen machen.
Ohne Vorwarnung lehnte er sich über den Rand des Bettes und erbrach sich auf Frau Wasabis Fußboden.
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Tja, damit hab ich ein wunderschönes Klischee geschaffen :') der Auserwählte darf jetzt stark genug für den epischen Bosskampf werden :P
Hoffe, ihr verzeiht mir das ;)
Welcher ist eigentlich bislang euer Lieblingscharakter in der Geschichte?
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